Profilbild von ein_lesewesen

ein_lesewesen

Lesejury Profi
offline

ein_lesewesen ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit ein_lesewesen über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.08.2023

Zusammebruch einer traditionellen Welt

Mattanza
0

»Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zu Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. … In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die ...

»Eleonora war ein nicht eingelöstes Versprechen; sie war das Kind, das als Junge zu Welt hätte kommen sollen, und das war ihr nicht gelungen. … In jener Februarnacht, in der sie geboren wurde, hatten die Tonnaroti erkannt, dass selbst Gott nicht unfehlbar war, an Eleonora klebte der Fluch der Insel, und niemand konnte etwas dagegen tun.« S.10

Seit Jahren warten die Bewohner Katrias auf einen neuen Anführer des Thunfischfangs, der seit Jahrhunderten derselben Familie entstammt. Doch es wird kein männlicher Erbe geboren, also beschließt der alte Raìs, seine Enkelin Nora zu seiner Nachfolgerin zu machen. An einem Ort wie Katria, wo Aberglaube die Wahrheit ist und Legenden die Geschichte, ist man mehr als skeptisch. Von klein auf spürt Nora, welche Last auf ihren Schultern liegt, wie hoch die Erwartungen an sie sind und welche Entbehrungen es sie kostet. Denn als letzter Raìs trägt sie die Verantwortung über das Wohlergehen der gesamten Dorfgemeinschaft.
Es ist die Geschichte der sizilianischen Insel Katria, auf der seit ewigen Zeiten der Thunfisch traditionell bei der jährlichen Tonnara gefangen wird. Ein interessantes, orchestriertes wenn auch blutiges Unterfangen, das uns die Autorin eindrücklich schildert. Es sind die Jahre der vollen Netze als Nora mit 19 ihr Schicksalserbe antritt und sie beweist Geschick, weiß, wann die Schwärme in die letzten Netze schwimmen. Es werden rauschende Feste gefeiert, ausgerichtet von den Filangeris, den Besitzern der Tonnaro und der Fischfabrik.
Doch es ist auch die Geschichte des Mittelmeers bis 2012. Es sind die Jahre der Veränderung, der Wasserverschmutzung, der Überfischung, der Flüchtlinge. Kann Nora die Tradition der Insel bewahren? Wie weit ist sie bereit zu gehen?

Wow, unglaublich, was für eine fulminante Geschichte sich hier entwickelt. Und sie hat mich zu Tränen gerührt, so viel vorweg. Vergessen wir aber für einen Moment den archaischen, blutigen Thunfischfang, hier geht es um so viel mehr. Hier geht es um die Auswirkungen von globalen Veränderungen auf eine kleine Insel am Rand von Europa. Auch eine Art Schicksal, das über sie hereinbricht, dem man sich einerseits ergeben kann, aber anderseits gleichen alle Bemühungen, die man unternimmt, einem Kampf gegen Windmühlen. Denn nichts anderes ist es, eine Parabel unserer modernen Welt.

»Nur dreiundzwanzig Thunfische. Sie hat gehört, wie rund um ihre Welt hundert andere Dinge geschehen sind, die der Auslöser für so etwas sein konnten, und dies ist wiederum der nie bewiesene Grund für hundert andere Dinge. Sie hat die perfekte und unergründliche Synchronizität der Ereignisse gespürt, an denen auch sie beteiligt ist, Filter und Katalysator, Priesterin und Opfer einer Welt, die ihr nun nur dreiundzwanzig Thunfische hinterlassen hat und Schulden, die niemand bezahlen kann.« S.152

Fabiana hat hier ein grandioses Werk auf nur 192 Seiten geschaffen, eine Hommage an ihre Heimat, in der sie gekonnt die sizilianische Seele eingefangen hat. Sie erzählt eindringlich und voller scharfer Beobachtungsgabe von Gemeinschaft und Zusammenhalt, Hilflosigkeit und Mut, vom Zusammenbruch einer traditionellen Welt, während man in Brüssel und Tokio Entscheidungen fällt.
Es ist ein aufrüttelndes Buch mit ein wenig Hoffnung am Ende, das ich leider nur durch einen Tränenschleier sehen konnte. Ganz großes Kino.

Wie ich herausgefunden habe, gehört es zu einer Trilogie über Sizilien »Concerto Siciliano«, wobei alle drei Bücher in unterschiedlichen Zeiten spielen. Ich hoffe sehr und wünsche es mir, dass der Mare Verlag die anderen auch noch ins Deutsche übersetzt. Mattanza wird einen Platz in meinem Herzen haben.

