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Veröffentlicht am 31.08.2017

Wundervoll bestürzend geschrieben

Die Tänzerin von Paris
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Dieser Roman hat aufgrund des Covers und des Titels mein Interesse geweckt. Da ich selbst Tänzerin bin und vor kurzem erst in Paris war, habe ich ohne zu zögern zugegriffen. James Joyce steht zwar in meinem ...

Dieser Roman hat aufgrund des Covers und des Titels mein Interesse geweckt. Da ich selbst Tänzerin bin und vor kurzem erst in Paris war, habe ich ohne zu zögern zugegriffen. James Joyce steht zwar in meinem Regal, doch gelesen habe ich ihn nie, entsprechend wusste ich nicht, worauf ich mich bei einem biografischen Roman über seine Tochter einlassen würde. Nach der Lektüre ihres tragischen Schicksals blieb ich mehr als verstört und betroffen zurück. Ich empfehle euch also, eine Decke und eine Tasse heißen Tees zu nehmen, denn auch eine Besprechung dieses Romans wird nicht leicht.



Segen und Fluch der Psychoanalyse

Die Geschichte eröffnet mit einer Szene im Jahr 1934 in Zürich, also nach den Ereignissen, um die es im Buch größtenteils gehen wird. Wir sehen Lucia Joyce in einer Therapiesitzung bei C. G. Jung, einem ehemaligen Wegbegleiter von Sigmund Freud, der sich jedoch zum Zeitpunkt dieser Therapie bereits von ihm abgewandt hatte. Hier erscheint Lucia verwirrt und merkwürdig fixiert auf Kleinigkeiten, die für den Leser noch rätselhaft bleiben. Dieser Epilog führt auf gelungene Weise dazu, dass man sich während der gesamten Erzählung bewusst ist, dass die junge Frau an tiefgreifenden psychischen Problemen leidet oder leiden wird. Das Lesen geschieht also von Anfang an unter besonderen Vorzeichen.

Jung ist von Beginn an darauf fokussiert, Lucia von ihrem Vater James Joyce zu lösen. Er nimmt in einer Szene, die es mir kalt den Rücken runter laufen ließ, das Wort der Übertragung in den Mund und erklärte ihr, nur wenn ihr Vater Zürich (und damit sie) verlässt, kann eine Übertragung ihrer Gefühle für den Vater auf ihn, den Therapeuten stattfinden. Aus meinem Verständnis der Psychologie heraus ist eine Übertragung, insbesondere auf den Therapeuten, genau das Gegenteil dessen, was man erreichen will. Die Methoden der frühen Psychoanalyse scheinen mir mehr als ungeeignet für eine Heilung, entsprechend unwohl fühlte ich mich bei jeder Szene zwischen Lucia und Doktor Jung. Sie begleiten das Buch, da die eigentliche Geschichte die Erzählungen Lucias für Jung sind, und sie liefern auch wichtige Einblicke in das, was die tragischen Ereignisse ausgelöst hat. Dennoch wurde mir zunehmend übel, körperlich übel, wann immer eine Therapiesitzung eingebaut wurde.



Der lange Schatten des Vaters

Die eigentliche Geschichte spielt im Paris Anfang der 1920er Jahre, erzählt aus der Ich-Perspektive von Lucia Joyce. Sie ist eine talentierte Tänzerin, hat ein stabiles, soziales Umfeld und hilft zu Hause aus, wo sie nur kann. Ihr berühmter Vater, James Joyce, hat ein Augenleiden, dass ihn zunehmenden erblinden lässt, so dass er auf die Hilfe seiner Tochter und einiger williger Schmeichler, wie Lucia sie nennt, angewiesen ist. Einer davon ist Samuel Beckett, ein ebenfalls aus Irland stammender Schriftsteller, der auf den ersten Blick ihre Liebe auf sich zieht.

Obwohl das Paris der zwanziger Jahre eine freie, zügellose Stadt ist, wächst Lucia in einem strengen, irisch-katholischen Elternhaus auf, so dass sie emotional und sexuell völlig unerfahren ist. Während sie im Tanzen immer erfolgreicher wird, steigert sie sich zunehmend in ihre Liebe zu Beckett hinein, der ihr auch das ein oder andere Mal körperlich Nahe kommt. Hier zeigt sich die Macht eines unzuverlässigen Ich-Erzählers: Beinahe mühelos gelingt es Annabel Abbs, dem Leser vorzugaukeln, dass Beckett die Gefühle erwidert, während gleichzeitig stets unterschwellige Zweifel vorhanden sind, da man spürt, wie einseitig die Beobachtungen Lucias sind.

