Cover-Bild Der Kaninchenstall
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25,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 416
  • Ersterscheinung: 06.07.2023
  • ISBN: 9783462003000
Tess Gunty

Der Kaninchenstall

Roman
Sophie Zeitz (Übersetzer)

Tess Gunty ist die jüngste Preisträgerin des National Book Award seit Philipp Roth und das größte Talent der amerikanischen Literaturgeschichte seit David Foster Wallace.

»Der Kaninchenstall« verspricht eine solch intensive Lektüre, dass man kaum noch von »lesen« sprechen mag. »Durchleben«, »durchstaunen« wären bei diesem Meisterwerk weitaus angebrachter, gar »Erlebnis« kommt einem in den Sinn. »Lebensverändernd« ist sie mindestens, die Lektüre dieses Romans. 

Die ätherische Blandine, die eine Obsession für Hildegard von Bingen entwickelt hat und durch das System gefallen zu sein scheint, lebt nur durch die dünnen Wände eines schäbigen Apartmentkomplexes in einem ehemaligen Industrieort in Indiana von ihren skurrilen Nachbarn getrennt: einer Frau, die online Nachrufe schreibt, einer jungen Mutter mit einem dunklen Geheimnis, und jemandem, der im Alleingang einen Feldzug gegen Nagetiere führt. Willkommen im Kaninchenstall. Ein Roman über den amerikanischen Rust Belt und seine Bewohner, die keineswegs alle über einen Kamm zu scheren sind, wie man fälschlicherweise annehmen könnte.

Eine schonungslos schöne und beißend komische Momentaufnahme des zeitgenössischen Amerikas, eine hinreißende und provokante Geschichte über Einsamkeit und Sehnsucht, Verstrickung und schließlich: Freiheit. 

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.07.2023

Ein Wimmelbild an Motiven und Gesellschaftskritik

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In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. ...

In ihrem in den USA hochgelobten Debütroman wirft Tess Gunty den Blick auf einen kleinen Ort mitten im Rust Belt der USA, auf dessen Bewohner und somit auch auf die zeitgenössische amerikanische Gesellschaft. Das ist wild, überbordend und experimentell.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass die 19jährige Blandine Watkins in einer heißen Sommernacht aufgeschlitzt auf dem Boden ihrer WG-Apartment C4 liegen und ihren Körper im Zuge dessen verlassen wird. Das Apartment ist eins von vielen in einem günstigen Sozial-Wohnblock, genannt „Der Kaninchenstall“. Sofort wird aber der Blick von dieser angerissenen Szenerie wieder weg gelenkt hin zu anderen Apartments, hin zu anderen Bewohnern dieses Sozialbaus. Wir treten einen Schritt zurück ein paar Tage in die Vergangenheit und nähern uns dann zusammen mit verschiedenen Beteiligten erneut dieser verhängnisvollen Nacht.

Über verschlungene Pfade erfahren wir stückchenweise mehr über den Hintergrund von Blandine, aber auch von anderen Personen, sogar gerade verstorbenen, die gar nichts mehr zum eigentlichen Plot beitragen. Durch diese Methode nimmt die Autorin Personen aus der Hollywood-High-Society ebenso ins Visier wie ganz einfache Menschen mitten im Nirgendwo der USA. Wir lernen einen Ort, Vacca Vale, südlich des Lake Michigan gelegen, kennen, der mit der Reagan-Ära anfing unterzugehen und sich nun versucht neu zu erfinden. Statt Auto- und Metallindustrie sollen digitale Start-Ups in den Ort gelockt werden. Dafür muss ein (das einzige) Naherholungsgebiet des Ortes bebaut werden, etwas, was Blandine nicht akzeptieren will und sich dagegen wehrt.