Am Ende des Buches befindet sich eine Zeichnung, in der man den Aufbau der Tonnara sehen kann. Sie ist ein raffiniertes Fangsystem aus Netzen, ähnlich einem Labyrinth, durch das die Fische bis in die Todeskammer schwimmen. Dort beginnt das blutige Abschlachten, die Mattanza. (Auch wenn paradox ist, bleibt es doch ein nachhaltiges und faires Fischen.) Für mich steht der Titel »Mattanza« sinnbildlich für das Ausbluten der kleinen Inseln.
Inspiriert zu der Geschichte wurde die Autorin durch einen Besuch der ehemaligen Fischfabrik auf Favignana, die heute als Museum dient.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.08.2023

In Vermont hat man Zeit - und jede Menge schwarzen Humor

Treue Seele
0

Castle Freemans Bücher haben für mich zwei große Vorteile: Erstens sind sie recht kurz und gleichzeitig kurzweilig und zweitens sind sie einfach zum Schmunzeln. Aber diesmal habe ich sogar laut gelacht ...

Castle Freemans Bücher haben für mich zwei große Vorteile: Erstens sind sie recht kurz und gleichzeitig kurzweilig und zweitens sind sie einfach zum Schmunzeln. Aber diesmal habe ich sogar laut gelacht – und das passiert bei mir echt selten.

1990 trifft Port Conway zum ersten Mal auf die bildschöne Lucy.

»Wie alt war sie wohl? Dreizehn? Vierzehn? … Wahrscheinlich brachte sie schon die nicht mehr so kleinen Jungs um den Verstand. In ein paar Jahren würde es wehtun, sie anzusehen. Aber sie saß hier fest, in diesem Loch. Eine Blume – ein Krokus, eine Lilie im Schlamm.« S.20

Port ist als Volkszähler unterwegs und wird von Lucys sturem Vater Pop kurzerhand rausgeschmissen. Auch Lucy denkt nicht daran, ihm ein paar Fragen zu beantworten. Aber Port hat Zeit, in 10 Jahren ist die nächste Volkszählung – und Lucy erwachsen.
Und in der Zwischenzeit passiert, was halt so passiert auf dem einsamen Land in Vermont. Port wird zum Einsiedler, Lucy lebt inzwischen bei ihrer großen Halbschwester Connie und verliebt sich – nur leider nicht in Port. Auch wenn der sich nichts sehnlicher wünscht. Connie hält eh nicht viel von Port, aber er ist nun mal der beste Freund ihres Mannes Cliff.
Lucy hingegen weiß genau, was sie will, sie hat Pläne – möglich weit von diesem Dorf und diesem Leben wegzukommen. In puncto Männer lässt sie sich nichts sagen, hat aber irgendwie kein glückliches Händchen. Und ganz langsam gerät über die Jahre so einiges aus den Fugen. Und darüber muss man reden, Port mit Cliff und Cliff mit Connie. Und Lucy will nichts davon hören.
Es reicht ja nicht, dass Freeman mich mit seinen trockenen und lakonischen Dialogen schon überzeugt hat. Nein, er will, dass wir Lesenden mitten drin sind im Dorfleben. Dafür erzählt er abwechselnd aus der Sicht von Cliff, Port und Connie. Dadurch ergeben sich wunderbar vielschichtige Charaktere mit Kanten und Ecken.

Freeman überzeugt durch seine humorvolle und empathische Art zu erzählen, von geplatzten Träumen, Versagern und Verbrechern und ganz normalen Hinterwäldlern, die ihr Leben leben. Hier ticken halt die Uhren langsamer. Sheriff Wing hat diesmal nur einen Kurzauftritt, zeigt aber, dass seine ganz eigene Strategie wieder funktioniert.
Und Freeman hält uns bei aller Kurzweiligkeit zusätzlich bei der Stange, denn im Prolog erfahren wir, dass Port in nur wenigen Minuten vor den Traualtar treten wird. Wie viele Volkszählungen er wohl durchführen musste, bis es so weit war? Nur so viel sei verraten, es lagen einige Stolpersteine im Weg. Zum Glück ist Port ein geduldiger Mann und eine treue Seele.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 02.08.2023

Zwischen Social Media und Müllkippe

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art
0

Ich schwärme ja selten für ein Cover, aber hey, hier kann ich nicht anders. Wie schön ist das denn bitte? Und ich bin so froh, dass ich es lesen durfte, denn der Inhalt steht dem Cover in nichts nach.

