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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.09.2023

Heilung ist möglich

Tage im warmen Licht
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Nach dem Tod ihrer Großmutter hat Maria deren Haus in einer bayerischen Kleinstadt geerbt. Sie zieht mit ihrer Tochter Linnea dort ein. In diesem Ort ist sie aufgewachsen, nun kehrt sie zurück. Linnea ...

Nach dem Tod ihrer Großmutter hat Maria deren Haus in einer bayerischen Kleinstadt geerbt. Sie zieht mit ihrer Tochter Linnea dort ein. In diesem Ort ist sie aufgewachsen, nun kehrt sie zurück. Linnea geht auf die örtliche Schule, und Maria sucht Arbeit. Doch immer wieder wird sie mit der Vergangenheit konfrontiert: Etwas Schlimmes passierte damals. Das ist nun über zwanzig Jahre her, aber die Erinnerung wird nach und nach aufgeblättert und in Rückblenden sehr dicht erzählt.
Das Dorf scheint ein Idyll zu sein. Die Autorin porträtiert die Menschen warmherzig und in einer sehr ruhigen Sprache. Beim Lesen kann man hineinsinken wie in eine weiche Decke. Ein echter Wohlfühlroman, aber das Thema, um das es schließlich geht, ist es nicht. Dass es sogar eine Frauen-Selbsthilfe-Gruppe im Ort gibt, erscheint zuerst etwas konstruiert. Doch es wird schließlich gut begründet und Maria bekommt genau das, was sie gerade braucht.
Immer wieder durchlebt Maria sehr emotionale Erinnerungen an damals. Das ganze Buch hindurch gibt es diesen Spannungsbogen, der auf die Aufklärung hinläuft. Man kann früh erahnen, worum es sich handelt, aber das tut der Spannung keinen Abbruch. Und als die schlimme Geschichte erzählt wird, ist sie so glaubwürdig und normal und furchtbar, wie sie nur sein kann.
Das Aufbrechen der unterdrückten Erinnerung und auch die Verstörung, die in Maria immer noch da ist, sind sehr nachvollziehbar. Sie führen zu verwirrenden Entscheidungen und Ausbrüchen, unter denen besonders die Tochter Linnea leidet. Doch Heilung ist möglich. Am Ende geht sie die ersten Schritte.
Ein Frauenbuch über Freundschaft und alte Verletzungen. Es ist hochaktuell und politisch.

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Veröffentlicht am 14.08.2023

Nach dem Faschismus

Die Akte Madrid
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Das Bild, das schon in „Das neunte Gemälde‟ gesucht wurde, ist nun aufgetaucht aber sofort wieder verschwunden. Kunstexperte Lomberg wird von einem deutschen Minister beauftragt, es wiederzufinden. Dieses ...

Das Bild, das schon in „Das neunte Gemälde‟ gesucht wurde, ist nun aufgetaucht aber sofort wieder verschwunden. Kunstexperte Lomberg wird von einem deutschen Minister beauftragt, es wiederzufinden. Dieses Buch lässt sich auch ohne Kenntnis des ersten Bandes lesen. Aber es geht hier nur vordergründig um ein Kunstwerk. Denn es handelt sich um Beutekunst. Damit führen die Ermittlungen tief in die Geschichte und in den Faschismus in Deutschland und Spanien hinein.
Es ist ein echter Thriller. Es geht Schlag auf Schlag: Jede Szene treibt die Handlung voran. Dabei ist sehr hilfreich, dass sie alle mit Ort und Zeit überschrieben sind. Es gibt außerdem ein Personenverzeichnis im Anhang. Hier erfährt man auch genau, wen es wirklich gegeben hat und wer fiktiv ist.
Man muss sehr aufmerksam lesen, damit einem nichts entgeht. Dies ist kein Buch zum gemütlichen Drinversinken, sondern zum Mitdenken, aber es lohnt sich wirklich. Es ist in einem fort spannend. Man wird hineinversetzt in die deutsche Nachkriegszeit und kommt den Menschen nah, die damals politsche Verantwortung trugen und missbrauchten. Ähnlich in Spanien, das ohne das nach(?)faschistische Deutschland vielleicht keine Francodiktatur gehabt hätte.
Die Geschichte ist toll erzählt. Spannend weil man die Menschen zunächst nicht durchschaut. Wer hat welches Interesse, welchen Bezug? Und immer wieder ist jemand ein anderer als erwartet. Es gibt überraschende Wendungen, und so klar wie das ganze Buch sich liest, so klar endet die Geschichte selber nicht – sondern anders als erwartet. Großartig.

