Die Schildkröten sind Programm
Es ist eigentlich eine Geschichte, wie Buchliebhaber:innen sie lieben: Sarah ist „Bücherjägerin“, und nach dem Tod ihrer Tante Amalia macht sie sich gemeinsam mit dem britischen Bibliothekar Benjamin auf ...
Es ist eigentlich eine Geschichte, wie Buchliebhaber:innen sie lieben: Sarah ist „Bücherjägerin“, und nach dem Tod ihrer Tante Amalia macht sie sich gemeinsam mit dem britischen Bibliothekar Benjamin auf die Jagd nach einer verschollenen Karte. Es ist das verloren geglaubte 12. Segment der legendären Tabula Peutingeriana, und mit dem Erlös hofft Sarah, das von ihrer Tante geerbte Antiquariat sanieren und retten zu können.
Damit sind alle Zutaten bereit, um eine klassische Heldenreise oder einen modernen Roadtrip einzuläuten. Und tatsächlich brechen Sarah und Benjamin auf und reisen nach Frankreich und weiter nach England. Doch nur weil jemand auf der Straße fährt, wird dies noch nicht zum Roadtrip. Denn die Autorin fährt, um beim Bild zu bleiben, leider mit angezogener Handbremse. Die Bestandteile sind da, das Ziel ist vorgegeben, doch leider fehlt das aufregende Gefühl des Aufbruchs in eine neue Geschichte. Vielmehr orientiert sich die Handlung an Tempo und Leidenschaft an zwei putzigen Nebenfiguren, den Schildkröten Bonnie und Clyde. Genauso vorsichtig und gemächlich kommt die Geschichte nämlich voran. Und ja, es ist nett, Schildkröten zu beobachten oder die Reise von Sarah und Benjamin, aber beides löst eben keine Begeisterungsstürme aus, sondern liefert solide Unterhaltung. Da hätte ich mir mehr Mut gewünscht, um diese Geschäftsreise zur Heldenreise werden zu lassen.
Dazu kommt, dass uns die Autorin mit Sarah in ihrem Debüt eine recht unrunde Protagonistin vorsetzt. Das ist an sich eine hervorragende Voraussetzung für spannende Begebenheiten und Konflikte. Das Problem ist jedoch, dass die in sich widersprüchliche Protagonistin sich nicht greifen und für mich als Leserin damit leider nicht fühlen lässt. Sarah wird mit autistischen Zügen angedeutet, lebt dann jedoch während des Studiums fröhlich in einer lauten WG. Immer wieder wird beschrieben, wie schlecht sie mit Menschen zurechtkommt und diese deuten kann, wozu jedoch die geschilderte frühere Beziehung in keinster Weise passen mag. Dies alles macht die Heldin unzugänglich und lässt sie fremd bleiben.
Hervorragend gelungen ist hingegen die Figur des Benjamin, der nicht nur einen schlüssigen Charakter aufweist, sondern durch seinen Background wahnsinnig wichtige reflektorische Arbeit zulässt, was zum Beispiel die Wahrnehmung von Musik und Literatur in Bezug auf People of Color betrifft. Diese Ausführungen fand ich äußerst wichtig und gelungen.
Ein wenig irritiert war ich über das Nachwort der Autorin, in dem sie sich pauschal für alle Formen von Rassismus, Diskriminierung etc. entschuldigt, während sie sich im Roman konsequent negativ über die Briten auslässt, sich ein Urteil über deren Politik etc. erlaubt und immer wieder an dem Witz versucht, dass die Engländer auf der falschen Seite fahren würden, was mich im Hinblick auf freundschaftliche Beziehungen nach Großbritannien mit Fremdscham belegt hat. Es scheint also eine Entschuldigung für alle Diskriminierungen außer gegenüber den Briten zu sein.
Abschließend möchte ich feststellen, dass „Des Rätsels Lösung“, wie es im Roman heißt, ein Kinderrätsel von solch banaler Simplizität ist, dass es eigentlich schon wieder hervorragend in den Kontext passt. Meine jüngste Tochter hatte in der Grundschule großen Spaß mit dieser Art von Rätsel.