Gleichzeitig kämpft sie mit ihrem berühmten Vater und der Mutter, die das ganze Leben nur auf das Wohlergehen des Vaters ausrichtet. Wo Lucia tanzen will, schlagen die Eltern vor, sie könnte das Bücherbinden lernen, um dem Vater zu helfen. Wenn sie tanzt, dann wünscht sich ihr Vater, dass sie es nur für ihn tut, nicht öffentlich, damit er von ihr inspiriert werden kann. Wann immer sie eigenständige Entscheidungen treffen will oder unabhängig von der Familie leben möchte, redet insbesondere ihre Mutter ihr ins Gewissen, dass sie den Vater nicht im Stich lassen kann, dass er sie braucht, sowohl pragmatisch als auch als Muse. Verzweifelt sieht man zu, wie sich darüber in Lucia ein immer größerer Hass auf die Mutter aufbaut, wie sie aber gleichzeitig immer wieder nachgibt und den Wünschen des Vaters nachkommt. Sie sieht sich selbst als Sprössling im Schatten einer uralten, mächtigen Platane.



Vergiftete Familienbeziehungen

Familienbande sind Segen und Fluch zugleich. Nichts kann einem mehr Halt geben als das Wissen, dass die Eltern und die Geschwister immer und vorbehaltlos da sind, wann immer man sie braucht. Sie spenden Geborgenheit, sie kennen die tiefsten seelischen Leiden, sie lieben ohne Vorurteil. Genauso leicht kann die Beziehung zur Familie jedoch umkippen. Das Beispiel von Lucia zeigt tragisch und verstörend, wie diese eigentlich durch Liebe geprägte Beziehung vollkommen vergiftet wird. Wenn die Familienmitglieder nicht ebenbürtig sind, wenn die Wünsche der Kinder den Ambitionen der Eltern geopfert werden, wenn die Kinder ihren Wert beweisen müssen, statt bedingungslose Liebe zu erfahren, dann wird die Familie zum Gefängnis.

Der Gegensatz zwischen Pariser Bohème und dem strengen Leben der Familie Joyce sind drastisch. Immer wieder muss sich Lucia beispielsweise von ihrer Mutter anhören, dass in Irland nur Schlampen und Huren tanzen. Das Thema der Scham wird subtil immer wieder im Roman aufgegriffen, denn auch wenn Lucia es selbst selten so nennt, entspringt viel ihrer Wut aus einem für sie nicht fassbaren Schamgefühl heraus. Während ihre Eltern sehr daran interessiert sind, die öffentlichen Gesangsauftritte ihres Bruders Giorgio zu besuchen, schämen sie sich beinahe für die Tanzauftritte der Tochter. Es ist Lucia von Beginn an unmöglich, ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen. Die unterdrückten Kindheitserinnerungen, die Jung auszugraben versucht, tun ihr Übriges, um Lucias Erwachsenenleben ins Dunkel zu werfen.

Es ist bemerkenswert, wie eindringlich Abbs diesen problematischen Komplex beschreibt, ohne dass man sich von der Psychoanalyse-Keule erschlagen fühlt. Ihr Schreibstil – und die grandiose Übersetzung durch Ulrike Seeberger – sind angemessen glamourös und bildgewaltig, aber auch einfühlsam und leise, wenn es sein muss. Zunächst unbemerkt schleicht sich immer mehr das in Lucias Betrachtungen ein, was in der damaligen Zeit gerne als Neurose bei Frauen beschrieben wurde. Abbs Schreibstil erlaubt es, dass wir uns das lebendige Paris ebenso wie die beklemmende Enge der Joyce’schen Wohnung plastisch vorstellen können.



Ein paar Kritikpunkte zum Schluss

Das Buch ist mir über 500 Seiten sehr lang, dennoch bekam ich zum Ende hin das Gefühl, dass die Autorin zu schnell vorging. Neue Personen tauchten auf und ehe ich sie einordnen konnte, waren sie schon wieder verschwunden. Das steht in einem deutlichen Kontrast zum Anfang, wo manche Passagen beinahe zu ausführlich wirkten. Zudem wirkte insbesondere eine Figur auf merkwürdige Weise unbeteiligt, obwohl der Charakter zentral war. Hier hätte ich mir zumindest Andeutungen einer Beteiligung gewünscht, damit die Aufklärung, was das Kindheitstrauma war, ein wenig schlüssiger gewirkt hätte. Die Autorin hat gekonnt eine falsche Spur gelegt, doch dabei scheint es beinahe, dass sie sämtliche Beziehungen gekappt hat, auch jene, die notwendig gewesen wären.

Darüber hinaus finden sich einige kleinere Logikfehler, die leicht vermeidbar gewesen wären oder, falls sie absichtlich vorhanden waren, ein wenig besser erklärt hätten werden sollen. So erfahren wir beispielsweise auf der einen Seite, dass die Mutter kaum Lesen und Schreiben kann, während sie aber andererseits sehr wohl Briefe geschrieben hat – und zwar Briefe, die sie definitiv nicht von einem Schreiber hätte anfertigen lassen. Der Roman ist faszinierend tiefgründig recherchiert, da fallen solche Fehler leider besonders auf. Aber für den Genuss der Geschichte selbst ist es glücklicherweise nicht erheblich.



FAZIT:

Der Roman „Die Tänzerin von Paris“ von Annabel Abbs ist die verstörende, tragische Lebensgeschichte von Lucia, der Tochter des großen James Joyce. Mit ihrer bildgewaltigen Sprache schafft die Autorin es, uns das wilde Leben im Paris der zwanziger Jahre, aber auch das strenge Leben in dem irisch-katholischen Haushalt der Joyce-Familie näherzubringen. Emotional aufwühlend und eindringlich erleben wir den seelischen Niedergang von Lucia mit. Am Ende dieses Buches war ich völlig verstört, aber auch nachdenklich und interessiert daran, mehr über alle auftretenden Personen zu erfahren. Man muss sich auf dieses Buch einlassen, um es genießen zu können, doch wer offen und interessiert ist, wird definitiv belohnt.

Veröffentlicht am 08.08.2017

Ein Thriller mit erstaunlichem Tiefgang

Heartware
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Bevor ich mit meiner Rezension beginne, warne ich vor leichten Spoilern, die der Text beinhalten wird. Ich werde nicht über den Fortgang der Handlung sprechen, aber zentrale Thematiken, die erst später ...

Bevor ich mit meiner Rezension beginne, warne ich vor leichten Spoilern, die der Text beinhalten wird. Ich werde nicht über den Fortgang der Handlung sprechen, aber zentrale Thematiken, die erst später im Buch erörtert werden, aufgreifen. Wer also wirklich gar nichts über diesen Roman wissen möchte, sollte hier nicht weiterlesen. Alle anderen lade ich dazu ein, sich eine Tasse Kaffee zu schnappen, es sich in einem Sessel gemütlich zu machen und die höchste Aufmerksamkeitsstufe zu aktivieren - wir haben viel zu besprechen, denn dieser Thriller ist keine leichte Kost. Entsprechend schreibe ich auch keine klassische Rezension zu diesem Buch, sondern eher eine Besprechung mit Diskussion.



Die Definition der Freiheit

Wir sind alle Geschöpfe Gottes, sagt die Philosophin Catharine Macaulay (02.04.1731 - 22.06.1791). Als er uns geschaffen hat, hat Gott uns allen die Vernunft geschenkt. Mit Hilfe dieser Vernunft, so ist es Gottes Wille, sind wir in der Lage, gut und böse zu unterscheiden und uns für das Gute zu entscheiden. Als Anhängerin des Postmillenialism geht Macaulay davon aus, dass der einzelne Mensch und die Menschheit als Ganze stetig tugendhafter wird, bis schließlich alle Menschen tugendhaft sind und ein tausendjähriges Reich Gottes voller Glück auf uns wartet, eingeläutet vom zweiten Erscheinen von Christus. Sie hielt die Französische Revolution für den Beginn dieses tausendjährigen Reiches und verstarb, ehe sie die grausame Wendung miterleben konnte. Zentraler Kern ihrer Philosophie ist, dass Gott uns den freien Willen gegeben hat, so dass wir uns zwischen gut und böse entscheiden können. Dass es das Böse gibt, liegt daran, dass wir nur im Kampf gegen das Böse zu wahrer Tugendhaftigkeit gelangen können. Das Gute wiederum ist der Wille Gottes. Ihn zu erkennen bedeutet, Freiheit zu erfahren. Der wahrhaft freie Mensch wird sich also immer für das Gute entscheiden. Wer sich für das Böse entscheidet, ist nicht frei. In Macaulays Lehre ist es dem vernünftigen Menschen unmöglich, sich nicht für das Gute zu entscheiden. Und weil das so ist, ist es unaufhaltsam, dass wir den Zustand weltweiter, endgültiger Glückseligkeit erreichen werden.

