Profilbild von ein_lesewesen

ein_lesewesen

Lesejury Profi
offline

ein_lesewesen ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit ein_lesewesen über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.09.2023

Eine Jugend in Afrika

Andy Africa
0

Andrew Aziza, den alle Andy Africa nennen, lebt mit seiner Mutter im Norden Nigerias. Er liebt sie, aber innerlich schämt er sich für sie, weil sie ungebildet und arm ist. Über seinen Vater schweigt sich ...

Andrew Aziza, den alle Andy Africa nennen, lebt mit seiner Mutter im Norden Nigerias. Er liebt sie, aber innerlich schämt er sich für sie, weil sie ungebildet und arm ist. Über seinen Vater schweigt sich die Mutter aus. Nachts träumt er von blonden Mädchen, auch wenn er die nur aus dem Fernsehen und von den Raubkopien westlicher Filme kennt. Doch dann begegnet ihm Eileen, die Nichte des örtlichen Pfarrers, die platinblonde Frau seiner Träume. Während er sich beim örtlichen Kirchenfest in sie verliebt, rast ein auf Rache sinnender muslimischer Mob auf die Kirche zu und verändert sein Leben dramatisch.
Dank eines kirchlichen Stipendiums kann Andy eine Privatschule besuchen – doch seine Mutter kann sich kein Fleisch leisten. Andy schreibt Gedichte, die hier immer wieder einfließen, – doch seine Stadt mit über 100.000 Einwohnern hat nicht mal eine Bibliothek. In seiner Heimatstadt Kontagora fliegen Müll und Plastiktüten durch die Straßen – die Hauptstadt dagegen sieht aus wie geleckt. Das ganze Buch strotzt von Gegensätzen, dass mir beim Lesen schnell klar wurde, in welcher inneren Spirale Andy feststecken muss.

Ein eindrücklicher Coming of Age Roman über die Zerrissenheit der Jugend in Buoros Heimatland, der mich schwer beeindruckt hat. Er zeigt, wie junge Afrikaner sich fühlen müssen, die einerseits nach alten Traditionen erzogen werden, aber von westlichen Medien und Vorstellungen überschüttet werden, die die Folgen der Kolonialisierung tragen, denen Religionen aufgezwungen wurden, die aber auf der Suche nach ihren Wurzeln, ihrer Identität sind. Und wie sich das anfühlt, wenn man zwischen den Stühlen sitzt, politisch instabile Machtverhältnisse Landstriche in die Armut stürzen, das Leben perspektivlos ist, all das zeigt Buoro sehr eindringlich, sehr facettenreich. Was also ist das Schicksal Afrikas? Die Flucht oder ein Ausharren »wie in einem langen Gebet«?

Dieses Buch ist in einem wahnsinnigen Tempo geschrieben, denn die Ereignisse überschlagen sich ab einem gewissen Punkt und bestärken Andy darin, dieses Land, »diesen ganzen beschissenen Kontinent« zu verlassen. Die Liebesgeschichte mit Eileen steht also nicht im Fokus, sondern erscheint Andy als einzige Lösung der Misere. Könnte er durch sie seinen Hass auf seine Hautfarbe überwinden?
Andy ist ein lustiger, intelligenter Kerl, der als Erzähler seine Leserschaft mit viel Charme, Bissigkeit und Selbstironie einfängt. Doch so lustig einige Teenager-Episoden daherkommen, so traurig und dramatisch sind andere Ereignisse, die in den wenigen Wochen nicht nur sein Leben für immer verändern.
Es fällt mir echt schwer, dem Buch annähernd gerecht zu werden, da es so überaus komplex ist, dass sich viele Themen erst nach und nach erschließen. Da hilft wirklich nur, es selbst zu lesen.

Einen Kritikpunkt habe ich, der aber nicht in meine Bewertung einfließt. Wenn ich etwas nicht verstehe, dann mache ich mich parallel zum Lesen gern schlau und hier habe ich sehr viel gegoogelt. Allerdings haben mich die ganzen Ausführungen zu Permutation, Animismus und Anifuturismus komplett überfordert. Aber wie gesagt, das ist mein Ding und hat dem Verständnis der Geschichte keinen Abbruch getan.