Arielle, ...

Ich schwärme ja selten für ein Cover, aber hey, hier kann ich nicht anders. Wie schön ist das denn bitte? Und ich bin so froh, dass ich es lesen durfte, denn der Inhalt steht dem Cover in nichts nach.

Arielle, 14, ist anders als andere, wäre aber gern wie sie. Denn sie hat kaum Haare auf dem Kopf, nur Stummelchen als Zähne, aber was sie besonders belastet in diesem heißen Sommer, sie kann nicht schwitzen. Sie muss ihren Vater unterstützen, der die Wohnungen von Verstorbenen ausräumt und alles Nichtverwertbare anschließend auf den Müllplatz entsorgt. Von dort bringt er alte Festplatten mit, die sie gemeinsam nach Kryptowährung durchsuchen. Doch Arielle findet viel Spannenderes – das Leben anderer Menschen auf Fotos.

»Ich fand Bruchteile von gelebten Leben, in Nullen und Einsen übersetzt, verloren, vergessen, weggeworfen.« S.37

»Und ich fand Pauline.
Pauline, die beim Eislaufen denselben Strickpullover trug wie ihre Mutter.
Pauline, die ihre rot lackierten Zehen in türkisem Seewasser baumeln ließ.
Pauline, die auf dem Handtuch neben dem Sprungturm lag, das Kinn auf beide Arme stütze …« S. 41

Pauline, ein schönes Mädchen, wie geschaffen für Social Media – das Gegenteil von Arielle. Mit Pauline richtet sie sich einen Fake-Account ein und bekommt endlich etwas Aufmerksamkeit. Auch Arielles psychisch labile Mutter erkennt das Potenzial von Paulines schönem Gesicht und nutzt den Account für ihre Zwecke.
Und da ist noch Aljoscha, ihr bester Freund, der in seinem Studio neben der Müllkippe ausrangierte Schaufensterpuppen mit Lumpen einkleidet. Und Yasmin, ihre beste Freundin, »die für FireFly die hässlichen Stellen aus ihrem Leben schnitt wie matschiges Fruchtfleisch aus einem zu Boden gefallenen Apfel.«

Treffend und oft witzig zeichnet Gruber ein Gesellschaftsporträt. das unser Leben zwischen Realität und Social Media widerspiegelt. Eine Jagd nach Klicks und Aufmerksamkeit mit all seinen Tücken.
Es ist ein trauriges Buch mit einer sehr außergewöhnlichen Hauptfigur und einem Funken Hoffnung. Es geht um Verlockungen, Versprechungen und Fakes im Internet und wie leicht man ihnen erliegen kann. Arielle, die gern so sein möchte wie die anderen Mädchen in ihrem Alter, die sich das Lächeln der Models aus Zeitungen schneidet, um zu sehen, ob es ihr steht. Gruber erzählt von Vereinsamung und Erwachsenwerden irgendwo am Rand der Stadt zwischen Social Media und Müllkippe, wo Träume und Wünsche wie Seifenblasen platzen.
Gruber schreibt sehr unterhaltsam und tiefgründig, findet großartige Bilder und Worte für ein Mädchen, das vielleicht das Erste ihrer Art ist.
Ich hoffe, dass wir in Zukunft noch viel von ihm lesen werden.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.07.2023

Eine Hommage an die Literatur und die Liebe

Malinverno oder Die Bibliothek der verlorenen Geschichten
0

Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar ...

Manchmal stößt man auf ein Buch, hinter dessen unscheinbarem Cover eine ganz große Geschichte wartet, die einen tief in der Seele berührt, vor allem wenn man eine Bücherseele hat.
Malinverno ist Bibliothekar in Timpamara, eine kleine Stadt, in der Bücherseiten durch die Luft fliegen, die von den Bewohnern liebevoll aufgesammelt und gelesen werden, damit sie nicht in der Presse der Papierfabrik landen. Hier haben Menschen Namen von literarischen Helden und man spricht statt Dialekt Hochitalienisch.

