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Veröffentlicht am 16.08.2023

Plädoyer für eine angemessenere Betrachtung der deutschen Kolonialgeschichte

Kritik des deutschen Kolonialismus
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Es gibt zahlreiche gute Überblickswerke über die deutsche Kolonialgeschichte, und auch die Frage nach kolonialen Kontinuitäten wurde bereits vielfach behandelt. Braucht es also noch weitere Ausführungen? ...

Es gibt zahlreiche gute Überblickswerke über die deutsche Kolonialgeschichte, und auch die Frage nach kolonialen Kontinuitäten wurde bereits vielfach behandelt. Braucht es also noch weitere Ausführungen? Ja, sage ich nach Lektüre der vorliegenden Sammlung, herausgegeben von Geschichtslehrer Wolfgang Geiger und Politikwissenschaftler und Soziologe Henning Melber. Vor dem Hintergrund der Anerkennung des Genozids in Südwestafrika (Namibia) durch die deutsche Politik und dem sogenannten Historikerstreit 2.0, ob und wie Kolonialismus und Holocaust zusammenhängen, tauchen Fragestellungen auf, die noch nicht beantwortet wurden. Das Buch liefert neue Impulse, die zur Beschäftigung mit dem Thema befähigen und motivieren.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte: Das einführende Kapitel stellt grundsätzliche Überlegungen an zur Geschichte und erinnerungskulturellen Wahrnehmung des Kolonialismus in Deutschland. Im ersten Thementeil geben die Autoren an den Beispielen Südwestafrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Ostafrika, den Südseegebieten und Kiautschou einen knappen Einblick in historische und spezifische Eigenheiten des jeweiligen Gebiets. Ein Augenmerk der Beiträge liegt auf den kolonialen Kontinuitäten in der Gegenwart. Auch die Täter-Opfer-Dualität wird an einigen Stellen aufgebrochen, stattdessen die heterogene Gruppe der Einheimischen skizziert, die zwischen Kooperation und Widerstand eigenständige Rollen einnahmen. Der zweite Thementeil bietet Anregungen zum geschichtsdidaktischen Umgang mit Kolonialismus und der Auseinandersetzung mit einseitigen eurozentrischen Bildern in Schulunterricht und Museen.

Vieles ist nicht neu, einiges verkürzt dargestellt. Allerdings erhebt das Buch nicht den Anspruch, sich tiefergehend mit der historischen Dimension deutscher Kolonialgeschichte zu befassen. Vielmehr liegt seine Besonderheit darin, dass durch die Ergänzung von Personen aus dem Globalen Süden und/oder Betroffenen die Darstellungen an Tiefe gewinnen und zum Perspektivenwechsel anregen. Beispielsweise ordnet der namibische Aktivist Israel Kaunatjike, der sich seit Jahren für die Anerkennung des Genozids an Ovaherero und Nama einsetzt, die jüngsten Geschehnisse kritisch ein und erklärt, warum die deutsche Politik nicht weit genug geht. Der Tansanier Mnyaka Sururu Mboro, Gründungs- und Vorstandsmitglied von Berlin Postkolonial, bereichert das Kapitel zu Deutsch-Ostafrika mit Erläuterungen, wie sich Menschen in Tansania an die Kolonialzeit erinnern und erklärt, warum Begriffe wie „Häuptling“ oder „Aufstand“ mit Vorbehalt zu sehen sind.

Ein feministischer Wermutstropfen hingegen bleibt: Nur einer von zwölf (!) Beiträgen wurde von Frauen verfasst. Insgesamt sind die fast 200 Seiten mit neuen Argumenten ein Plädoyer für die angemessenere und sensiblere Betrachtung der deutschen Kolonialgeschichte.

Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN 04/2021 des Tanzania Network e.V.

