Was wäre wenn… Der Roman „Der Platz an der Sonne“ lädt ein zu einem Gedankenspiel über Flucht, Migration, Heimat und gutes Leben – mit einem Wechsel der Perspektiven.
Der Platz an der Sonne1978 liegt Berlin, die Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, nach einem Krieg in Trümmern. Seine Schrecken wirken nach: Es fehlt an Essen, an Wohnungen, an einem geordneten politischen System. Dennoch ...
1978 liegt Berlin, die Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, nach einem Krieg in Trümmern. Seine Schrecken wirken nach: Es fehlt an Essen, an Wohnungen, an einem geordneten politischen System. Dennoch versucht Josua Brenner, die Hauptfigur, in all dem Chaos sein Glück – er fährt Suppe aus, arbeitet als Taxifahrer, öffnet eine Kneipe, verliebt sich, bekommt mit seiner Frau ein Kind. Obwohl es nicht leicht ist, weiß er die Behörden zu bestechen und auf dem Schwarzmarkt zu feilschen, um sich und seiner Familie ein angemessenes Auskommen zu ermöglichen. Von Rückschlägen und Schwierigkeiten lässt er sich nicht aufhalten und entwickelt immer wieder kreative Ideen für einen neuen Anfang. Trotzdem: Berlin ist nicht mehr, was es einmal war. Die großzügige Entwicklungs- und Aufbauhilfe aus Afrika versickert in den Taschen der Eliten, verschiedene Politiker, die große Reden schwingen und beteuern, alles anders und besser zu machen, enttäuschen am Ende wie ihre Vorgänger.
Kriminalität, Korruption und Gewalt sind an der Tagesordnung, der Alltag ist hoffnungs- und perspektivlos. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft Josua: Die Familie zerbricht, er verliert die Kneipe und damit seine Existenz, der Schuldenberg wächst, zudem haben seine Freunde Berlin längst verlassen. Da treibt auch ihn die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben um. Immer intensiver beschäftigt ihn der Gedanke an den Aufbruch ins reiche Afrika – zum Beispiel nach Tansania, dem gelobten Land, wo es Arbeitsplätze gibt, Sonne, Sicherheit und Chancen. Josua Brenner fordert sein Schicksal heraus, macht sich auf den Weg zu seinem Platz an der Sonne und gibt sich auch auf der beschwerlichen Flucht nicht geschlagen.
Christian Torkler, Theologe und Philosoph, der selbst einige Jahre in Daressalam gelebt und gearbeitet hat, beschreibt in sehr bildhafter, lebendiger Sprache die Odyssee des Protagonisten, die Schwierigkeiten der Reise und des Ankommens. Teilweise wirken Passagen langatmig, gleichzeitig ist so der Geschichte jedoch leicht zu folgen, und es wird deutlich, dass Brenners Entscheidung keine spontane, keine leichtfertige ist.
Das fiktive Einzelschicksal lässt uns, übertragen auf die
Realität, unsere Weltbilder hinterfragen, die Fragilität des Konzepts der Heimat und des guten Lebens erfassen. Die Formulierung „Platz an der Sonne“ geht zurück auf Bernhard von Bülow (1849-1929). Am 6. Dezember 1897 forderte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in einer Reichstagsdebatte im Hinblick auf die Kolonialpolitik Deutschlands: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir
verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Das inzwischen geflügelte Wort zeigt auf, dass die Geschichte des Kaiserreichs noch heute unser Leben beeinflusst und schwerwiegende aktuelle Probleme wie Flucht und Migration sowie globale Ungleichheit nach sich gezogen hat. Welche Lehre aus Torklers literarischem Gedankenspiel zu ziehen ist, sei jedem/jeder Leser:in selbst überlassen. Ich schließe mich der Rezension der Schriftstellerin Juli Zeh an, die sagt: „Nicht wer wir sind, entscheidet über unseren Platz in der Welt, sondern wo wir geboren werden: Christian Torkler hat den Roman der Stunde geschrieben. Ein literarisches Ereignis.“
[Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN 01/2019 vom Tanzania Network e.V.]