»Über all in Timpamara, auf Fensterbrettern und Bänken, auf Kofferräumen und Müllsäcken, ja sogar auf den Hüten der Damen, konnte eine Seite aus einem Roman landen. Wenn sie jemand aufhob, sie las, und wenn sie ihm nicht gefiel, warf er sie nicht weg, sondern legte sie irgendwo ab, im Blumenkasten auf dem Bürgersteig oder, mit einem Stein beschwert, auf einer Stufe, damit jemand anderes sie aufhob…« S.12f


Doch Malinvernos geruhsames und geordnetes Leben ist vorbei, als er zusätzlich zum Friedhofswärter berufen wird. Nur unwillig macht er sich an seine neue Arbeit, bis er eines Tages ein namenloses Grab entdeckt. Das Porträt darauf erinnert ihn an Madame Bovary. Flauberts Roman hat ihm über viele schwierige Zeiten hinweggeholfen und daher nennt er sie liebevoll Emma. Aus seiner anfänglichen Verliebtheit wird schnell eine Obsession. Um so überraschter ist er, als ihm eine Frau (Ofelia) begegnet, die Emma zum Verwechseln ähnlich sieht. Kann es sein, dass er am traurigsten und dunkelsten Ort die Liebe seines Lebens gefunden hat?

Was für eine bezaubernde Geschichte voller seltsamer, liebevoller Figuren. Denn Malinverno wird einigen Menschen begegnen, die sein Leben verändern und die Grenzen zwischen Realität und Literatur verschwimmen lassen. Da ist Elea, der Auferstandene; Margherita, die ihre verlorene Liebe heiraten möchte; Isaia Caramante, der die Klänge und Stimmen aus einer anderen Welt aufnimmt. Auch Ofelia ist eine zwischen Realität und Fantasie schwebende Figur, bei der sich der Leser immer fragen wird, ob sie existiert oder nur ein Produkt von Malinvernos Fantasie ist. Sie alle werde ich nicht vergessen, aber Astolfo Malinverno habe ich in mein Herz geschlossen.

Doch uns erwartet keine Liebesgeschichte, denn Trauer und Tod sind ein zentrales Thema in Daras drittem Roman. Und Dara spielt mit Metaphern und Reflexionen darüber und mit der alles verbindenden Brücke, der Liebe. War Malinverno bisher nur stiller Zuschauer, wird er nun selbst zur Brücke, zum Mittler zwischen dem, was ist und dem, was war – ein Hüter der Seelen. Er pendelt zwischen Bibliothek und Friedhof, zwei metaphysischen Orten, die Geschichten und Erinnerungen bewahren. Über all seinen skurrilen Begegnungen liegt ein Hauch magischer Realismus, dessen märchenhafte Atmosphäre mich berührt hat.
Das Buch ist ebenso tiefgründig wie farbenfroh, traurig und heiter. Keins, das man schnell wegliest, nicht nur wegen Daras literarischen Erzählstils, denn es lädt zum Nachdenken ein über das Sein, das Danach, den Sinn des Lebens und was uns wirklich ausmacht.

»Wir sind das, was wir gedacht, uns vorgestellt, erhofft, gewünscht und vergessen haben. Das Universum wird niemals wissen, wie unsere stille, geheime Existenz tatsächlich verlaufen ist, niemand wird je von unseren geheimen Reisen, unseren Liebesfantasien, von den Hunderten Leben erfahren, die in den unendlichen Universen eines Neurons enthalten sind.« S. 314

Es ist auch eine Hommage an die Weltliteratur, von Madame Bovary bis Don Quijote. Wer Sinn dafür hat, wird an jeder Stelle Andeutungen und Symbole finden, stimmig und spielerisch eingesetzt, dass es eine Freude ist. So erinnert Malinvernos Vorname an den Ritter, der zum Mond flog, um verlorene Dinge wieder zur Erde zu bringen. Und wer wie ich auch noch neugierig ist, wird über Daras Liebe zu seiner Heimat stolpern. Denn die Nachnamen der Figuren sind kleine, fast vergessene Orte Kalabriens.
Ich kann nur sagen, wenn ihr Literatur und tiefgründige Charaktere liebt, lasst euch von der Geschichte umarmen, von dem leichten, aber intelligenten Erzählstil Daras verzaubern. Es ist jetzt schon mein Monatshighlight.

»… ich dachte, dass im Gunde alles, was wir im Leben bekommen, nur eine Leihgabe ist, die wir früher oder später zurückgeben müssen, so als wäre das Universum eine große Bibliothek, in der Einsamkeit, Freude und Bedauern verliehen … werden in dem Wissen, dass all unsere Gegenstände, unsere Empfindungen und Atemzüge eines Tages auf einen anderen übergehen werden.« S.44

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.07.2023

Außergewöhnlicher Rätsel-Krimi

Die Aosawa-Morde
0

In den siebziger Jahren ereignet sich in einer japanischen Kleinstadt ein rätselhafter Massenmord. Bei einer Geburtstagsfeier im Haus einer angesehenen Ärztefamilie sterben 17 Menschen durch vergiftete ...