Aber eigentlich ist es schwer, die Handlung dieses Buches sinnvoll zu illustrieren. Greift doch der Roman sehr viele aktuelle gesellschaftliche Themen der USA auf. Die Protagonisten sind vielmehr Spiegel der Gesellschaft. In ihren Gedanken, Gefühlen und Handlungen erkennt man sehr heiß diskutierte Themenkomplexe der vergangenen Jahre wieder. Machtmissbrauch und Missbrauch durch Personen mit Macht, Klimawandel und Umweltkatastrophen, soziale Medien und dadurch unsozial gewordene Menschen, und und und. Häufig bringt die Autorin diese Themen ganz latent durch ihre Figuren ein, manchmal aber auch mit der Holzhammer-Methode, wenn gerade Blandine (durchaus pointierte und nachvollziehbare) Monologe zu Problemthemen hält. An einer Stelle hat mich das gestört, da es nicht mehr zur Romanhandlung zu passen und Blandine in diesem Moment aus ihrer Rolle innerhalb der Szenerie zu treten scheint. Im Großen und Ganzen konnte ich allerdings akzeptieren, dass dieses Anreißen von Themen dem Stil dieser jungen amerikanischen Autorin, die scheinbar alle sie belastenden Themen in ihr Erstlingswerk einbringen wollte, entspricht. Mein Lesefluss wurde dadurch nicht unterbrochen.

Über weite Strecken bin ich der Autorin sehr gern in ihr wildes Wimmelbild der maroden amerikanischen Gesellschaft gefolgt, vor allem, da sie immer wieder (pop-)kulturelle Motive aufgreift, die sich durch den Roman ziehen. So tauchen immer wieder weiße Kaninchen auf, die eine potentielle Realitätsflucht, ähnlich wie Alice dem weißen Kaninchen in seinen Bau und damit ins Wunderland gefolgt ist, andeuten. Auch Parallelen zur Dorothy („Der Zauberer von Oz“) werden angedeutet. Taucht dann auch noch im Buch ein verstorbener Kinderstar auf, muss man gleich an Judy Garland denken, die die Dorothy mimte. Neben diesen Anspielungen, von denen ich wahrscheinlich nur die Hälfte erkannt habe, ist der Roman aus wiederkehrenden Motiven zusammengesetzt. So geht es immer wieder um Reizüberflutung, überreizte Haut, Hypersensibilität, Mystik bzw. Mystikerinnen vergangener Jahrhunderte, psychedelische Farben und andere Wahrnehmungselemente. Traumatisierung einzelner wird mit Kapitalismuskritik gepaart. Ab und an könnte der Roman dadurch überladen wirken, ergibt aber meines Erachtens im Gesamtkonzept Sinn und lässt nachvollziehen, warum die Autorin mit David Foster Wallace vergleichen wird, auch wenn sie seine Klasse definitiv (noch) nicht erreicht.

Allein mit dem Ende des Romans konnte ich weniger anfangen. Für mich wirkte das Ganze nicht so richtig rund und ließ mich eher unbefriedigt zurück. Ohne um den heißen Brei herumzureden: Ich habe das Ende wahrscheinlich auch gar nicht gänzlich verstanden.

Insgesamt hat mir dieser Roman aber sehr gut gefallen. Ich bin Tess Gunty sehr gern in den Kaninchenstall gefolgt, war angefixt durch die Rahmenhandlung, deren Grundstock ja schon auf den ersten beiden Seiten gelegt wurde und habe ihre Anspielungen bzw. die Suche nach diesen geliebt. Von mir gibt es daher eine Leseempfehlung für Mutige, die einen experimentellen Stil mit wechselnden Erzählperspektiven und mitunter visuellen Elementen gepaart mit Gesellschaftskritik auf vielen Ebenen gern lesen. Eine neue kreative literarische Stimme, die ich gern in der Zukunft weiterverfolge.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Sprachlich ein außergewöhnliches Highlight mit Schwächen im Plot

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Der amerikanische Kapitalismus frisst seine Kinder.
Aber bevor es soweit ist, hält er sie noch in Kaninchenställen.

Tess Gunty hat mit „Der Kaninchenstall“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse eines ...

Der amerikanische Kapitalismus frisst seine Kinder.
Aber bevor es soweit ist, hält er sie noch in Kaninchenställen.

Tess Gunty hat mit „Der Kaninchenstall“ eine messerscharfe Gesellschaftsanalyse eines abgefuckten Amerikas abgeliefert.

„Ich wollte sterben, töten, vögeln, meine Eltern finden und sie wieder lebendig machen und sie dann umbringen, dann beerdigen und schreien und schreien.“

Mehr als dieses Zitat will ich zum Inhalt nicht schreiben. Gunty beschreibt verschiedenen Schicksale der Bewohner*innen des Kaninchenstalls und Menschen in Vacca Vale, einer abgehängten Kleinstadt im Herzen Indianas, mitten in Amerika. Nachdem die Autoindustrie die Menschen ausgebeutet hat, die Umwelt mit ihren krebserregenden Stoffen vergiftet hat, ist sie weitergezogen und lässt die Stadt geschändet und sterbend zurück.
Im Kaninchenstall lebt die Mittelklasse der sozial Abgehängten, sinn- und nutzlos durch den Tag treibend.

Sprachlich liefert Tess Gunty eine derartige wahnsinnige Leistung ab, dass ich mich auf den ersten Seiten wie erschlagen fühle angesichts dieser Häufung von genialen und treffenden Wort- und Satzschaffungen.
Das ist großes, großes Kino! Ich bin hart begeistert und diese Begeisterung wird mich über die eine oder andere Schwäche im Storytelling hinwegsehen lassen.
Denn so wie Gunty sprachlich für mich Neuland betritt, so bewegt sie sich in der Story auf vertrautem Territorium. Die zahlreichen Erzählstränge entwicklen sich genauso wie ich erwarte und wie ich sie schon in zahlreichen anderen Romanen genauso ablaufen gesehen habe. Der dramatische Schluss ist sehr erwartbar und in meinen Augen zu stark konstruiert.
Neu ist die starke und allgegenwärtige Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, die Gunty direkt und metaphorisch zu ihrer Hauptbotschaft macht.

Der amerikanische Traum ist tot und hat sich in vergiftetes Futter für die Kaninchen verwandelt, die in ihrem Stall dahinvegetieren. Nur ganz am Ende öffnet Gunty die Türe ein klein wenig für einen Lichtstrahl der Hoffnung. Ob diese Türe aufgestoßen werden kann überlässt sie mir und meinem Weltbild.

Sprachlich für mich ein Highlight auf aufsehenerregendem Niveau , mit dem die eigentliche Geschichte leider nicht mithalten kann. Ein Hammer Debütroman, dem hoffentlich noch einiges folgen wird!

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Veröffentlicht am 13.08.2023

Schwierig

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In einem heruntergekommenen Apartmentkomplex im fiktiven Vacca Vale lebt die 18jährige Blandine mit drei jungen Männern in einer WG. Jeder der Jungs glaubt in das blasse unnahbare Mädchen verliebt zu sein, ...

In einem heruntergekommenen Apartmentkomplex im fiktiven Vacca Vale lebt die 18jährige Blandine mit drei jungen Männern in einer WG. Jeder der Jungs glaubt in das blasse unnahbare Mädchen verliebt zu sein, diese ist allerdings am liebsten für sich und fröhnt ihrer Obsession für die Mystikerinnen und Hildegard von Bingen. Neben der ungewöhlichen WG gibt es noch andere Bewohner im sogenannten "Kaninchenstall", jungen Eltern mit ihrem Baby, ein altes Ehepaar mit Mäuseproblem, oder die einsame 40jährige, mit einer Vorliebe für Maraschino-Kirschen.

Einige der Bewohner lernt der Leser direkt zu Beginn kennen, von manchen erfährt er die Namen, andere bleiben bis zum Schluß namenlos. Manche werden nur kurz erwähnt, Andere bekommen einen längeren Auftritt zugestanden. Nach welchen Kriterien die Autorin die Präsenz der Figuren innerhalb der Geschichte vergeben hat, bleibt leider bis zum Schluß unklar. Genauso ist leider nicht immer erkennbar, welchen Zusammenhang es zwischen den einzelnen Nebenschauplätzen und der Hauptstory gibt, ausser, dass das junge Paar sein Baby in eben dem Hotelzimmer gezeugt hat, in dem später eine der Hauptfiguren absteigt.

Klingt jetzt vielleicht etwas verwirrend, was ich hier gerade von mir gegeben habe, spiegelt aber eigentlich ganz gut den Zustand, in dem ich mich beim Lesen befunden habe, ständige Verwirrung.