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Veröffentlicht am 01.07.2023

Sehr menschlich

Patria
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Die Geschichte spielt in einem Dorf im Baskenland. Zwei Familien stehen im Mittelpunkt, ebenso der bewaffnete Kampf der ETA um die Unabhängigkeit des Baskenlandes.
Es ist mit über 750 Seiten ein ziemlich ...

Die Geschichte spielt in einem Dorf im Baskenland. Zwei Familien stehen im Mittelpunkt, ebenso der bewaffnete Kampf der ETA um die Unabhängigkeit des Baskenlandes.
Es ist mit über 750 Seiten ein ziemlich dickes Ding. Nach dem „Mauersegler‟ war ich eigentlich kein Fan dieses Autors, aber dieses Buch ist großartig.
Die beiden Familien umfassen neun Personen, die wir alle sehr genau kennen lernen. Bei jeder Figur, ob alt oder jung, Mann oder Frau, sind wir so sehr mittendrin, dass Erzähler und Hauptperson verschmelzen – teilweise innerhalb eines Satzes wechselt Amraburu von Er zum Ich. Das macht viele Stellen sehr dicht.
Das zentrale Ereignis ist zu Beginn des Buches bereits passiert, aber wie kam es dazu, wie wirkt es sich aus, und wie reagieren die einzelnen Personen darauf? Darin besteht der Gehalt und die Stärke dieses Buches. Um den einzelnen Personen und Umständen nahe zu kommen, springt die Geschichte zeitlich hin und her. Doch man weiß immer genau, an welcher Stelle der Geschiche man sich gerade befindet. Es geht um Menschen, nicht um Spannung. Und das macht Aramburu sehr gut. Es wird trotz der Länge auch nicht langweilig, denn es gibt eine Entwicklung, bis ganz zum Schluss.
Die ETA war eine Terror-Organisation, ursprünglich als Widerstand gegen die Franco-Diktatur und für ein autonomes Baskenland gegründet. Obwohl es seit 1977 freie Wahlen in Spanien gab, mordete die ETA weiter. Warum sie das tat, wird in „Patria‟ nicht thematisiert. Hier geht es um die Folgen und wie es dazu kam, dass Nachbarn einander töteten, Freunde einander nicht mehr auf der Straße grüßten und dass Menschen ihr Zuhause verlassen mussten. Diese Auswirkungen von Ideologie und Glauben sind an vielen Stellen so traurig, dass man weinen könnte.
Sehr glaubhaft, sehr menschlich.

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Veröffentlicht am 19.05.2023

Menschen im Klimawandel

Blue Skies
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In Kalifornien sind die Temperaturen auf 37 Grad Celsius gestiegen – vormittags, an der Küste. Weiter im Inland wird es auch mal an die fünfzig Grad heiß. Am anderen Ende des Kontinents, in Florida, gießt ...

In Kalifornien sind die Temperaturen auf 37 Grad Celsius gestiegen – vormittags, an der Küste. Weiter im Inland wird es auch mal an die fünfzig Grad heiß. Am anderen Ende des Kontinents, in Florida, gießt es unablässig, und der Meeresspiegel steigt mit der Flut. Wir sind mitten in der Klimakatastrophe. Boyle schildert den Alltag einiger Personen, die hier leben. Ein Datum, wann es soweit sein könnte, nennt er nicht. Es könnte heute sein.
Boyle taucht auf eine Art in seine Figuren ein, wie das außer ihm kaum jemand kann: Man identifiziert sich sofort mit ihnen, auch wenn es Verbrecher oder Langweiler sind, oder eben Menschen, die ihren Lebensstil beizubehalten versuchen mit Swimmingpool, Klimaanlage, Flügen und großen Autos, dabei Strom und Wasser sparen und sich bemühen, weniger Fleisch zu essen. Die Menschen wirken authentisch, auch wenn ihre Handlungen noch so unlogisch sind. Sie sind komplex und vielschichtig.
Protagonist der Geschichte ist die Natur, die sich wandelnden Ökosysteme. Die Personen heiraten, bekommen Kinder, sie erleben Todesfälle, schwere Verletzungen, Trennungen. Doch ihren Alltag leben sie unverändert weiter, egal was geschieht. Irgendwann muss man eben das Boot nehmen, um die Tochter zur Schule zu bringen. Und wenn jemand bei Tisch einen Hitzschlag erleidet, ist es gut, einen Arzt im Haus zu haben. Und einen Pool.
Das ist gewürzt mit überraschenden (Wort-)Ideen. Da ist die Möwe, die bei einer Seebestattung zu verstehen versucht, was sie dort sieht. Da ist die Angestellte am Flughafen, die sich mit der Geschwindigkeit eines Gletschers bewegt. Boyles Stil ist liebevolle Hinwendung zu seinen Charakteren, und zugleich spöttische Beobachtung und gut recherchierter Hintergrund. Das macht immer wieder Spaß. Lesen!

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Veröffentlicht am 05.04.2023

Sehr spannende Science-Fiction für Jugendliche

Die letzte Erzählerin
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"Du trägst mich und meine Geschichten durch die Jahrhunderte in die Zukunft, zu einem anderen Planeten. Da kann ich mich glücklich schätzen."

Ein Komet bedroht die Erde. Drei Raumschiffe voller Menschen ...

"Du trägst mich und meine Geschichten durch die Jahrhunderte in die Zukunft, zu einem anderen Planeten. Da kann ich mich glücklich schätzen."

Ein Komet bedroht die Erde. Drei Raumschiffe voller Menschen fliehen auf einen fernen Planeten, darunter die dreizehnjährige Petra, ihr kleiner Bruder Javier und ihre Eltern. Sie werden für Jahrhunderte in tiefen Schlaf versetzt, bis das Reiseziel erreicht ist. Doch als Petra erwacht, sind ihre Eltern verschwunden und niemand erinnert sich mehr an die Erde. In der Gesellschaft, zu der die Besatzung des Raumschiffes geworden ist, zählt nur noch das "Kollektiv". Erinnerung und Individualität sind so gut wie ausgerottet. Doch Petra erinnert sich an Geschichten, die ihre Großmutter auf der Erde ihr erzählt hat. Schon bald weiß sie sich zu schützen und erzählt die Geschichten weiter.

Die Autorin hat schon einige Kinder- und Jugendbücher geschrieben und auch Preise gewonnen. Das Buch ist schön ausgestattet mit einem ausgefallenen Cover, Lesebändchen, geschmücktem Innenteil und farbigem Buchschnitt.

Die Geschichte ist sehr spannend erzählt und erlebt überraschende Wendungen, die Petra immer wieder vor neue Herausforderungen stellen.
Die Sprache ist gut lesbar, bildhaft und emotional. Es gibt berührende Szenen, wenn zum Beispiel Petra sich an ihre Großmutter erinnert, die sie sehr geliebt hat, aber auf der Erde zurücklassen musste. Auch die Erinnerung an ihre Familie ist eher traurig, denn auch die gibt es nicht mehr. Petra ist allein. Doch sie entwickelt sich von einem verschreckten, alleingelassenen Kind zu einer mitfühlenden, verantwortungsvollen Anführerin, die eine Flucht plant. Das ist fesselnd bis zur letzten Seite. Eine beeindruckende Heldin. Und auch die anderen Figuren sind glaubhaft und authentisch dargestellt.

Faszinierend ist die Idee, welche Funktion Geschichten für den Einzelnen haben. Sie bewegen uns, wir wissen mit ihrer Hilfe, wer wir sind und wo wir stehen. Und doch erzählt sie jede und jeder mit Recht ganz neu. Da darf sich auch die Handlung ändern, alles kann neu und anders werden, wenn es nur hilft, die neue Situation zu bewältigen und zu verstehen. Petra erzählt die Geschichten ihrer Großmutter, und ".. von jetzt an lebt die Geschichte durch mich und in meiner Version weiter."

Fazit: Ein spannendes Jugendbuch mit einer mutigen Heldin in einer dystopischen aber nicht hoffnungslosen Zukunft. Denn solange wir Geschichten haben, haben wir als Menschen eine Zukunft.

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