Von dem Klappentext bitte fernhalten – der verrät zu viel!
Wow. Was habe ich da gerade gelesen?
„Ich soll nicht lügen“ ist ein Psychothriller, der gemächlich und gewöhnungsbedürftig startet, und schließlich schockiert, überrascht, erschüttert und berührt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich ein so spannender und mitreißender Plot erwartet – trotz der Inhaltsangabe auf der Rückseite des Buches, die für mich sehr vielversprechend klang.
Die Ausgangssituation des Thrillers ist folgende: Mags‘ Bruder Abe ist von einer Treppe zwölf Meter in die Tiefe gestürzt und liegt nun im Koma. Alle gehen von einem Selbstmordversuch aus, da es außer Abes Verlobten Jody keine Zeugen gab und diese felsenfest behauptet, er hätte sich absichtlich hinuntergestürzt. Mags und Abe hatten schon jahrelang keinen Kontakt mehr, aber zu diesem unglücklichen Anlass verschlägt es sie nun doch wieder in seine Nähe, wo sie auf die ihr völlig unbekannte Verlobte Abes trifft. Es dauert nicht lange, bis Mags Zweifel an Jodys Aussage hegt und andere Bewohner des Hauses zu der Nacht befragt, von denen die meisten jedoch behaupten, nichts gesehen oder gehört zu haben. Nach einigen Nächten, in denen sie in Abes Wohnung geschlafen hat, wird ihr aber klar, dass das unmöglich sein kann, da die Wände dünn und hellhörig sind. Wer belügt sie – und warum?
Sarah J. Naughtons Schreibstil ist schonungslos ehrlich und nichts für Zartbesaitete. Es wird kein Blatt vor den Mund genommen, vulgäre Ausdrücke werden verwendet und auch traumatische Erlebnisse werden beschrieben, ohne um den heißen Brei herumzureden. Es gibt Sex, der aber nicht von der Atmosphäre eines Erotikromans, sondern eines Psychothrillers begleitet wird. Je nachdem, aus welcher Perspektive das jeweilige Kapitel geschrieben ist, findet man die Er/Sie/Es-Form oder die eher ungewöhnliche Du-Form vor, mit der eine andere Figur in dem Monolog direkt angesprochen wird. Dies ist von der Autorin nicht willkürlich gewählt, sondern verfolgt einen bestimmten Zweck, den man mit der Zeit zu begreifen lernt.
Das Geschehen ist vor allem aus der Sicht von Mags, Jody und Mira (die ebenfalls auf Abes und Jodys Etage wohnt) geschrieben, später kommen auch noch andere Figuren hinzu. Sämtliche Charaktere sind unglaublich vielschichtig. Nichts ist schwarz oder weiß. Meine Meinung über sie hat sich ständig geändert und mittlerweile bin ich so weit, dass ich gar kein klares Urteil mehr über sie fällen kann, weil es eben ganz viele Graustufen gibt – niemand ist nur gut oder nur böse. Sie haben ihre positiven, aber auch ihre negativen Eigenschaften, was ich bei Buchcharakteren noch nie so deutlich empfunden habe wie hier.
Vor allem Mags war anfangs wirklich grenzwertig. Sie ist ein unerwartet gefühlskalter, berechnender und fast schon fieser Mensch, der lediglich an sich selbst denkt und nicht einmal besonders bedrückt wirkt, als sie von dem Sturz ihres Bruders erfährt. Sie wirkt, als würde sie zu einem lästigen Meeting fahren, und nicht zu ihrem sterbenden Bruder. Die jahrelange Kontaktlosigkeit zwischen Abe und Mags würde übertriebene Trauer zwar unrealistisch machen, jedoch wirkt sie so gleichgültig, dass sie mir auf Anhieb unsympathisch wurde. Aber genau an dieser Stelle besteht das Potential zur Charakterentwicklung, die schließlich auch stattfindet. Ihre Entwicklung vollzieht sich glaubwürdig und nachvollziehbar und hat bewirkt, dass ich Mags immer sympathischer fand, stellenweise sogar ehrlich gerührt war, obwohl der Leser auch immer wieder auf ihre Schattenseiten gestoßen wird. Jody ist mindestens genauso schwer einzuschätzen wie Mags, da auch sie zwischen der Opfer- und der Täterrolle ständig hin- und herzuspringen scheint. Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint, jede Figur ist für Überraschungen gut. Der einzige Charakter, von dem ich wirklich felsenfest behaupten kann, dass er ein herzensguter, anständiger Mensch ist, ist Abe und das macht die Geschichte umso tragischer.
Ist es anfangs noch sehr gewöhnungsbedürftig und verwirrend, da sich Kapitel aneinanderreihen, die keinerlei Zusammenhang erkennen lassen, so werden diese im Laufe des Buches immer mehr zusammengefügt, bis sie ein stimmiges Bild ergeben. Es gibt einige Abstecher in die Vergangenheit der Figuren, bei denen jedoch offenbleibt, aus wessen Sicht man liest. Hier ist durchgehendes Rätselraten angesagt. Ich bin von dem genialen Plot immer noch total überwältigt. Ständig tauchen neue Handlungsaspekte auf, mit denen man nicht rechnet und die sämtliche bis dahin gezogenen Schlüsse ins Chaos stürzen. Die Plot Twists habe ich zwar schon einige Seiten vor Auflösung kommen sehen, jedoch waren diese so genial, dass ich darüber gut und gerne hinwegsehen kann. Selbst bei den wenig überraschenden Twists musste ich das Buch kurz zur Seite lesen und erst einmal verarbeiten, was ich gerade gelesen hatte. Die Autorin verstrickt sich in einer so durchdachten und mitreißenden Storyline, dass der Leser auf jeder Seite unter Hochspannung mitfiebert. Vor allem in den letzten Kapiteln gab es sogar stellenweise Gänsehautmomente, in denen ich öfters Tränen vergießen musste.
Fazit
Ich bin von diesem Buch absolut begeistert und kann es jedem Genre-Liebhaber ans Herz legen – aber auch all denjenigen, die sich mit dem Genre eher schwertun, denn es gibt genügend Twists um den Leser bei Laune zu halten. Hochspannung und Gänsehautfeeling vorprogrammiert – wahnsinn! Ich vergebe 4,5 Sterne – danke für diese emotionale Achterbahnfahrt, Sarah J. Naughton!