In den siebziger Jahren ereignet sich in einer japanischen Kleinstadt ein rätselhafter Massenmord. Bei einer Geburtstagsfeier im Haus einer angesehenen Ärztefamilie sterben 17 Menschen durch vergiftete Sake. Einzige Überlebende ist die 12-jährige, blinde Tochter Hisako. Das Verbrechen wird nie ganz aufgeklärt, auch wenn der Getränkelieferant kurz darauf seine Beteiligung gesteht, Selbstmord begeht und postum verurteilt wird. Was bleibt, ist ein vages Gefühl, dass Hisako etwas mit den grausamen Morden zu tun hat, doch Beweise gibt es keine.
Viele Jahre später schreibt Makiko Saiga, die damals als Kind Zeugin dieser Tragödie war, einen Tatsachenroman darüber, in dem sie Zeugen zu Wort kommen lässt.
Jetzt, wiederum viele Jahre später, scheint sich erneut jemand für die Personen zu interessieren, die damals eine Verbindung zu dem Verbrechen hatten.

»Ich hoffe, Sie verstehen, dass Wahrheit nichts anderes ist als die Sichtweise auf einen Gegenstand aus einer bestimmten Perspektive.« S.64

Genau das erwartet uns in Ondas Kriminalroman, der nur entfernt an einen Whodunit-Krimi erinnert, auch wenn die einzig verbleibende Person im Geschehen die perfekte Verdächtige ist. Doch welches Motiv sollte das blinde Mädchen haben? Formal ist der Krimi aus verschiedenen Blickwinkeln aufgebaut – transkribierten Interviews, in denen die Gesprächspartner lange rätselhaft bleiben und sich erst mit der Zeit erschließen. Was wir lesen, sind aber nur die Antworten und nicht die Fragen, hier mischt sich auch kein außenstehender Erzähler ein.
Das, was wir über die Figuren erfahren, beschränkt sich auf das, was sie uns selbst mitteilen. Auch das ist Onda hervorragend gelungen, ihnen eine eindeutige Stimme zu geben. Wenn sie aber jemand über die Familie Aosawa äußert, so mit viel Diskretion, die ich als typisch japanisch bezeichnen würde.

Ich hatte schnell den Verdacht, dass sich Hinweise im Text verstecken, auch war klar, dass die Perspektiven auf den Fall verschiedene Wahrheiten zeigten. Onda spielt also gekonnt mit der Wahrheit und scheint sich wie ein Puzzle mit der Zeit zusammenzufügen. Aber liefert sie wirklich für jedes Rätsel eine Lösung?
Neben den Perspektiven auf verschiedenen Zeitebenen arbeitet Onda auch mit verschiedenen Textstilen, indem sie Zeitungsmeldungen und Polizeiprotokolle einfügt, manche Kapitel bestehen nur aus Dialogen. Das alles fühlt sich experimentell aber auch sehr gelungen an.
Was mir als Nichtkenner der japanischen Literatur zum Teil verborgen blieb, ich aber trotzdem wahrgenommen habe, sind die bildlichen Metaphern. Ob es nur das eigenwillige, schiffsähnliche Haus mit den Bullaugen war, das Wetter, die Angewohnheit des Kommissars, Kraniche zu falten oder die weiße Kräuselmyrte, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Aber ich denke nicht, dass es Einfluss auf die Auflösung hatte.

Ich fand Ondas Krimi äußerst innovativ und überzeugend. Auch wenn er eher zurückhaltend und ruhig ist, entsteht eine subtile Spannung, die mich das Buch innerhalb kürzester Zeit durchlesen ließ. Ich kenne nichts Vergleichbares und bin fasziniert, dass man Krimis auch völlig anders erzählen kann.
Ich empfehle es denen, die offen sind für Außergewöhnliches und keinen herkömmlichen Krimi lesen möchten, Wert auf sprachlich hervorragende Texte, Tiefe und Symbolik legen und sich ein wenig für japanische Gesellschaft und Kultur interessieren.

Anfang des Jahres hat sie mich bereits mit »Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen« begeistert und ich hoffe, noch viel von ihr lesen zu dürfen.

Das Glossar am Ende des Buches gibt Hilfestellung beim Verständnis einzelner Begriffe. Ich habe es aber nicht gebraucht, da die Übersetzerin Nora Bartels hier perfekte Arbeit geleistet hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere