Überzeugender, multiperspektivischer Roman über Demenz
Solange wir schwimmenIn ihrem 160 Seiten dünnen Roman, erschafft Julie Otsuka, amerikanische Autorin mit japanischen Wurzeln, das Bild von einer dich auflösenden Person. Diese ist Alice, wohl nahe an der Mutter der Autorin ...
In ihrem 160 Seiten dünnen Roman, erschafft Julie Otsuka, amerikanische Autorin mit japanischen Wurzeln, das Bild von einer dich auflösenden Person. Diese ist Alice, wohl nahe an der Mutter der Autorin angelegt, welche an einer Frontotemporalen Demenz erkrankt und zunehmenden ihren Platz in der Welt verliert. Solange Alice noch regelmäßig mit einer eingeschworenen Truppe in einem unterirdischen Schwimmbad schwamm, gehörte sie noch dazu, zur Gemeinschaft, zur Gesellschaft. Aber dann erscheint ein Riss im Schwimmbecken und das Schwimmbad wird für immer geschlossen. Mit dem Verlust der Routine scheint sich auch Alice‘ Zustand zu verschlechtern, sie muss ins Pflegeheim und die Tochter kämpft mit ihrem schlechten Gewissen bezüglich dessen, was sie alles im Umgang mit der Mutter versäumt hat.
Nun könnte der vorliegende Roman einer sein, der in denen Kanon thematisch ähnlicher Veröffentlichungen der letzten Jahre passt. Er sticht jedoch ganz klar durch seine stilistischen Mittel heraus. Zum einen nutzt die Autorin sehr kurze, nur scheinbar simple Sätze jedoch mit vielen Aufzählungen, um tiefgründige Sachverhalte, Gefühle und Gedanken darzulegen. Zum anderen – und das ist hier das Meisterhafte am Roman – nutzt die Autorin in jedem Kapitel eine neue Erzählperspektive. Lernen wir noch das Schwimmbad aus der „Wir“-Perspektive kennen und erleben das Auftauchen des Risses, gehören auch wir noch zur Gemeinschaft dazu. Danach wechseln wir in die „Sie“-Perspektive (personal), durch welche wir die zunehmenden kognitiven Einschränkungen von Alice mit einem gewissen erzählerischen Abstand, aber nicht minder intensiv, aufgezeigt bekommen. Gerade die Wiederholungen der Aufzählungen sind hier herausragend, da sie das Davor mit dem Währenddessen bzw. Danach vergleicht. Dann schlüpfen wir in eine ganz ungewohnte Perspektive, die „Sie“-Perspektive (Höflichkeitsform). Denn nun werden wir direkt wie in einem Werbevideo oder Werbeprospekt für ein Pflegeheim von den Betreibern angesprochen. Es werden uns die vermeintlichen Vorteile des Heims angepriesen. Und trotzdem merken wir schnell: Das ist kein Ort, an dem wir leben wollen würden. Alice‘ muss es aber aufgrund ihrer Erkrankung. Und zuletzt spricht sich die Autorin mit der „Du“-Perspektive quasi selbst als Tochter an. Sie macht sich Vorwürfe, erinnert sich an Momente mit ihrer Mutter, verarbeitet, was das Verschwinden ihrer Mutter obwohl sie physisch zunächst noch anwesend ist, mit ihr macht.
Meines Erachtens geht die Autorin in ihrem Welt nicht nur äußerst kreativ die Thematik der Veränderung eines Umfeldes und einer Person durch die Erkrankung einer Demenz an, sondern gleichzeitig mit ganz feinem Humor und auch Zärtlichkeit. Selbst im sehr kritischen Kapitel zum Pflegeheim scheint immer wieder diese Zärtlichkeit durch die Werbementalität hindurch. Das Kapitel übt Kritik am System aber nicht an den Menschen darin. Und gleichzeitig ist es zum schreien komisch, wenn die Autorin die Mechanismen aufs Korn nimmt.
Ich bin absolut angetan von diesem kleinen Büchlein. Und ich betone gleich mal das "kleine Büchlein", denn mit dieser Kürze von nur 160 Seiten passt für mich alles. Es ist eine Länge, die dieses schwere Thema aushalten lässt. Es ist aber auch eine Länge, die die Besonderheiten des Sprachstils, nämlich der ungewöhnlichen Perspektiven und der Aufzählungen, gerade nicht anstrengend werden lässt. Die kurzen Sätze und die Kürze des Romans erscheinen da ebenso passend. Demnach hat die Autorin mich sprachlich vollends von ihrem Können überzeugt. Inhaltlich ebenso, denn sie schafft es auf ganz vielseitige Weise Blicke auf die Erschütterungen zu werfen, die eine Demenzerkrankung auf nicht nur einen Menschen, sondern auch sein Umfeld auslöst. Ich habe das Gefühl, dass die Autorin immer mehr rangezoomt hat und zwar letztlich auf sich selbst als Angehörige. Wir beginnen ganz breit gefächert mit dem Schwimmbad und den Menschen (WIR) darin. Es wird klar, dass es einen Riss gibt. Dieser führt zur Hospitalisierung (das SIE in der Höflichkeitsform), dann fliegen wir an Alice vorbei und beobachten sie (bleiben aber in der SIE-Form, die Alice meint) und zoomen dann heran an die Tochter (DU), die damit ganz nah an eigene Versäumnisse, Vorwürfe aber auch schöne Erinnerungen herantritt. Toll gemacht!
Mich konnte die Autorin von Seite Eins an mit ihrem kleinen, aber feinen Roman unglaublich berühren. Häufig standen mir die Tränen in den Augen. Deshalb bekommt dieser Roman in der wunderbaren Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz auch die volle Punktzahl von mir. Ein Highlight, welches ich nicht so schnell vergessen werde.
5/5 Sterne