Ein mit sehr viel Raffinesse konstruierter Roman
Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie ...
Beginnt man Emily St. John Mandels aktuellen Roman zu lesen, denkt man zunächst, dass es sich um eine relativ leicht durchschaubare Zeitreise-Geschichte mit Pandemie-Touch handelt. Wir bewegen uns, wie schon das Inhaltsverzeichnis vermuten lässt durch die Zeit. Von einem britischen, ausgestoßenem Adelsspross, Edwin St. John St. Andrew, 1912 im kanadischem Exil, nach 2020 zu einer merkwürdigen, musikalischen Kunstperformance des Bruders der bereits verstorbenen Vincent (weibl.), zur Autorin Olive Llewellyn, die in 2203 für eine Lesereise ihre Heimat, die Mondkolonie, verlässt und auf der Erde herumreist, bis in die ferne Zukunft 2401 ebenso auf dem Mond, auf dem es ein Zeitreiseinstitut gibt und Gaspery-Jacques Roberts als Recherchemitarbeiter rekrutiert wird und beginnt durch die Zeit zu reisen. Wie man vermuten kann, hängen alle Erzählstränge miteinander zusammen.
Allein die Grundgeschichte hat St. John Mandel solide konstruiert. In Zeitreisegeschichten geübte Lesende werden relativ schnell hinter die Zusammenhänge steigen und sich trotzdem an den kleinen Geschichten, die in den einzelnen Erzählsträngen entstehen, erfreuen können, und am Ende vielleicht doch von dem letzten Dreh der Geschichte doch noch überrascht werden. Viel interessanter finde ich aber die anderen Aspekte, die die Autorin auf der Metaebene in den Roman eingebaut hat. Denn funktioniert vor allem der Strang um die Schriftstellerin Olive größtenteils durch die Einbindung zum einen eigener, persönlicher Erfahrungen der Ehefrau und Mutter Emily St. John Mandel während der Corona-Pandemie, denn auch in 2203 steht eine neue Pandemie, mit einem neuen Virus an. Aber die Autorin steigt noch eine Metaebene höher, denn ist Olives vorletzter Roman gerade einer über eine Pandemie. So wird sie nun bei ihrer Lesereise, die zum vorletzten Roman stattfindet, da dieser verfilmt werden soll, hauptsächlich zum Thema Pandemie befragt. Dann bricht tatsächlich diese neue Pandemie aus. Und genau das ist, was St. John Mandel mit ihrem 2014 im englischen Original und 2015 auf Deutsch veröffentlichten Roman „Das Licht der letzten Tage“ passiert ist. Dieser wurde auch für eine Verfilmung gekauft, die geht damit auf Lesereise und dann kam Corona. Der fiktive Roman „Marienbad“ von Olive enthält wiederum Passagen, die Stellen aus „Das Licht der letzten Tage“ stark ähneln. So findet man sich als damalige Leserin von „Das Licht…“ während des Lesens von „Das Meer der endlosen Ruhe“ immer wieder erinnert an diesen real existierenden Roman von St. John Mandel. Aber damit nicht genug, denn auch das Personal aus dem Roman „Das Glashotel“ von St. John Mandel taucht als Personal in „Das Meer…“ wieder auf. Nun aber eben nicht als innerhalb des vorliegenden Romans fiktive Schöpfung von Olive, sondern als real existierende Figuren in der Handlung von „Das Meer…“.
Diese Konstruktion über mehrere Ebenen hinweg finde ich so großartig gelungen, dass für mich dieser trotzdem nie kompliziert geschriebene, sondern immer süffig zu lesende Roman komplett für sich einnehmen konnte und ein Highlight geworden ist. Es empfiehlt sich daher sehr stark, sollte man die anderen beiden Bücher von St. John Mandel sowieso vorhaben zu lesen, diese vor „Das Meer…“ zu lesen. Somit bekommt man nicht nur eine flotte, gut funktionierende Zeitreise-Pandemie-Geschichte, sondern auch noch das Extrapaket der raffiniert eingebundenen Querverweise mit dazu. Der Roman funktioniert definitiv auch ohne, aber mit dem Vorwissen wurde er eindeutig zu einem Highlight.
Viel Spaß also beim Entdecken dieses vielschichtigen Romans und gegebenenfalls beim „Nachlesen“ der vorherigen Bücher der Autorin. ;)
5/5 Sterne