Über das Ende habe ich lange nachdenken müssen, denn ich hätte mir gern ein besseres, schöneres gewünscht. Aber nun glaube ich, dass es tatsächlich nur dieses eine Ende geben konnte. Im Original heißt das Buch »The Five Sorrowful Mysteries of Andy Africa«, was sich auf den Kreuzweg von Jesus bezieht, und sich in den Kapitelüberschriften widerfindet, und somit das Ende erklärt. Buoro hat hier ein richtig gutes, opulentes literarisches Debüt abgeliefert, das mich nachhaltig beeindruckt hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 21.09.2023

Melancholisch, humorvoll, skurril

Die Asche des Tages
0

Wer kennt das nicht, wenn eine unangenehme Aufgabe vor einem liegt, schiebt man sie gern vor sich her.
Es ist Samstagmorgen und N.s Frau ist gerade nach langer Krankheit gestorben, doch N. hat etliche ...

Wer kennt das nicht, wenn eine unangenehme Aufgabe vor einem liegt, schiebt man sie gern vor sich her.
Es ist Samstagmorgen und N.s Frau ist gerade nach langer Krankheit gestorben, doch N. hat etliche Fehlstunden und geht zunächst ins Büro, obwohl er sich um eine Grabstätte, einen Sarg und die Trauerfeier kümmern müsste.
Schon am missbilligenden Ton seiner Schwägerin, die ihn per Telefon antreibt, spürt man, dass N. es ihr wahrscheinlich nicht recht machen kann – egal, was er tut. Und so folgen wir Leser*innen ihm nicht nur seinen abwägenden Gedanken, sondern in die nächste Kneipe, wo ihm sein Bekannter Simón helfen soll, einen günstigen Sarg aufzutreiben. Doch allein die Kosten des Whiskeys sind N. zu hoch und er überlegt, wo er ihn günstiger bekommt. Er könnte ja noch schnell einen mit Tomás trinken, und dabei fällt ihm ein, dass der Leichnam seiner Frau auch noch aufgebahrt werden muss. Ob das nicht die Kleinen Schwestern der Armen für lau machen könnten?

»Und dann fielen ihm die Kirche und der Priester ein. Es gab so viel zu tun. Es war ein einziger Spießrutenlauf, und jede ausgestreckte Hand musste mit Geld geschmiert werden.« S.11

Doch Geld hat er bald keins mehr, denn ihm wird die Brieftasche gestohlen und die letzten Pence verliert er auf der Rennbahn. Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf, denn mit jeder Stunde, die vergeht, wird es schwieriger, nach Hause zurückzukehren – wenn nicht sogar unmöglich.

Jetzt stellt sich die Frage: Was macht es für Lesende interessant, einem Menschen beim Prokrastinieren zuzusehen? Denn Handlung wird man in dieser Geschichte fast vergeblich suchen. Und ich habe mich ehrlich gesagt auch etwas schwergetan, brauchte mehrere Anläufe, um das Buch zu beenden. Aber Ó Cadhain hat es immer wieder geschafft, mich zurückzuziehen.

Und hier lag wohl auch die Kunst – es ist eine so anschauliche, zuweilen traurige Charakterstudie auf hohem Niveau. Ganz im melancholisch humorvollen Tenor, der der irischen Literatur eigen ist, vermittelt der Autor einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt eines einfachen Mannes, den nichts anderes plagt, als auch uns in manchen Stunden. Ist es nicht allzu menschlich, sich nicht mit dem Thema Tod und Trauer beschäftigen zu wollen?
Ich schwankte oft zwischen dem Wunsch, ihn zu schütteln und zu sagen: »Jetzt mach doch endlich mal« und tiefem Verständnis für seine Situation, die durch seine Mitmenschen angefacht und befeuert wird. Auch mir waren seine Ausreden, seine Gedanken nicht fremd, die ihn immer wieder die Dinge verzögern ließen. Nun ja, da wäre ja noch das Thema mit dem »freien Willen«.

Ich denke, dass es kein Werk für jedermann ist, man sollte schon bereit sein, wirren, abstrusen Gedankengängen zu folgen. Aber dafür wird mit auch mit der Auflösung belohnt, ob N. seine Frau unter die Erde bekommt oder nicht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.09.2023

Am Ende waren es doch nur 2 Quadratmeter

Eigentum
0

„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum ...

„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen. Wir waren die, denen es schlecht ging! Ich hatte mich daran gewöhnt, ich hatte mir die ewig gleiche Platte seit dem Tag meiner Geburt angehört. Schon in der Fruchtblase hatte ich mich eingeschwungen: Schlecht geht es uns. Jetzt ging es ihr auf einmal gut.“ S.7

Bei dem neusten Buch des österreichischen Autors ist die Covergestaltung spartanisch – ein verrutschter Exlibrisstempel auf Packpapier – und einen Klappentext sucht man vergeblich, dafür steht auf der Innenseite: »Nichts wie sparen, sparen, sparen.« Und darum geht es auch hauptsächlich. Die 95-jährige Mutter des Ich-Erzählers hat noch drei Tage zu leben und »ist nicht mehr ganz da«. Aus der ehemaligen Geburtenklinik, wo Wolf und seine Brüder zur Welt kamen, wurde ein Altersheim. Ein Kreis scheint sich zu schließen und Haas nimmt die letzten Tage zum Anlass, über das Leben seiner Mutter zu resümieren. »Kann man übers Leben schreiben?«, fragt er sich zu Beginn.

1923 im Jahr der Hyperinflation geboren, ist sie ihr ganzes Leben bestrebt, Eigentum, also Wohneigentum zu erwerben. Doch ihr Traum verflüchtig sich mit dem sinkenden Wert des Geldes, was sie dem kleinen Wolf, kaum, dass er den Kopf heben konnte, fast mantraartig bei jeder Gelegenheit vorbetet.

»Die drei Phasen des Bausparvertrages hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstherorie.« S.37

Daraus wird über die Jahre eine Litanei, die Wolf bald im Schlaf daher beten konnte. Nun will er diese Gedanken ein für alle Mal loswerden und schreibt die Geschichte nieder. Dabei lässt er seine Mutter im heimatlichen Dialekt zu Wort kommen, samt nit und gell. Als Kind einer armen Familie wurde sie weggeben, da man nicht alle Kinder ernähren konnte, später als Kellnerin in der Schweiz, schickt sie fast alles Geld nach Hause – für den Hausbau der Eltern. Ihr Lebensmotto – schuften, schuften, schuften. Doch es soll ihr ein Leben lang nicht gelingen, lediglich 2 Quadratmeter – mit Absenklift – wird sie ihr eigen nennen, die letzte Ruhestätte auf dem Friedhof.

„Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten“ S.117

Das Leben der Mutter war ein unspektakuläres, gezeichnet von Entbehrungen, wie wohl das, vieler anderer Frauen ihrer Generation. Mit viel grimmigen Witz und typischer Haas-Sprachironie peppt es der Autor immer wieder auf. Mal genervt, mal lakonisch aber letztendlich doch liebevoll schaut er auf das ambivalente Verhältnis zwischen ihnen zurück und setzt somit seiner Mutter, die 2018 starb, ein Denkmal.
Tropft auch aus einigen Gedanken des Ich-Erzählers der pure Sarkasmus (»Sie besaß nichts, aber sie war ein bisschen besessen«), so ist das wohl dem Umgang mit dem dauernden Lamento der Mutter geschuldet, sieht er sich doch als »Festplatte« ihrer Erinnerungen. Und so scheint das, was er ein für alle Mal vergessen wollte, nun doch zu überdauern.
Es ist ein kurzes, schnelles Buch, das trotz des sensiblen Themas nicht bedrückend wirkt oder das Leben der Mutter herabwürdigt. Seine unverkennbare Erzähl- und Ausdrucksweise, die ich in seinen Brenner-Krimis so mochte, ist auch hier eindeutig erkennbar, was das Buch für mich zu einem Genuss machte, auch wenn es von einigen Wiederholungen durchzogen war.
Kann er nun vom Leben schreiben – ja, er kann.

Haas ist ein Jongleur der Alltagssprache par excellence, ein bisschen sprachwahnsinnig nennt man ihn auch und ihn freut’s, wenn er nicht immer Subjekt und Prädikat schreiben muss, wie er sagt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.08.2023

Gibt es ihn, den Sinn des Lebens?

Und hinter mir das Nichts
0

»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120

Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ...

»Normalerweise lüge ich die Menschen um mich herum an, weil sich mein Leben nach Nichts anfühlt und sich das Nichts nicht erzählen lässt.« S.120

Sara Becker ist Psychotherapeutin und ihr Leben entgleitet ihr in dem Moment, als sie vom Suizid ihres Patienten Herrn Mangold erfährt. Sie trifft keine Schuld, doch was für alle anderen nur bedauerlich zu sein scheint, stürzt sie in eine tiefe Sinnkrise. Ausgerechnet Mangold, der ein langweiliger Mensch war, der »seine Unscheinbarkeit bis zur Perfektion exponiert hatte«. Ist auch ihr Leben belanglos? Nur eine Aneinanderreihung von unwichtigen Ereignissen?
Sara gelingt es nicht, loszulassen, alles in ihrem Leben scheint ungewollt, sinnlos. Genauso wie der Umzug zu ihrem Freund. Ist es überhaupt ihr Leben?

»… und wieder fiel mir auf, wie unbarmherzig die Zeit einen durchs Leben scheuchte. Ich konnte sie hören, die Zeit, ihre Stimme drang in meine Ohren. Los jetzt, ein Kind, zwei Kinder, drei. Heiraten, erwachsen werden, du bist schon über dreißig, viel Zeit bleibt dir nicht mehr, schien sie zu rufen.« S.184

Alles um Sara herum wird enger, ihr wird klar, dass sie nicht mehr einfach so weitermachen kann. Gedanklich gleitet sie immer wieder zurück in die Vergangenheit – in ihr Elternhaus, wo es immer so still war, wo man den Schein wahrte, zurück zu Yannick, ihrem ersten Freund. Es wirkt fast so, als suche sie nach dem Punkt in ihrem Leben, an dem sie falsch abgebogen sei.
Realität und Fiktion verschwimmen zunehmend, als sie Nikto begegnet, die offenbar alles von ihr weiß.

Ich habe beim Lesen lange nach einer Handlung, einem roten Faden gesucht, bis ich verstanden habe, dass ich Saras Gedankenkarussell folgen soll. Nachfühlen, nachspüren. Dieser Moment, der plötzlich alles infrage stellt, der den Boden unter den Füßen wegzieht. Wie kann es sein, dass der Tod eines Menschen in allen nur ein kurzzeitiges Mitgefühl auslöst, die Welt sich aber weiterdreht und das eigene Leben aus der Verankerung reißt?

»Da ist dieser Drang bei den Menschen, alles zu verstehen, alles klassifizieren zu wollen – aber das lähmt nur, das schläfert das Gehirn ein.« S.196

Es ist, als suche Sara nach Halt, findet keinen und gleitet immer tiefer in einen Strudel aus Zweifeln und Angst. Es ist ein Buch, auf das man sich einlassen muss, Saras Gedankenwelt, die letztlich aus mehr Fragen als Antworten besteht, das keiner Logik folgt und bis ins Surreale driftet, Gedanken, die repetitiv an Mauern stoßen.
Berthe Obermanns gelingt es, eine tiefe innere Auseinandersetzung mit dem Sinn des Daseins spürbar in ganz eigene Worte zu fassen. Sie zeigt, dass dies auch mit einem inneren Diskurs über den eigenen Tod einhergeht – oft ein Tabu-Thema, über das wir nicht gern nachdenken.
Es ist kein Buch, das man eben mal so wegliest, denn immer wieder fand ich Parallelen zu meinem eigenen Leben, zu Fragen, die auch ich mir an manchen Wendepunkten meines Lebens gestellt habe. Fragen, die nicht immer Antworten haben. Aber manchmal nur eine Lösung zulassen.
Sprachlich habe ich die Autorin wiedergefunden, klar, präzise, auf einem hohen Niveau. Ihre Fragestellungen und Essenzen haben mich oft innehalten und reflektieren lassen. Zudem arbeitet sie mit vielen Symbolen und Elementen, die wie ein Anker wirken und letztlich für mich zu etwas wie dem anfangs vermissten rote Faden wurden.
Sie schafft eine zunehmend beklemmende, düstere Atmosphäre, die einen mitzureißen droht und in einem dramatischen Ende gipfelt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.08.2023