Zu Beginn der Geschichte war ich erstmal etwas erschlagen von der Sprachgewalt der jungen Autorin. Schreiben kann sie, gar keine Frage, allerdings fiel es mir zunehmend schwer ihrem Geschriebenem zu folgen. Ich habe es stellenweise als sehr anstrengend empfunden mich durch die verschiedenen Handlungsstränge zu manövrieren, es gibt zwar einen roten Faden, allerdings ist der an vielen Stellen so ausgefranst, dass er zwischen den Zeilen fast nicht mehr zu finden ist. Natürlich bringt die Autorin zum Ende hin einiges zusammen. Da erklärt sich irgendwann die Rolle von Moses, dem Sohn einer gerade verstorbenen Filmdiva, aber auch hier bleibt die Frage, warum die Autorin gerade dieser Figur so viel Raum, soviel Tiefe eingeräumt hat. Die Figuren sind oft sehr skuril gezeichnet, fast überzeichnet. An sich mag ich solche "Freaks" ganz gern, aber hier hatte ich oft ein ungutes Gefühl, so als würde dieses "freakige" zur Lachnummer verkommen. Mit der auf dem Buchrücken erwähnten "beißenden Komik" hat das für mich leider nicht viel zu tun.

Generell finde ich mich in den Pressestimmen, die den Schutzumschlag zieren, nicht wirklich wieder. Ich möchte der Autorin nicht absprechen, dass sie den National Book Award zu Recht gewonnen hat, wie gesagt, schreiben kann sie und ihr Porträt einer sterbenden Industriestadt ist so auf den Punkt, dass es weh tut, aber die Art und Weise ihrer Umsetzung ist mir einfach to much. Ich weiß nicht wirklich, was die Autorin mir jetzt mit ihrer Geschichte sagen will, ja, sie ist eine Gesellschaftskritik, eine Kritik an vielem, was in den USA derzeit im Argen liegt, am Bildungssystem, am Gesundheitssystem, an der Sozialpolitik, am kommunalen Wohnungsbau, an der Umweltpolitik großer Firmen und und und. Zuätzlich werden auch Themen wie Mißbrauch, Vernachlässigung, Einsamkeit und Armut eingebunden. Alles wichtige Themen, Themen, die ohne Probleme mehrer Bücher füllen könnten, hier aber eben in eine einzige Geschichte gequetscht wurden.

Ich bin Leser von der Sorte "ottonormal", natürlich mag ich Bücher mit Tiefgang, mit einer Message, aber es muss mir eben auch möglich gemacht werden diese Message zu verstehen und das ohne das ich vorher Literaturwissenschaften studiert habe. Bei der Lektüre dieses Buches hab ich mich irgendwie fehl am Platz gefühlt, als wäre das Buch eigentlich nicht für mich gemacht. Ich hab mich so ein bisschen gefühlt wie früher in der Schule, wenn ich bei einer Buchinterpretation so überhaupt nichts von dem herausgelesen hatte, was laut Lehrer herauszulesen war.

Ich möchte dem Buch in keinster Weise seine Genialität absprechen, seine Tendenz zum modernen Klassiker, ich bin mir aber sicher, dass das Buch sich letztlich nur einem begrenzten Leserkreis erschließen wird. Wahrscheinlich wird das Buch eins von denen, die man entweder liebt, oder hasst. Während die Einen sich mit immer neuen Interpretationen überschlagen, werden sich die Anderen durchquälen und am Ende mit einer Unmenge an Fragezeichen im Kopf zurückbleiben. Um zu wissen, zu welcher Kategorie man selber gehört muss man das Buch aber erstmal lesen. Viel Spaß im Kaninchenstall.

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Veröffentlicht am 20.07.2023

Schrill, freakig, überambitioniert

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Blandine ist die tragische Heldin im Kaninchenstall, einem heruntergekommenen Wohnblock in der fiktiven Stadt Vacca Vale, Indiana. Mitten im »Rust Belt«, in den ehemaligen Industriehochburgen, wo die Zukunftsaussichten ...