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Veröffentlicht am 16.08.2023

Was wäre wenn… Der Roman „Der Platz an der Sonne“ lädt ein zu einem Gedankenspiel über Flucht, Migration, Heimat und gutes Leben – mit einem Wechsel der Perspektiven.

Der Platz an der Sonne
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1978 liegt Berlin, die Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, nach einem Krieg in Trümmern. Seine Schrecken wirken nach: Es fehlt an Essen, an Wohnungen, an einem geordneten politischen System. Dennoch ...

1978 liegt Berlin, die Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, nach einem Krieg in Trümmern. Seine Schrecken wirken nach: Es fehlt an Essen, an Wohnungen, an einem geordneten politischen System. Dennoch versucht Josua Brenner, die Hauptfigur, in all dem Chaos sein Glück – er fährt Suppe aus, arbeitet als Taxifahrer, öffnet eine Kneipe, verliebt sich, bekommt mit seiner Frau ein Kind. Obwohl es nicht leicht ist, weiß er die Behörden zu bestechen und auf dem Schwarzmarkt zu feilschen, um sich und seiner Familie ein angemessenes Auskommen zu ermöglichen. Von Rückschlägen und Schwierigkeiten lässt er sich nicht aufhalten und entwickelt immer wieder kreative Ideen für einen neuen Anfang. Trotzdem: Berlin ist nicht mehr, was es einmal war. Die großzügige Entwicklungs- und Aufbauhilfe aus Afrika versickert in den Taschen der Eliten, verschiedene Politiker, die große Reden schwingen und beteuern, alles anders und besser zu machen, enttäuschen am Ende wie ihre Vorgänger.

Kriminalität, Korruption und Gewalt sind an der Tagesordnung, der Alltag ist hoffnungs- und perspektivlos. Ein Schicksalsschlag nach dem anderen trifft Josua: Die Familie zerbricht, er verliert die Kneipe und damit seine Existenz, der Schuldenberg wächst, zudem haben seine Freunde Berlin längst verlassen. Da treibt auch ihn die Sehnsucht nach einem anderen, einem besseren Leben um. Immer intensiver beschäftigt ihn der Gedanke an den Aufbruch ins reiche Afrika – zum Beispiel nach Tansania, dem gelobten Land, wo es Arbeitsplätze gibt, Sonne, Sicherheit und Chancen. Josua Brenner fordert sein Schicksal heraus, macht sich auf den Weg zu seinem Platz an der Sonne und gibt sich auch auf der beschwerlichen Flucht nicht geschlagen.

Christian Torkler, Theologe und Philosoph, der selbst einige Jahre in Daressalam gelebt und gearbeitet hat, beschreibt in sehr bildhafter, lebendiger Sprache die Odyssee des Protagonisten, die Schwierigkeiten der Reise und des Ankommens. Teilweise wirken Passagen langatmig, gleichzeitig ist so der Geschichte jedoch leicht zu folgen, und es wird deutlich, dass Brenners Entscheidung keine spontane, keine leichtfertige ist.

Das fiktive Einzelschicksal lässt uns, übertragen auf die
Realität, unsere Weltbilder hinterfragen, die Fragilität des Konzepts der Heimat und des guten Lebens erfassen. Die Formulierung „Platz an der Sonne“ geht zurück auf Bernhard von Bülow (1849-1929). Am 6. Dezember 1897 forderte der damalige Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in einer Reichstagsdebatte im Hinblick auf die Kolonialpolitik Deutschlands: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir
verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Das inzwischen geflügelte Wort zeigt auf, dass die Geschichte des Kaiserreichs noch heute unser Leben beeinflusst und schwerwiegende aktuelle Probleme wie Flucht und Migration sowie globale Ungleichheit nach sich gezogen hat. Welche Lehre aus Torklers literarischem Gedankenspiel zu ziehen ist, sei jedem/jeder Leser:in selbst überlassen. Ich schließe mich der Rezension der Schriftstellerin Juli Zeh an, die sagt: „Nicht wer wir sind, entscheidet über unseren Platz in der Welt, sondern wo wir geboren werden: Christian Torkler hat den Roman der Stunde geschrieben. Ein literarisches Ereignis.“

[Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN 01/2019 vom Tanzania Network e.V.]