Warum erzähle ich euch das? Jenny-Mai Nuyen hat ihren Roman in drei Teile aufgeteilt und der letzte ist hochgradig philosophisch. Schon vorher begegnen wir sozialistischen Gedanken und es wird schnell klar, dass es hier irgendwie um Größeres geht. Doch erst im letzten Teil wird klar, wie groß dieses Größere eigentlich ist. Durch das ganze Buch ziehen sich Andeutungen, wie mächtig jene sind, die den Informations- und Technikvorsprung haben. Der bereits im Klappentext erwähnte Internettycoon Balthus bspw. hat ein wahrhaft grauenerregendes Programm geschrieben, welches auch von der Hauptperson Adam Eli genutzt wird, um nicht ganz legale Recherchen anzustellen. Wer Programme schreiben, nutzen und verkaufen kann, hat die Macht. Im Nachteil sind wie immer jene, denen die Bildung und das Geld dazu fehlt. Die Welt ist ungerecht. Warum ist sie ungerecht? Weil die Menschen ihren negativen Trieben nachgehen und andere nicht gleichberechtigt beteiligen. Am Ende werden wir mit der These konfrontiert, dass es unmenschlich ist, kein Mitleid mit seinen Mitmenschen zu haben (eine These, die auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel hat) und dass wahre Menschlichkeit darin besteht, sich, wird man vor die Wahl gestellt, für den guten Teil in sich zu entscheiden. So könnten alle sich demokratisch an Wohlstand und Wissen beteiligen. Und im Hintergrund würde ein Gott agieren, der darauf achtet, dass alle ihre Freiheit genießen können - während er gleichzeitig dafür sorgt, dass jeder Mensch motiviert ist, sich für seine Menschlichkeit, für das Gute zu entscheiden.

Freiheit wird auch hier definiert darüber, sich für das Gute, für das Richtige, für die so ausgelegte Menschlichkeit zu entscheiden. Ein Utopia, in dem alle glücklich sein können, weil alle dazu motiviert werden, sich für das Gute zu entscheiden. Na, hast du auch schon eine Gänsehaut?

Das Spannende an diesem Thriller ist, dass Nuyen uns diese Zukunftsvision präsentiert, ohne selbst klar Stellung zu beziehen. Empfindet die Autorin dies als Dystopie oder Utopie? Wie steht eigentlich die Hauptperson Adam Eli zu dieser Aussicht? Und die anderen Charaktere, die wir kennenlernen? Wir bleiben im Ungewissen. Klar ist nur, dass im Hintergrund Mächte am Wirken sind, die genau dieses Utopia anstreben - und andere, die alles, wirklich alles tun würden, um so eine Zukunft zu verhindern. Welche Seite gewinnt? Wer weiß.



Psychologische Grausamkeiten

So viel also zum philosophischen Grundgerüst. Verpackt wird das alles in einen gut funktionierenden Thriller, der auch auf psychologischer Ebene unter die Haut geht. Jede Figur, die wir näher kennenlernen, schleppt ein schweres Bündel mit sich rum. Adam Eli krankt an seiner Liebe zu Willenya, die er nur Will nennt. Er überlebt von Tag zu Tag, doch seit er sie verloren hat, hat er aufgehört zu leben. Entsprechend braucht es nicht viel, damit Marigny, die zweite Hauptperson, ihn für die Suche nach Will einspannen kann. Er hat ein offensichtlich gestörtes Verhältnis zu seinem Körper und zu anderen Menschen. Ebenso wie Marigny, die frühe Kränkungen erfahren hat und sich heute zwar ihrer weiblichen Macht über Männer bewusst ist und diese einsetzt, trotzdem aber innerlich voller Zweifel bleibt. Viel Handlung erleben wir aus der Sicht dieser beiden. Besonders erstaunlich und ein offensichtliches Zeichen für Nuyens Talent ist dabei, dass ich Marigny Teilen stets Mitleid mit ihr hatte und sie sympathisch fand, während ich sie in Elis Abschnitten und aus seinen Augen anstrengend, ja beinahe abstoßend fand. Die beiden entwickeln schnell eine sehr merkwürdige Beziehung, die getränkt ist von Misstrauen und Anziehung, wobei letzteres insbesondere Eli zu schaffen macht. Denn er will treu zu Will stehen.

Auch andere Personen haben ihre Momente, selbst wenn es nur bezahlte Mörder im Auftrag der Bösen sind. Alle sind zutiefst menschlich, alle sind auf ihre Art so eigen, wie man es nur werden kann, wenn man das eine oder andere Trauma mit sich herumschleppt.