Blandine ist die tragische Heldin im Kaninchenstall, einem heruntergekommenen Wohnblock in der fiktiven Stadt Vacca Vale, Indiana. Mitten im »Rust Belt«, in den ehemaligen Industriehochburgen, wo die Zukunftsaussichten heute gegen null gehen. Die 18-Jährige hat bereits einiges hinter sich, von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben, beginnt sie ein Verhältnis mit ihrem Musiklehrer, bricht die Schule ab, obwohl sie als hochintelligent gilt. Sie arbeitet in einem Diner als Bedienung und wohnt mit drei jungen Kerlen zusammen, die aus Spaß Tiere töten und ständig high sind. Das kontaktscheue Mädchen ist der Mystikerin H. v. Bingen verfallen und träumt davon, ihren Körper zu verlassen. In dem Moment, wo sie es tatsächlich tut, startet die Geschichte und wir machen einen Schwenk quer durch die verschiedenen Appartements voller hoffnungsloser Existenzen, die, nur getrennt durch papierdünne Wände, nicht umhinkommen, am Leben ihrer Nachbarn teilzuhaben. Eine psychisch kranke Mutter, die Angst vor den Augen ihres Babys hat; ein verzweifelter Mann, der ein Online-Date sucht und nur Ablehnung erfährt; eine Frau, die auf einem Online-Portal für Nachrufe Kommentare moderiert und am liebsten ungesehen bleiben will.
Hinzu kommt eine ehemalige Hollywood-Kinderschauspielerin, die ihren eigenen Nachruf schreibt und ihr Sohn, der als »fluoreszierender Mann« einen Racheakt plant. Und, und, und.
All die Schicksale rasen mit immenser Geschwindigkeit auf sich zu und kehren zu dem Moment zurück, als Blandine ihren Körper verlässt.
Was sich verrückt anhört, ist es auch. Und ich brauchte drei Anläufe, um in die Geschichte zu finden. Im 1. Drittel hatte ich nur Fragezeichen im Kopf und ich kann gut verstehen, wenn viele das Buch frühzeitig abbrechen. Im letzten Drittel wurde es besser, was mich etwas besänftigt hat. Vollgepackt mit bissiger Gesellschaftskritik, von Machtmissbrauch, sozialer Ungerechtigkeit, Chancenlosigkeit bis hin zu falschen Versprechungen der Politik fühlte sich das wie eine rasante Achterbahnfahrt an.

Guntys Blickwinkel auf die gescheiterten Existenzen ist ein anderer, wenig Empathie erzeugender, deprimierender Blick. Sie will aufrütteln, provozieren, das gelingt ihr sicher auch. Ja, es ist schrill, hier wird das Stilmittel der Übertreibungen ausgereizt, hier wird mit Textstilen gespielt, was letztlich auch Sinn macht, da Reizüberflutung eine große Rolle spielt, Internet, TV, Werbung, alles prasselt unaufhörlich, ungefiltert auf die Menschen ein. Hier wird zwischen den Perspektiven gesprungen, in der Chronologie, im Erzählstil – das erfordert Aufmerksamkeit, sonst endet es im Chaos. Das, was Gunty hier macht, ist sicher innovativ und modern, bleibt aber Geschmacksache.
Tess Gunty hat unumstritten Talent. Manche Kapitel sind rhetorisch so stark, dass ich pausenlos zitieren könnte. Doch die Kluft zu anderen Kapiteln wird damit um so größer, in denen die Vergleiche hinken, die Formulierungen angestrengt originell sein wollen. Und dann die pausenlosen Aufzählungen und Wiederholungen, puh. Das wurde mir mit der Zeit zu anstrengend. Insgesamt hinterlässt es bei mir den Eindruck, als seien die einzelnen Geschichten unabhängig voneinander entstanden und hinterher zusammengefügt worden.
Dann schweift sie wieder ab, will viel, manchmal zu viel, findet spät zu Blandine zurück. Vielleicht bin ich da altmodisch, aber fragmentierte Geschichten, die sich als experimentelles Konstrukt erweisen, sind nichts für mich. Ihr komplettes freakig, absurdes Figuren-Panoptikum agiert für sich und scheint nur geschaffen, um all die großen Themen eines Gesellschaftsromans unterzubringen. Zum Teil zeigt sie es sehr eindrucksvoll, andere Szenen waren für mich total überflüssig, weil sie zu nichts führen. Sprachlich grenzen sich die Figuren nicht voneinander ab und manche langweilten mich, sodass ich ganze Kapitel quer gelesen habe.

Vielleicht war es etwas zu überambitioniert, was mich am Ende völlig erschlagen hat. Leider konnte mich die Geschichte emotional nicht erreichen.
Mich hatte die Sichtweise einer jungen Autorin auf das Thema der aussterbenden Industriestädte interessiert im Gegensatz zu Russo, den ich inzwischen zu schätzen weiß und zu dem ich auch zurückkehren werden.
Wie gesagt, es ist einfach Geschmacksache.

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