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Veröffentlicht am 16.08.2023

Literarisierte Wissenschaftsgeschichte lässt über den Preis medizinischen Fortschritts nachdenken

Robert Kochs Affe
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Während der Corona-Pandemie ist sein Name und das nach ihm benannte Institut (RKI) täglich in den Nachrichten präsent: Robert Koch (1843-1910), Nobelpreisträger und einer der wegweisenden deutschen Mediziner. ...

Während der Corona-Pandemie ist sein Name und das nach ihm benannte Institut (RKI) täglich in den Nachrichten präsent: Robert Koch (1843-1910), Nobelpreisträger und einer der wegweisenden deutschen Mediziner. Der Mikrobiologe und Hygieniker gilt als Pionier der Erforschung von Infektionskrankheiten.

Der Schriftsteller und Arzt Dr. Michael Lichtwarck-Aschoff stellt in seinem Tatsachenroman „Robert Kochs Affe“ die Schattenseiten des gefeierten Wissenschaftlers in den Fokus. Während einer Expedition nach Deutsch-Ostafrika (1906) führte er mit seinem Team grausame medizinische Versuche an Menschen durch, die an der Schlafkrankheit litten. Als Kind seiner Zeit spricht Koch in olonialrassistischer Manier von rückständigen, hilflosen „Eingeborenen“, die zu kontrollieren und zu zivilisieren seien. Das Kranke, das Fremde müsse aus den Körpern verschwinden, sodass nur das Reine übrig bleibe. Der Deutsche beklagt
nicht die Gefahr der Seuche, sondern die Gefährlichkeit der Infizierten. Somit lag ihm nicht die Genesung der einzelnen Patient:innen am Herzen, sondern allein die Erhaltung afrikanischer Arbeitskraft für die Kolonie sowie seine Experimente – um jeden Preis und jenseits
heutiger Vorstellungen von Moral und Verantwortung.

Geschickt verwebt der Autor Originalzitate der historischen Person mit Berichten fiktionaler Charaktere. Verschiedene Blickwinkel, Ortswechsel und Zeitsprünge zeichnen ein facettenreiches Bild Robert Kochs als gnadenlosen Protagonisten einer entgrenzten Medizin. So berichtet der Soldat Johann Kindsmüller,
der als Schreiber mitreiste, dass Schmerzmittel und Schutzkleidung nicht für die Einheimischen, sondern
nur für das deutsche Team gedacht waren. Eindrücklich erzählt er von entsetzlichen Untersuchungen und Behandlungsmethoden, die – im Deutschen Reich schon längst verboten – auf afrikanischem Boden jedoch weiterhin skrupellos praktiziert wurden.

„Robert Kochs Affe“ ist literarisierte Wissenschaftsgeschichte. Elliptischer Satzbau und schnelle Wechsel der Erzählperspektiven erschweren den Lesegenuss an einigen Stellen, nichtsdestotrotz bleibt das Werk spannend. Die Lektüre bietet jedenfalls
neue Aspekte zu Robert Kochs Erfolg und regt an, über den Preis medizinischen Fortschritts nachzudenken.


[Diese Rezension erschien zuerst im HABARI-MAGAZIN (2/2021) des Tanzania-Network.e.V.]

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Veröffentlicht am 16.08.2023

Interessante, vielseitige Lektüre mit sprachlichen Kritikpunkten

Gebrauchsanweisung für Tansania
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In der Reihe „Gebrauchsanweisung für …“ erscheinen keine herkömmlichen Reiseführer, sondern Bücher mit ganz eigenem Charakter. An Stelle der üblichen systematischen Aufzählung von Sehenswürdigkeiten, Übernachtungsangeboten ...

In der Reihe „Gebrauchsanweisung für …“ erscheinen keine herkömmlichen Reiseführer, sondern Bücher mit ganz eigenem Charakter. An Stelle der üblichen systematischen Aufzählung von Sehenswürdigkeiten, Übernachtungsangeboten oder Eintrittspreisen erzählen Liebhaber:innen der jeweiligen Länder und Städte anekdotisch und lebendig von spezifischem Lebensgefühl und nationalen Besonderheiten. Der Umstand, dass die meisten Autor:innen keine Einheimischen sind und somit eine Außenperspektive auf die Länder werfen, lässt den Titel "Gebrauchsanweisung“ jedoch anmaßend klingen. Im Frühling 2023 legte nun die österreichische Kulturredakteurin, Journalistin und Autorin Monika Czernin ihre „Gebrauchsanweisung für Tansania“ vor.

Die Texte zeugen von großer Sachkenntnis und Tansania-Philie. Plastische Schilderungen der Augenblicksglückseligkeit“ – eine treffende Wortschöpfung – und zahlreiche Beispiele für ökologisch und sozial nachhaltigen Tourismus zeichnen das Bild eines lohnenswerten Reiseziels. Dabei geht die Autorin nicht nur auf die typischen Highlights Sansibar, Ngorongoro, Serengeti und Kilimandscharo ein, sondern nimmt auch andere Nationalparks, Orte und Routen jenseits des Massentourismus ins Visier – darunter Chole, Ruaha, Iringa oder die Festlandküste. Unaufdringlich erhalten die Leser:innen Kenntnisse über die komplexe Geschichte Ostafrikas, und auch die gewaltvolle Kolonialherrschaft der Deutschen wird nicht ausgespart. Die Verfasserin bewundert die Ubuntu-Philosophie und gibt Einblick in das Füreinander und Miteinander. Besonders gelungen sind die Kapitel über Daressalam und Arusha, die über ausgebildete Mittelschichte, die kreative Kunstszene, digitale Start-Ups sowie hippe Viertel informieren.

Damit bricht Czernin mit einem einseitigen Afrikabild, das in anderer Reiseliteratur oftmals dominiert. In der Einleitung geht sie kritisch auf koloniale Kontinuitäten
ein und schreibt von Komplexität und Dekolonisierung. Gerade deswegen ist es enttäuschend, doch wieder von „europäischen Hoffnungsbringern“, „Lehmhütten“ oder „Kolonialromantik“ zu lesen. Aussagen, die aus rassismuskritischer Sicht problematisch sind, weil sie tradierte Narrative der Unterentwickeltheit und Bedürftigkeit fortsetzen. Auch die Motive des Abenteuers und der unberührten Wildnis Afrikas fügen sich – zusammen mit dem Buchcover, das dem Inhalt eigentlich nicht gerecht wird – in die stereotype Erwartung ein. Anstatt vorwiegend tansanische
Akteur:innen vorzustellen, bezieht sich die Autorin öfter auf Projekte weißer Expats. Dabei verweist sie immerhin selbstkritisch auf die Tatsache der europäisch geprägten Tourismusindustrie. Einer derartigen strukturellen Benachteiligung hätte womöglich mit einem/r tansanischen Co-Autor:in entgegengewirkt werden können – auch um dem Anspruch „Gebrauchsanweisung“ umfassender zu genügen.

Aber vielleicht heißt das Fazit der – trotz der genannten Kritikpunkte – interessanten Lektüre, die das komplexe Feld des Tourismus beleuchtet und auch für erfahrene Ostafrika-Reisende neue Einsichten bringen wird: Eine Anleitung, wie das facettenreiche Tansania zu erleben ist, gibt es – anders als der Reihentitel suggeriert – eben nicht.

[Rezension zuerst erschienen im HABARI-MAGAZIN (02/2023) des Tanzania-Network e.V.]

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