Und dann ist da Will, die wir fast nur aus der Perspektive von anderen erleben. Je mehr man über Will lernt, je näher wir sie kennenlernen, umso weniger wird sie als Person greifbar. Sie hatte eine furchtbare Kindheit, unvorstellbar für Leser wie mich, doch als junge Erwachsene widerfährt ihr beinahe noch Schlimmeres. Die Liebe von Adam Eli wirkt wie ein Weichzeichner, man will sie mögen, doch immer wieder steht man als Leser vor Will und fragt sich: Wer ist sie wirklich? Was will sie wirklich? Lügt sie? Kann sie überhaupt noch die Wahrheit sagen? Weiß sie eigentlich noch, was die Realität ist? Ist sie Opfer oder Täter? Kann man das überhaupt klar trennen?

Wo immer wir in diesem Thriller Menschen begegnen, begegnen wir auch Sexualität. Da ist Marigny, die schamlos flirtet, um an ihr Ziel zu kommen. Da ist der böse Schatten, der Adam und Marigny folgt, der in sexistischen Begriffen von seiner Auftraggeberin spricht und generell eine stark sexualisierte Sicht auf die Welt zu haben scheint. Da sind die Wissenschaftler, die auch vor Kinderpornografie nicht zurückschrecken, solange es der Sache dient. Und natürlich sind da Adam Eli und Willenya, die trotz aller Umstände die Finger nicht voneinander lassen können. Gibt es in diesem Roman eigentlich irgendeine Figur, die nicht in irgendeiner Form ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper hat? Ich glaube fast nicht.

Es ist spannend zu sehen, wie Nuyen hier einen Kommentar zum Sozialismus mit Erörterungen über sexuelle Gewalt verknüpft und daraus einen Tech-Thriller webt. Besonders spannend wird das, wenn man es vor dem Hintergrund politikwissenschaftlicher Konzepte wie der Biopolitik sieht. Wir kennen Sozialismus nur in Form von Diktatur und Diktatur ist dann besonders leicht zu stabilisieren, wenn der Staat Macht über den Körper hat, sowohl über den politischen als auch über den menschlichen Körper. Nichts richtet so viel Schaden in der Seele der Menschen an wie die grausame Schattenseite der Sexualität. Dabei muss es gar nicht um den Geschlechtsakt als solchen gehen, wie wir auch in diesem Buch eindrücklich erfahren. Es ist eine düstere Welt, in die uns Nuyen wirft, wo selbst die zarteste, unschuldigste, aufrichtigste Liebe machtlos erscheint gegen die Grausamkeit der Umgebung.



Ein paar kritische Gedanken

Um zum Ausgangspunkt meiner Rezension zurückzukommen: Schon Macaulay hat in meiner Auffassung die Menschen falsch definiert und das geschieht auf exakt die gleiche Art und Weise im Buch. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Nuyen selbst die Auffassung nicht teilt, doch ich kann nur mit dem philosophischen Konzept ringen, welches mir präsentiert wurde, also nehme ich dies als Gegner: Ja, wir Menschen müssen uns tagtäglich mit Entscheidungen auseinandersetzen, die im Kern auf gut oder böse hinauslaufen. Ja, es wäre wünschenswert, wenn immer die Entscheidung für das Gute fallen würde. Aber: So sind wir Menschen nicht gestrickt. Das Böse gehört zu uns. Ganz essentiell zu uns. Wir sind triebhafte Menschen, von Emotionen, Hormonen, von chemischen Reaktionen gesteuert. Wir haben unsere Vernunft und können lernen, unsere negativen Gefühle zu kontrollieren. Doch wenn wir diese negativen Gefühle, die Triebe, die uns unmenschlich erscheinen lassen, unterdrücken, werden wir krank. Neid, Eifersucht, Geltungsdrang, der Wunsch, sich von anderen abzuheben, all das ist ein natürlicher Teil von uns. Weder ein christlicher Gott noch ein moderner Gott (welche Form auch immer er annehmen würde) haben das Recht, uns unsere Menschlichkeit zu nehmen. Was im dritten Teil in Nuyens Thriller entworfen wird, wäre für mich eine Dystopie.

Zum Abschluss will ich doch noch einige klassische Rezensions-Bemerkungen anbringen: Der Schreibstil ist wundervoll, zugleich eindringlich, empathisch und an passenden Stellen angemessen technisch. Die Figuren sind authentisch und menschlich und klar voneinander zu unterscheiden. Die Handlung bleibt bis zum Schluss nachvollziehbar, selbst wenn man im Dunkeln tappt, es geschieht viel, aber nie zu viel. Trotzdem bin ich am Ende mit ein paar Fragen zu viel zurückgeblieben. Ich muss nicht jede Charaktermotivation auf dem Silbertablett serviert bekommen, doch wenn ich am Ende bei jedem einzelnen Charakter zweifle, ob ich seine Motivation tatsächlich kenne und verstanden habe, bin ich unzufrieden. Die Motivation aller unwichtigen Personen ist so schlicht wie einsichtig. Die Motivation aller wichtigen Personen ist so komplex wie undurchsichtig. Ich hätte mir gewünscht, dass sich die Autorin hier ein wenig offener gezeigt hätte.



FAZIT:

Der Thriller "Heartware" von Jenny-Mai Nuyen ist nicht nur eine atemberaubend spannende Suche eines jungen Mannes nach seiner Jugendliebe, sondern eine philosophisch und psychologisch fundierte Frage danach, was es heißt, Mensch zu sein. Während im Hintergrund abstrakte Mächte, von denen man bis zum Schluss nicht weiß, wer gut und wer böse ist, die philosophische Seite der Frage aushandeln, bleibt der Fokus auf Adam Eli und seiner geliebten Willenya, um in die Tiefe der Psyche hinabzusteigen. Heraus kommt ein Roman, der sehr viel richtig mach und am Ende nur ein wenig zu viele Frage unbeantwortet lässt, um rundum gelungen zu sein. Ich spreche eine uneingeschränkte Kaufempfehlung aus, denn das Buch ist gleichermaßen lehrreich wie unterhaltsam.

Veröffentlicht am 06.09.2023

Ein neues Lieblingsbuch trotz Schwächen

Ingenium
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Ein Buch wie dieses zu bewerten, fällt mir immer sehr schwer. Es gehört genau zu der Sorte Bücher, die ich innerhalb von einer Sitzung inhalieren könnte, wenn ich nicht zwischendurch essen oder trinken ...

Ein Buch wie dieses zu bewerten, fällt mir immer sehr schwer. Es gehört genau zu der Sorte Bücher, die ich innerhalb von einer Sitzung inhalieren könnte, wenn ich nicht zwischendurch essen oder trinken müsste. Alles an diesem Buch scheint genau auf meinen Geschmack ausgerichtet zu sein. Aber dann sind da die kleinen handwerklichen Missgriffe und ungelenk eingesetzten Tropes, die mir sagen, dass das Buch eben doch kein Meisterwerk ist.

Was Ingenium richtig gut kann, ist, uns Konzepte, Hintergrundgeschichten und Theorien zu erklären. Ein Großteil des Buchs ähnelt beinahe einem Aufsatz – was für manche abschreckend sein mag, hat mich von der ersten Seite an begeistert. Zu keinem Zeitpunkt waren die Ausführungen über Rätsel, Religion oder Computerwissenschaft für mich langweilig und nie hatte ich das Gefühl, etwas nicht zu verstehen. Das ist eine erstaunliche Leistung, gerade weil hier Wissenschaften benutzt wurden, von denen ich zuvor quasi keine Ahnung hatte. Genau deswegen habe ich das Buch genossen und kaum aus der Hand legen wollen. Es war einfach interessant.

Auf der anderen Seite steht der Plot, der sich dem Thriller-Genre einfügen muss und deswegen sowohl Spannung als auch Action braucht. Hier war manchmal eine geradezu aggressive Vernachlässigung von Recherche und Logik zu lesen, die im starken Kontrast zu dem stand, was die Autorin in das Setting investiert hat. Gerade zum Ende gab es einige Szenen, die ich nur augenrollend hinnehmen konnte mit dem Gedanken, dass das natürlich vorkommen muss. Es war für mich beinahe mit den Händen greifbar, wie wenig die Autorin sich für diese Teile der Geschichte interessierte. Ich kann das nachvollziehen – es braucht diese Szenen, um uns von Punkt A nach Punkt B zu bringen, aber sie sind nicht das, worum es hier eigentlich geht.

Das ist der Grund, warum ich diesem Buch keine volle Punktzahl geben kann. Obwohl es definitiv zu meinen Lieblingsbüchern der vergangenen Jahre zählt und ich mich definitiv auf den nächsten Band freue, sind doch einige Unebenheiten im Buch zu finden, die man besser machen könnte. Die Hauptcharaktere sind einzigartig und schon nach wenigen Seiten greifbar und lebhaft. Die Nebenfiguren glänzen, weil sie alle ihre eigene Agenda zu haben scheinen. Der Plot folgt den klassischen Punkten und Tropes, die einen Thriller ausmachen. Nur wenn es darum geht, Spannung durch Action zu erzeugen, schwächelt das Buch. Wer sich darauf einlassen kann zu lesen, wie religiöse Texte und Religionswissenschaft moderne Probleme und moderne Wissenschaft revolutionieren könnte, hat mit diesem Buch auf jeden Fall einen Schatz in der Hand.

Fazit

Der Thriller „Ingenium – Das erste Rätsel“ von Danielle Trussoni besticht durch umfassend recherchierte und spannend aufbereitete wissenschaftliche Analyse. Jede neue Entdeckung, jede neue Theorie macht neugierig darauf, wie es sich auf den Kernkonflikt auswirkt und was wirklich hinter dem zentralen Rätsel steckt. Während die Action eher müde auf bekannte Tropes setzt, glänzen die Charaktere durch ihre Einzigartigkeit. Für jeden, der beim Lesen auch gerne lernt und sich nicht von langen Erklärungspassagen abschrecken lässt, ist dieses Buch absolut Gold wert.

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Fantastischer Krimi

Mord auf der Insel Gokumon
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Für mich war dieses Buch der Einstieg in die Reihe um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, und es hat mich sehr gefreut, dass keinerlei Vorwissen notwendig war, um diesen Fall zu verstehen. Obwohl immer ...

Für mich war dieses Buch der Einstieg in die Reihe um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, und es hat mich sehr gefreut, dass keinerlei Vorwissen notwendig war, um diesen Fall zu verstehen. Obwohl immer wieder Anspielungen auf seinen großen Ermittlungserfolg gemacht werden, ist der Fall auf der Insel Gokumon ganz auf sich selbst begrenzt.

Der Autor dieses Buches ist ’81 gestorben und hat seine Romane hauptsächlich in den 70er Jahren verfasst. Das merkt man der Geschichte zwischenzeitlich an. Es gibt viel unreflektierte Diskriminierung gegen so ziemlich jede Minderheitengruppe, am auffälligsten dabei psychisch Kranke, die wiederholt nur als verrückt bezeichnet werden und in einer Zelle eingesperrt bleiben. Man muss sich darauf einlassen können, dass dieses Buch in der Hinsicht ein Produkt seiner Zeit ist, gerade weil es auch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg spielt und damit das historische Setting zusätzlich betont werden soll. Wenn man darüber hinwegsehen kann, ist so ziemlich jeder andere Aspekt hier grandios.

Wir kommen mit Kosuke Kindaichi auf die Insel, eine ominöse Botschaft im Gepäck, und erfahren sehr schnell über die familiären und politischen Verwicklungen. Noch bevor wir richtig angekommen sind, geschehen die titelgebenden Morde. Hier zeigt der Roman seine größte Stärke: Es ist ein klassischer whodunnit Krimi, wie man ihn von Agatha Christie kennt. Wir bekommen ein klares Bild vom Tagesablauf um die Morde, welche Personen wann wo waren, was sie getan haben, wo es Lücken im Alibi gibt und wo nicht. Wir sehen alles, was der Ermittler auch sieht und haben so die Chance, mit ihm zusammen zu raten. Ich persönlich tappte so wie er bis zum Schluss im Dunkeln, und konnte das letzte Puzzelteil nicht zuordnen, so dass ich die Aufklärung präsentiert bekommen musste, um sie zu verstehen. Aber immerhin war ich auf der richtigen Fährte und fühlte mich klug. Das ist es, was ich an Krimis liebe und was hier großartig umgesetzt wurde.

Als ehemalige Japanologie-Studentin muss ich auch ein Wort zur Übersetzung verlieren. Man merkt hier, dass die Übersetzerin viel Liebe in den Text gesteckt hat. Sie hat es auf einzigartige Weise geschafft, das Gefühl, den Eindruck der japanischen Sprache zu behalten, und es gleichzeitig in formvollendetes Deutsch zu gießen. Auch die Art, wie die Personen miteinander sprechen, welche Höflichkeitsformen und welche Art der Sprache genutzt wird, kam rüber, obwohl wir da im Deutschen wesentlich eingeschränkter sind als die Japaner. Neben einem guten Krimi bietet dieses Buch also auch höchsten Lesegenuss aufgrund des Texts selbst.

Fazit

Der zweite Band um den Ermittler Kosuke Kindaich von Seishi Yokomizo ist ein brilliant konstruierter Krimi, der handwerklich alles richtig macht. An der Seite des Privatdetektivs verfolgen wir das Geschehen, ermitteln mit und haben immer die Chance, richtige Schlüsse zu ziehen. Das Ende ist überraschend, aber lösbar, und wundervoll emotional geschrieben. Einen kleinen Punktabzug gibt es, weil das Buch eben doch deutlich Produkt seiner Zeit ist und nicht immer feinfühlig gegenüber Minderheiten ist. Wer nach einem guten Krimi im Stile Agatha Christies ist, findet hier auf jeden Fall ein Juwel.

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Veröffentlicht am 12.06.2022

Spannender Anwaltskrimi mit Tempo-Problemen

Pirlo - Gegen alle Regeln
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Obwohl ich schon viele Krimis gelesen habe, war davon keiner bisher so, wie es Pirlo – Gegen alle Regeln vom Klappentext versprach. Ermittlungen tatsächlich aus der Sicht eines deutschen Strafverteidigers ...

Obwohl ich schon viele Krimis gelesen habe, war davon keiner bisher so, wie es Pirlo – Gegen alle Regeln vom Klappentext versprach. Ermittlungen tatsächlich aus der Sicht eines deutschen Strafverteidigers zu sehen, ist für mich eine erfrischende Abwechslung und somit musste ich zugreifen. Der sehr eigene Schreibstil, den man schon auf den ersten Seiten erkennt, hat sein Übriges getan, um mich für das Buch zu begeistern.


Authentische Ermittlungen eines Anwalts

Ich habe nicht Jura studiert und auch nie selbst einem deutschen Gerichtsprozess beigewohnt, entsprechend kann ich wenig dazu sagen, ob die Schilderungen im Buch tatsächlich realitätsnah sind. Die Art, wie die Arbeit des Anwalts vor Gericht, aber auch jenseits davon erzählt wird, erschien mir jedoch authentisch genug, um Pirlo nie in Frage zu stellen. Für mich war es spannend zu lesen, wie Pirlo einerseits zu den Umständen des Mordes eigene Ermittlungen anstellt, gleichzeitig aber auch vergangene Prozesse durcharbeitet, um Präzedenzfälle und Entscheidungen höherer Gerichte auf seinen Fall anwenden zu können. Obwohl das viel in Dialogen zwischen den beiden Protagonisten erzählt wird, bekam ich nie das Gefühl, dass hier plumpes Info-Dumping betrieben wird. Ich war zu jeder Sekunde gefesselt von dem, was die beiden gemeinsam recherchierten.

Besonders reizvoll war für mich, dass es nicht einfach nur um einen Mordfall geht, sondern auch Intrigen und Firmenpolitik eine Rolle spielen. Trotzdem bleibt die Geschichte stets in der Realität verankert, es gibt keine weltumspannende Verschwörung und die Protagonisten sind nie in echter Lebensgefahr. Gerade wenn es um die Machenschaften großer Firmen geht, scheint der Plot oftmals dahin abdriften zu wollen. Das ist hier nicht geschehen und hat mir umso mehr Freude bereitet.

Ebenfalls positiv aufgefallen ist mir, dass die weibliche Hauptfigur tatsächlich etwas zu tun bekommen hat, und tatsächlich eigenständig scheinen durfte. Bei einem harten Kerl wie Pirlo ist das nicht selbstverständlich, und ich freue mich, dass auch dieses Schlagloch erfolgreich vermieden wurde.


Die Sache mit dem Tempo

Ein Krimi ist in erster Linie dazu da, Spannung zu erzeugen und ein Rätsel Stück um Stück aufzuklären. Über weite Strecken gelingt das hier auch sehr gut – aber mit leider zu häufiger Regelmäßigkeit bin ich über einen Nebenschauplatz gestolpert, der alles Tempo zerstört hat. Bis zum Schluss habe ich gehofft, dass die Geschichte um Pirlos Privatleben noch echte Relevanz entwickelt, doch das ist nie wirklich geschehen. Gewiss, es bringt am Ende eine wertvolle Entdeckung, doch dafür hätte es ein deutlich kürzer gehaltener Nebenplot auch getan.

So wichtig Pirlos Privatleben auch ist, um ihm Charaktertiefe zu geben, so sehr hat mich gestört, wie oft wir damit Zeit verbringen mussten. In meinen Augen hätten es weniger Szenen, die dafür vielleicht länger sind, auch getan. Immer, wenn ich gerade wirklich richtig drin war in den Ermittlungen, kam ein Kapitel über Pirlo und seine anderen Probleme, und jedes Mal konnte ich nur mit den Augen rollen.


Fazit

Der Krimi „Pirlo – Gegen alle Regeln“ von Ingo Bott besticht mit einem solide konstruierten Mordfall, dessen Rätsel die beiden Protagonisten auf eine Art und Weise aufklären, die ebenso authentisch wie spannend ist. Mit farbenfrohen Protagonisten und hohem Einsatz nimmt dieses Buch uns gekonnt mit auf eine Reise durch deutsche Gerichtsprozesse. Einziger, leider bisweilen wirklich störender Makel ist das Privatleben von Pirlo, das zu oft Tempo und Spannung nimmt. Abgesehen davon lädt der Krimi dazu ein, mit einem Espresso im kühlen Schatten genossen zu werden. Ich freue mich auf den zweiten Band!

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