Schönheit und Einsamkeit

Erzähl's nicht deinem Bruder
0

Itamar Diskin, der in den USA lebt, und sein Bruder Boas treffen sich seit Jahren in Israel zur sogenannten Brüdernacht, in der sie sich betrinken und über ihre Familie und Itas Frauengeschichten reden. ...

Itamar Diskin, der in den USA lebt, und sein Bruder Boas treffen sich seit Jahren in Israel zur sogenannten Brüdernacht, in der sie sich betrinken und über ihre Familie und Itas Frauengeschichten reden. Beide sind inzwischen über sechzig, vertragen auch den selbstgebrannten Feigenschnaps nicht mehr so gut. Ita, der ältere der beiden, ist nicht nur sehr schön, sondern auch sehr kurzsichtig.
Wir Leser*innen begleiten Ita, den Ich-Erzähler, eine Nacht lang, in der er Boas von einer Nacht erzählt, die 20 Jahre zurückliegt. Allein seiner auffallenden Schönheit ist es zu verdanken, dass er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Frau verstrickt, die ihn von der Bar weg in sein Bett schleppt. Und diese Frau, die sich Sharon nennt, nimmt ihm seine Brille weg – in einem ihm fremden Haus, irgendwo inmitten eines Gewirrs aus Feldwegen, zwischen Zitrushainen, Gemüsebeeten und Avocadoplantagen.

Es war mein erstes Buch von Shalev und ich war sehr gespannt, denn seine Erzählkunst wird überall hoch gelobt. Und das zu recht, wie ich festgestellt habe. Man muss sehr aufmerksam beim Lesen bleiben, denn Itas Erzählungen über Sharon vermischen sich mit den direkten Erwiderungen seines Bruders, schweifen ab zu anderen Episoden seines Lebens, um unvermittelt wieder an die seltsame Nacht anzuknüpfen. Denn es gibt noch eine Frau in Itas Leben – oder besser gesagt, es gab sie – die ihm noch immer durch den Kopf spukt und jetzt auch durch seine Geschichten. Das lässt Boas nicht unkommentiert, mal witzig, bissig, mal ungeduldig und spöttisch. Ich mochte das sehr, wie Shalev das liebevolle Verhältnis der Brüder beschrieben hat, und es entlockte mir oft ein Schmunzeln.

Die ganze Unterhaltung wird immer wieder mit Szenen aus ihrer gemeinsamen Kindheit gemischt, ihre schwierige Beziehung zu ihren Eltern und der noch schwierigeren Beziehung zwischen Mutter und Vater. Dadurch entsteht eine komplexe Geschichte mit Zeitsprüngen, die Shalevs großes erzählerisches Talent zeigt, alle Fäden zusammenzuhalten, sodass man nie den Überblick verliert.
Es ist zwar eine Geschichte über einen Mann, der scheinbar unter seiner Schönheit leidet, aber es ist auch eine Geschichte über Beziehungen. Zwischen den Eltern an sich, zwischen den Eltern und Kindern und den Brüdern. Und nicht zuletzt zu seiner großen Liebe Michal.
Alles ist mit allem verknüpft, lässt sich nicht losgelöst voneinander betrachten. Und so greift es ineinander, wie auch Shalevs Erzählstränge.
Leider hatte ich so meine Probleme mit Sharon im Zusammenspiel mit Ita, bei dem mir keiner der beiden sympathisch war und dass die Spannung durch die Abschweifungen immer wieder abflachte. Aber das mag Geschmacksache sein und tut meinem Gesamteindruck keinen Abbruch.

Mein Fazit: Meir Shalev war ein grandioser Erzähler, der sein Handwerk in Perfektion beherrschte. Allein deshalb lohnt sich das Buch. Ich werde mir nun nach und nach seine älteren Werke zu Gemüte führen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere