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Veröffentlicht am 06.09.2023

Eine exzellente Studie über ostdeutsche SED-Kader, die mithilfe westdeutscher Seilschaften nach der Wende Karriere machten.

Vorwärts und vergessen!
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Wie im Zuge der Deutschen Einheit in Justizwesen, Presselandschaft und Staatswesen Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird, Verbrecher geschützt und Verbrechen ungeahndet bleiben.

Die Investigationsjournalisten ...

Wie im Zuge der Deutschen Einheit in Justizwesen, Presselandschaft und Staatswesen Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird, Verbrecher geschützt und Verbrechen ungeahndet bleiben.

Die Investigationsjournalisten Uwe Müller aus Frankfurt/Main und Grit Hartmann aus Leipzig nahmen in den 2000er-Jahren die Herkules-Arbeit auf sich, gestützt auf ausführliches Quellenmaterial jenes Rollback zu dokumentieren, jene Konterrevolution, welche im wiedervereinigten Deutschland nach 1989/90 Stück für Stück die alten Machthaber des SED-Unrechtsstaats wieder im Amt und Würden brachte.

In gewisser Weise erinnert die heutige Zeit an jenes bleierne Biedermeier nach der Französischen Revolution bzw. erzreaktionäre Herrschaftsstrukturen, wie sie sich nach den gescheiterten Revolutionen 1848/1849 in Europa etablierten. Dabei macht das Ost-West-Autorenteam Müller/Hartmann nicht den Fehler, sich einzig auf Stasi-Seilschaften zu konzentrieren, die nach dem Fall der Mauer schnell wieder zu Macht und Einfluss kamen, und Siegerjustiz für DDR-Verbrecher zu fordern, wie es sie gegenüber Nazi-Verbrechern in der alten Bundesrepublik niemals gab.

Vielmehr wird dargelegt, wie Rufe nach Gerechtigkeit und Bestrafung nach der Wiedervereinigung im Deutschen Bundestag jeweils von Opposition gefordert wurde, beispielsweise von der SPD gegenüber CDU-Kanzler Helmuth Kohl bzw. nach seinem Sturz von der CDU unter Angela Merkel, was wiederum SPD-Kanzler Helmuth Schröder konterkarierte, und dass hernach unter der Großen Koalition von CDU und SPD sogar einem Stasi-Chef von Bundeskanzler Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde.

Jene Seilschaften in Politik, Wirtschaft, Presse- und Justizwesen, jene Kader, Spitzel und Komplizen aus Ost und West, die gemeinsam Hand in Hand die Restitution betrieben, wie im Buch von 2009 eindrücklich dargestellt, sitzen mehr als drei Jahrzehnte nach der friedlichen Wende, überall an den Schalthebeln der Macht.

Höchst bedauerlich, dass es heutzutage krude Verschwörungstheoretiker und Reichsbürger auf die Straßen gehen – was letztendlich den in »Vorwärts und vergessen!« angeprangerten Ost-West-Seilschaften in die Hände spielt. Längst überfällig wäre eine gesamtdeutsche Protestbewegung, vergleichbar mit jener der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, die 1967/68 unter der Parole »Unter den Talaren - Muff von 1000« gegen Nazi-Verbrecher in Rektoren- und Richterroben protestierte.

Warum gesamtdeutsch? Weil sich jene mafiösen Strukturen – beispielsweise unter Bundesbediensteten und im Justizwesen – inzwischen auch in Westdeutschland etabliert haben, und weil es Westdeutschen heutzutage durchaus passieren kann, dass sie von einem DDR-Kreisstaatsanwalt, der sich nun Oberstaatsanwalt nennen darf, in einem Schauprozess zu Kerkerhaft verurteilt wird. Dies klingt kurios, ist jedoch dem Buchrezensenten jetzt und hier in 2022/2023 widerfahren. Sein Verbrechen: Bücher schreiben, in denen Verbrecher der Staatssicherheit erwähnt werden.

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Narrenspiel am Rande des Höllenkraters

Im Anfang war das Wort
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Wie ein DDR-Pfarrer mit Kanzel-Predigten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Gedichten der Stasi trotzt.

Drei Dinge stoßen mich ab, wenn ich durch die ersten Seiten eines Buches ...

Wie ein DDR-Pfarrer mit Kanzel-Predigten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern, Theaterstücken und Gedichten der Stasi trotzt.

Drei Dinge stoßen mich ab, wenn ich durch die ersten Seiten eines Buches blättere, und oft genug lege ich es dann beiseite: 1.) Rechtschreibfehler, 2.) langatmige Schilderungen, 3.) stumpfsinnige Formulierungen.

Nicht davon findet sich im dicken Werk des Autors. Die Einführung von Sabine Bauer-Helpert, einer Pfarrerin im Ruhestand, verzichtet bei allem religiösen Bezug auf kitschige Frömmelei, und wenn sie schreibt, dass Dieter Liebigs Texte uns auch heute Tore in die Zukunft öffnen können (Seite 8), dann ist dies kein leeres Versprechen.

Der Autor belässt es bei einem knappen Vorwort, das dem Leser hilft, den »Deutsch-Ossig-Report 1977-1986«, wie er »An Anfang war das Wort« tiefstapelnd im Untertitel benennt, in sein umfangreiches Oeuvre einzuordnen, und kommt dann gleich in medias res, will meinen: Er zitiert, anstatt seine Herkunft eigenhändig zu beschreiben, wortwörtlich einen Ermittlungsbericht der Staatssicherheit (S. 11). Solche Dokumente tauchen auf den folgenden 500 Seiten immer wieder auf. Und zu den IM-Decknamen liefert er auch die Klarnamen.

Mit anderen Worten: Der wehrhafte Pfarrer und Schriftsteller in Personalunion packt den Stier bei den Hörnern, kämpft mit offenem Visier – was auch bitternötig ist, hat er doch seit seinem 25. Lebensjahr nicht nur die Stasi im Nacken, sondern auch riesige Braunkohlebagger vor der Nase, die sich Stück für Stück wie im Hollywoodepos »Herr der Ringe« auf sein Barockkirchlein zubewegen. Wahrhaft teuflisch. Doch Dieter Liebig ist kein Jammer-Ossi, will nicht bemitleidet werden, sondern schildert das Dantes Inferno gleichkommende Höllenspektakel, indem er (S. 17) aus einem eigenen Roman zitiert:

»Auf dem Ort regnete Asche, mit Schwefel vermischt ... An ihre Ohren drang Quietschen, Heulen, Rasseln, Leiern, Wummern ... Als Kontrast dazu stand nach Norden hin eine Kirche, die von außen schmucklos wirkte.«

Es folgen Theaterstücke, mit einem Laienspieltrüppchen aufgeführt, das er dort am Rande des Höllenkraters aus der Braunkohlenerde gestampft hat, in etwas so, wie nach griechischer Mythologie das Menschengeschlecht aus Lehmklumpen geformt und gebacken wurde. Der Vergleich kommt nicht von ungefähr, greift der Autor doch in seinem literarischen Schaffen auf die Werke kulturgeschichtlicher Epochen zurück, ist ungeheuer belesen, ohne in falsche Eitelkeit zu verfallen. In seinen Tagebüchern, die neben Predigten, Theaterstücken und Stasi-Berichten das Buch so reich und abwechslungsreich machen, schreibt er (S. 123):

»Im Radio hörte ich zufällig das Dürrenmatt-Zitat: ›Ein Stück ist dass zu Ende gedacht, wenn es die schlimmstmögliche Wendung bietet.‹ Sehr schön weit vorn formuliert, für pointiertes Reden war Dürrenmatt schon immer gut.«

Dass die Staatssicherheit dem schriftstellernden Pfarrer bzw. pfarrernden Schriftsteller dabei stets im Nacken saß und sich (mit Erfolg) bemühte, Informanten auf ihn anzusetzen, zeigt ein Tagebucheintrag auf der gleichen Seite:

»Gestern haben wir vor einem ausgezeichneten Publikum in Weinhübel gespielt. Da ich immer noch auf der Sucher nach einem weiteren Stück bin, kam mir der Gedanke, einen ›Traum‹ nach Günter Eich zu versuchen. In dem befindet sich ein Familienvater, der nur hinausgegangen ist, um eine Zigarette zu rauchen. Da bitte ihn die Häscher um Feuer. Er kenne doch den ... So ward er zum Judas.«

Die äußere Situation des kleinen Kirchleins am Rande der sich stetig ausbreitenden Kohlegrube ist bedrücken. In einer Silvesterpredigt (S. 176) macht Dieter Liebig seiner Gemeinde Mut:

»Es gilt, dass das Herz fest werde, wir stark im Glauben werden in dem Wissen, dass unsere Zeit in Gottes Händen liegt.

Am gleichen Tag steht im Tagebuch, dass am 30. Geburtstag im Sommer sein erstes Stück Premiere haben soll. Episoden aus dem Bauernkrieg. Zwei Wochen später kommt ein Schreiben, dass die Schließung des evangelischen Friedhofs ankündigt. Unerbittlich fressen sich die Braunkohlebagger weiter. Die Realität in Deutsch-Ossig im südöstlichsten Zipfel der DDR erfüllt die dramatischen Vorgaben des Friedrich Dürrenmatt in der fernen Schweiz, damals dank Stacheldraht, Mauer und Schießbefehl unerreichbar für den schreibenden Gottesmann.

Dass die Stasi auf der Suche nach Spitzeln in seinem Umfeld erfolgreich war, zeigt der Bericht von IM Maus (S. 231). Dieter Liebig dreht den Spieß um, nennt nicht nur den Klarnamen des verräterischen Nagetiers, sondern zitiert die gesamte Tonbandabschrift der Kreisdienststelle der Staatssicherheitsdienstes in Görlitz. Thema des Gesprächs in der Privatwohnung des Informellen Stasi-Mitarbeiters war eine Generalprobe zum neuen Theaterstück »Der Turm«.

Wenn der Autor in diesem autobiografischen Report sich selbst erklärt und jenes Unbegreifliche, das letztendlich die Kreativität jedes Künstlers ausmacht, so zitiert er aus einem eigenen Brief (S. 294), und das in jenem ihm eigenen Stil, der Bilder im Kopf des Lesers aufblitzen lässt::

»Ich kenne einen Bassgitarristen, der alles, was erhört, in Noten fasst. Mein Tun ist ähnlich gelagert. Ich kann nur das, was ich mir beigebracht haben, setze mir begegnende Stoffe in Stücke um. Entscheidend ist also das Verhältnis zum Stoff.«

Als Kurzvita zitiert Dieter Liebig auch einem Brief an die Zeitschrift »Theater der Zeit«, die sein Stück »Nonnenmacher« abdrucken will:

»Mein Verfahren waren Landarbeiter, meine Mutter ist in der LPG tätig, mein Vater Arbeiter ... 1980 wurde ich Pfarrer der Kirchengemeinde Deutsch-Ossig im Energiezentrum Hagenwerder. Der Ort selbst steht auf Braunkohle.«

Was es bedeutet, auf Kohleflözen zu wohnen, die in unmittelbarer Nähe abgebaggert werde, lässt er uns Leser in einem Romanzitat wissen(S. 333):

»Plötzlich erstarb das Singen der Vögel, das Summen der Bienen. Die Schafe standen vollkommen regungslos das, als würden sie das Atmen unterlassen ... Das Geräusch war nicht klar zu definieren. Es handelte sich um ein Grunzen, Schnauben, Brüllen, als würde alle Tiergattungen zur Schlachtbank getrieben. Da gab es einen Schlag wie von einer überdimensionalen Uhr ... eine gewaltige Rutschung abgegangen. Zig Tonnen ... sind vom Granit abgerissen ... Daraus folgte, dass das Kohleflöz gehoben wurde und mit Luft in Berührung gekommen war. Durch die Reibung hatte es sich entzündet.«

Man muss schon ein harter Bursche sein, um das auszuhalten. Als Sohn eines Waldarbeiters hat der Autor gelernt, handfest zuzupacken. Und weil er in Halle und Leipzig neben dem Theologiestudium das Theaterhandwerk erlernte, setzte er seine Erfahrungen in einem Hörspiel um, frei nach Iwan Turgenjews »Aufzeichnungen eines Jägers«. Das folgende Zitat stammt aus seinem Brief von 1984 (S. 336) an Radio DDR II. Ein Jahr später wurde Liebigs Hörspiel ausgestrahlt.

»Ich werde, vor allem von kirchlicher Seite, immer wieder gefragt, wie sich beide Berufe, der des Pfarrers und der des Schriftstellers vereinbaren lassen. In beiden geht es um das Wort. Beide kommen von Menschen her und gehen auf den Menschen zu. Das verbindende Element ist daher die Ethik. In solchen Stücken wie ›Der Wildhüter‹ reflektiere ich Begegnungen. ... Mein Vater war Forstarbeiter ... Das Leben im Wald war, als es sich noch in der natürlich Ordnung vollzog, war hart. Für das Harzen der Kiefern mussten im Winter die Lachten für die Schnitte vorbereitet werden, durch sogenanntes Röten. Es galt, stundenlang bei schwerer Arbeit im Schnee zu knien. Wenn der Wind aus Westen kam, trieb er einem die abgehobelte Rinde ins Gesicht, wenn er aus Osten kam, gefror einem der Schweiß auf dem Rücken.«

Conclusio: Dieter Liebig, der auf Jahrzehnte kreativen Schaffens zurückblicken kann, als Pfarrer sein Kirchlein verteidigte, als Bürgerrechtler von der Kanzel gegen Umweltzerstörung (Totenmesse für die Natur, S. 413 ff.), Militarismus und den Unrechtsstaat DDR predigte, ebenso mit Gedichten, Romanen, Hörspielen, Filmdrehbüchern und Theaterstücken, dem das Kunststück gelangt, sein 1986 (just als er sein Mittelalter-Theaterstück »Ratgeb« vollendet hatte, S. 478 ff.) abgebaggertes Kirchlein inmitten einer Plattenbausiedlung wiederauferstehen zu lassen, der nach der Wende als Landrat im Kreis Görlitz dem zaghaften Pflänzchen der Demokratie zum Wachsen verhalf, den jetzt in 2023 drei neue Projekte unter der Feder hat, ist kein Jammer-Literat, der sein Leid beklagen und dafür bedauert werden will. Er ist ein Dramatiker im Sinne Dürrenmatt – und uns Leser weiß er zu vergnügen.

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Veröffentlicht am 16.08.2023

Faszinierende Palette gelebten Lebens. Ein gelungener Versuch, mit Kunstsprache dem Erzählten näher zu kommen.

Das volle Leben
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Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. ...


Oral History als akademische Studienarbeit ist im Grunde unlesbar. Wort für Wort, Stammelei und Ähs und Öhs inbegriffen, werden in schriftlicher Form Tonbandprotokolle von Gesprochenem aufgezeichnet. Ein schier unleserliches Kauderwelsch, das im Alltag fast jeder von uns spricht, wenn er nicht als Politiker oder Callcenter-Agent etc. perfekte Rede trainiert hat.

Zeitungen und Rundfunkanstalten redigieren solche Texte in aufwendiger Weise und legen sie vor Veröffentlichung den Interviewten zur Freigabe vor. Fernsehsoaps wie »Gute Zeiten schlechte Zeiten« habe Storyliner, die die »Futures« der Erzählstränge skizzieren, Drehbuchautoren für die einzelnen Folgen, und engagieren für das auf dem Bildschirm gesprochene Wort spezielle »Dialogschreiber«. Manuskripte von Theaterstücken habe ihr eigenes Bühnendeutsch, sei es nun Shakespeare, Goethe oder Brecht. In Kinofilmen existiert wiederum eine eigene Sprache, welche dem Zuschauer die Illusion geben soll, die Helden auf der Leinwand würden »ganz natürlich« sprechen.

Susanne Schwager lässt in »Das volle Leben« Frauen über achtzig selbst zu Wort kommen. Großformatige Porträts zu Beginn jeden Kapitels verstärken die Illusion, hier würden beispielsweise eine stinkreiche Schlagerdiva, eine bettelarme Zigeunerclan-Urahne, eine Schauspielerin gutbürgerlicher Herkunft oder eine energische Kämpferin für Frauenrechte, die sich vom ärmlichsten Immigrantenverhältnisse in einem abgelegenen Schweizer Bergdorf bis nach New York und in die hohe Politik hochkämpfte, und andere mit uns am Küchentisch sitzen und aus ihrem Leben erzählen.

Die Autorin bedienst sich hierbei einer ganz speziellen Kunstsprache, die statt mit wörtlicher Rede die literarische Technik der erzählten Rede anwendet – und das derart feinsinnig, dass sich eine faszinierende Palette gelebten Lebens zum wahren Lesegenuss entfaltet.

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Veröffentlicht am 07.08.2023

Großartig komponierter Thriller, nicht nur für Freunde des Blues und Gitarrenliebhaber wärmstens zu empfehlen.

Vintage
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Story, Figurenentwicklung, Spannung und musikalische Background-Information: Hier stimmt einfach alles!

Der dritte Roman von Grégoire Hervier, geboren in der beschaulichen Kleinstadt Villeneuve-Saint-Georges ...

Story, Figurenentwicklung, Spannung und musikalische Background-Information: Hier stimmt einfach alles!

Der dritte Roman von Grégoire Hervier, geboren in der beschaulichen Kleinstadt Villeneuve-Saint-Georges am Rande von Paris, ist für mich eine grandiose Entdeckung. Rund um die legendäre Gibson-Gitarre »Moderne«, vor der niemand wirklich weiß, ob Ende der 50er-Jahre wirklich ein Prototyp gebaut wurde, entwickelte er einen famosen Thriller über 400 Seiten, die einen fesseln, von der ersten bis zur letzten Gitarren-Saite.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gibson_Moderne

Worin besteht das Geheimnis dieses Schriftstellers? Er schreibt in der Ich-Form, sein Held ist Musikjournalist und arbeitet zur Aushilfe in einem Pariser Musikgeschäft mit angeschlossener Werkstatt. Anstatt mit Fachwissen zu erschlagen, führt Grégoire Hervier uns Leser ganz unprätentiös in die Welt der Gitarrenliebhaber ein, lässt die Saiten erklingen. Buchseite und Buchseite ein exzellenter Pageturner, der am Ende jedes überschaubaren Kapitels mit dezentem Pageturner zum Weiterlesen verlockt.

Sicherlich, es gibt grässliche Schocker und Morde in diesem Buch, schließlich ist es ein Thriller. Und der Autor spart auch nicht mit Gesellschaftskritik. Satire wird bei ihm großgeschrieben. Darüber hinaus ist »Vintage« streckenweise eine akademisch-historische Abhandlung über die Geschichte des Blues vom Memphis bis zum Mississippi-Delta. Und es zeigt, wie man elektrische Gitarren herstellt, wie man die stimmt, ihrem Klang mit elektrischen Verstärkern und einer Vielzahl zusätzlicher Tools moduliert, verfeinert und verzerrt – bis einem buchstäblich die Ohren rausfliegen beim Lesen dieses von Diogenes wie gehabt in hoher Qualität und zugleich handlichem Format veröffentlichten Werks.

Die Kunst des Autors? Ein Geheimnis, genau wie die von ihm erfundene Geschichte rund um den legendären Prototyp der Gibson-Moderne. Vielleicht spielt eine Rolle, dass der Witz des Erzählers niemals gestelzt wirkt, dass selbst die abartigsten Figuren der Erzählung derart liebevoll geschildert werden, dass es eine Freude ist. Und ganz sicherlich gehört es zu den Geheimnissen des Autors, stets den Leser im Blick zu haben.

»Vintage«, ein Roman über die Welt der Blues-Musik, den man gelesen haben muss, der sich wunderbar als Geburtstags-, Urlaubs- oder Weihnachtsgeschichte eignet. Empfehlenswert!

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Veröffentlicht am 07.08.2023

Metamoderne Geschichtsschreibung

Diesseits der Mauer
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»Nichts war gut in der DDR«, schrie mich letzte Woche ein alter Bürgerrechtler im äußersten Osten Deutschlands an, als ich auf Katja Hoyers Buch zu sprechen kam. »Höchste Brauenbeschäftigungsrate der Welt? ...

»Nichts war gut in der DDR«, schrie mich letzte Woche ein alter Bürgerrechtler im äußersten Osten Deutschlands an, als ich auf Katja Hoyers Buch zu sprechen kam. »Höchste Brauenbeschäftigungsrate der Welt? Die Frauen mussten arbeiten, sie wurden vom System gezwungen.« Der alte Mann, von Krankheit gezeichnet, erregte sich immer mehr. Seine Pupillen weiteten sich. Als ich auf den großen Anteil von Arbeiterkindern unter den Studenten spracht, sprang er vom Stuhl auf. »Keiner von meinen Geschwistern durfte studieren. Du hast ja keine Ahnung!« Als ich bescheiden entgegnete, dass meiner Mutter aus der DDR kam, ich über Jahrzehnte Cousin, drei Cousinen, Onkel und Tante in Sachsen besucht hatte, schrie er aus Leibeskräften: »Du warst nur West-Besuch, ich habe hier gelebt!« Der gute Mann ballte die Hände zu Fäusten, drohte mit der Polizei und schmiss mich raus.
So wie er haben viele ehemalige DDR-Bürger die Wahrheit über ein Land gepachtet, in dem sie einst lebten – auch wenn sie noch hinter dem Tal der Ahnungslosen lebten, ohne Zugang zu Westfernsehen. Ohne je über den Kirchturm hinaus geblickt zu haben, verteidigen sie ihre Deutungshoheit auf eine Weise, wie es einst ihre schlimmsten Gegner taten. »Die Partei, die Partei, die hat immer recht«, Hymne der SED, bis in den letzten Winkel der Deutschen Demokratischen Republik mithilfe der Staatssicherheit vollstreckt.
Dass hinterwäldlerische Verbissenheit und Rechthaberei unter ehemaligen Bürgerrechtlern jetzt in 2023 nicht nur in der östlichsten Stadt Deutschlands erhalten hat, zeigt die »Fehde der Aufarbeiter«, wie es die SZ tituliert, am Beispiel des einstigen Regimekritikers Rainer Eckert, der in »Getrübte Erinnerungen« seine einstigen Mitstreiter heimtückisch nennt und verleumderisch, der dem Chef der Stasi-Gedenkstätte in Leipzig Platzhirschgehaben vorwirft. Karim Saab, im Westen geboren, mit der Mutter in den Osten gezogen, renitenter Buchhändler in Leipzig, im Frühjahr 1989 Richtung Westen ausgebürgert und jetzt wieder im Osten lebend, bezeichnet Eckert als ins Abseits geratener Insider einer heillos zerstrittenen Aufarbeitungsszene.
https://www.sueddeutsche.de/politik/rainer-eckert-ddr-aufarbeitung-sed-staat-umkaempfte-vergangenheit-rezension-1.6012372

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Was Intoleranz, Kleingeistigkeit und die Unfähigkeit betrifft, den Andersdenken mit Respekt zu begegnen, so ist auch diesbezüglich auf die SZ aus München verwiesen werden, Unter dem Titel »Eine ganz kommode Diktatur« wird Katja Hoyers international gefeiertes Buch in den Schmutz gezogen, was sich schon im Untertitel des Artikels andeutet, wenn sie als »ostdeutsche Historikerin« bezeichnet wird. Der westdeutsche Journalist Norbert F. Pötzl, Sohn von Heimatvertriebenen auch Böhmen, testiert der Autorin eine »erstaunlich geschichtsvergessene Auffassung«. Dass die Ostdeutschen nicht aus ihrem Gedächtnis verdrängen, was das Regime verbrochen habe, sei kein unbilliges westdeutsches Ansinnen. Ein elftes Gebot namens »elftes Gebot: Du sollst dich erinnern!«
https://www.sueddeutsche.de/politik/ddr-geschichte-sed-egon-krenz-brd-katja-hoyer-rezension-1.5834330
Bzgl. »elftes Gebot« sei dem Journalisten Pötzl in Erinnerung zu rufen:
Jene »Freie westlicher Welt«, in der er aufwuchs, beherbergte »ganz kommoden Diktatur« wie beispielsweise Portugal und bis 1974 und Spanien bis 1977. Die Niederlande waren bis Mitte der 50er-Jahre brutale Kolonialherren in Vietnam und Indonesien, Belgien gab seine Kolonialherrschaft über den Kongo erst 1960 auf, Frankreichs Schande sind die Kolonialkriege in Indochina und Algerien, dort bis 1962. Die USA, die BRD, Großbritannien und die Schweiz unterstützten das südafrikanische Apartheidsregime bis Mitte der 90er-Jahre. Der von den USA unterstützte chilenische Diktator Pinochet behielt seine Immunität bis zum August 2000. Maßgebliche Unterstützung kam durch die Colonia Dignidad, die Anfang der 60er-Jahre mit finanzieller Unterstützung der Bundeswehr in Chile große Ländereien erwarb, während der Pinochet-Diktatur für Foltermorde im großen Stil verantwortlich, 1991 umbenannt in »Villa Bavaria« als Hommage auf die Förderung durch die BRD, namentlich Franz Josef Strauß. Bis jetzt ist die Entschädigung der Opfer durch die Bundesrepublik Deutschland und die politische Aufarbeitung nicht abgeschlossen.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/colonia-dignidad-eines-der-groessten-menschenrechtsverbrechen-unter-deutscher-beteiligung-a-ee1f8749-7eb8-4093-923c-1075cdee6494
Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst
https://www.lovelybooks.de/autor/Klaus-Schnellenkamp/Geboren-im-Schatten-der-Angst-143959360-w/

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Die Frankfurter Allgemeine behauptet, Katja Hoyer »scheitert an der frappierenden Unkenntnis der Autorin über die realen Verhältnisse im real existierenden Sozialismus«. Okay, nicht nur im tiefen Osten, sondern auch weit im Westen hat man historische Wahrheiten mit Löffeln gefressen,
https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/katja-hoyers-versuch-einer-anderen-geschichte-der-ddr-scheitert-18991650.html
Der Spiegel tituliert seinen Verriss mit »Einseitig, grotesk verkürzt, faktische Fehler – dieses DDR-Buch ist ein Ärgernis« und dekoriert ihn mit zwei Ossis, die über einen Trabbi-Kofferraum gebeugt dem Betrachter ihre Ärsche entgegenstrecken.
https://www.spiegel.de/impressum/autor-cd7c8ccf-0294-4ea6-9202-a9b182d13a3f
Ähnlich respektlos-primitiv mit »Die Verwirrungen der Talente-Schülerin Rennefanz« ging zehn Jahren zuvor ein im westdeutschen Tübingen studierter Germanist eine ostdeutsche Autorin an.
https://literaturkritik.de/id/18277
Sabine Rennefanz zahlte es ihm und allen anderen Besserwessi-Historikern 2023 in einer großartigen Kolumne heim.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ddr-erziehung-ostdeutsche-haben-kein-trauma-a-05cadee0-36c7-461d-a7b1-9ba2a7bf9bf0
In der Tat, es geht um Deutungshoheit. »Geschichte wird von Siegern geschrieben«, heißt es, und in völliger Unkenntnis historischer Zusammenhänge setzen sich westdeutsche Geschichtsschreiber den Siegerkranz auf – völlig vergessend, dass die Bundesrepublik eine von den Siegermächten »geschenkte« Demokratie war, die erst 1989 durch die Ostdeutschen im Herbst 1989 zur »erkämpfen« und damit wohl verdienten Demokratie wurde. Wie sehr es westlich des Rheins daran gelegen ist, Geschichtsklitterung zu betreiben, zeigt das Projekt »Gedächtnis der Nation«.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/erinnerungen-veraendern-sich-100.htm
Einzig »Der Freitag«, 1990 als Ost-West-Wochenzeitung gegründet und seit 2008 unter den wohlwollenden Fittichen von Jakob Augstein, ist in der Lage, zu differenzieren: »Katja Hoyer schildert vierzig Jahre deutschen Sozialismus aus Sicht derer, die ihn selbst erlebt haben. Dafür führte die Autorin zahlreiche Interviews mit ehemaligen Bürger:innen der DDR aus allen Schichten. Das Ergebnis ist eine neue Geschichte der DDR, die nichts beschönigt, aber den bisherigen Blick auf die DDR erweitert, präzisiert und erhellt.« 2018 wurde »Der Freitag« als »European Newspaper of the Year« ausgezeichnet
https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/diesseits-der-mauer

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»Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten«. Mit diesem Zitat von Walter Benjamin leitete Prof. Dr. Phil Sabine Flach von der Universität Graz 2018 ihre Arbeit „Remembering the Future. Zum Geschichtsverständnis der Metamoderne“ ein,
https://mediarep.org/bitstream/handle/doc/18111/NAVIGATIONEN212113-144FlachI-Watch-That-Worlds-Pass-by.pdf?sequence=1
und 2020 schreibt die Valerie Varga über » Die zwei Zeitalter der Gegenwart«.
https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/5555788/full.pdf
In einem Interview von 2022 schlug der US-amerikanische Kunsthistoriker Moyo Okediji einen Bogen zur Politik, als er bemerkte, dass Metamoderne eine Brücke sei, um Wege der Versöhnung zu finden. Die Probleme würden immer da sein. Aber wir müssen darüber reden auf eine Weise, die es uns ermöglicht, weiterhin im Dialog zu stehen. Denn wenn der Dialog aufhört, beginnt der Krieg.
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/rsr.16200?saml
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Die Partei »Alternativet«, gegründet 2013 von einem ehemaligen Kulturminister, hat sich mit »Initiativet« der Metamodernität verschreiben, wozu lebenslange Neugier und sozialer Einfallsreichtum gehören, und ist sowohl im dänischen Parlament als auch im Europaparlament vertreten.
https://initiativet.se/ https://alternativet.dk/politik/vores-politik

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Metamodern könnte der Forschungsansatz der Historikerin Katja Hoyer in ihrem Buch »Diesseits der Mauer: eine neue Geschichte der DDR 1949-1990« bezeichnet werden.
In Guben ist sie aufgewachsen, wie Görlitz eine Stadt ganz im Osten Deutschlands, geteilt durch die Oder-Neiße-Grenze, ab 1980 die polnische Seite für DDR-Bürger unerreichbar. Die Wende erlebte sie als kleines Mädchen, studierte und tat dann das Einzige, was möglich ist, wenn man/frau sich aus dem Dunstkreis des eigenen Nests erheben will, um sich Überblick zu verschaffen: Raus aus die Ferne, raus aus Gesamtdeutschland mit seinem Rechthaber-Mief in Ost und West, auf nach Großbritannien.
“Beyond The Wall” ist der Originaltitel dieses großartigen Buchs. in englischer Sprache verfasst und sorgsam von zwei Übersetzern ins Deutsche übertragen. Katja Hoyer als »ostdeutsche Historikerin« zu bezeichnen, wie es Norbert F. Pötzl in der Süddeutschen macht, ist an sich schon eine Unverschämtheit.
Sie ist im besten Sinne eine europäische Historikerin, die jenen Ansatz der Ganzheitlichkeit, wie es das Metamoderne-Konzept avisiert, in ihren Werken realisiert. Bereits 2021 hat sie sich mit »Blood and Iron: The Rise and Fall of the German Empire 1871–1918« in der englischsprachigen Welt einen Namen gemacht, lebt in Großbritannien, ist Research Fellow am renommierten King’s College London, schreibt u.a. für die Washington Post in den USA. Ausführliche Interview mit ihr gibt es im Grunde nur in englischer Sprache. Hier zwei Empfehlungen:
https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=sCbM1WiV25o
https://www.youtube.com/watch" target="_blank">https://www.youtube.com/watch?v=cofN_3rhUG4
Es gäbe noch viel zu schreiben über dieses Buch. Ich selbst habe die 592 Seiten aufgrund der vielen kritischen Rezensionen voller Skepsis begonnen, was zunehmender Begeisterung wich nach wenigen Seiten. Ihr Stil, diese Mischung aus großer Erzählkunst und sachlich fundierter Recherche fand ich bislang nur bei Autoren historischer Werke, die durch lange Auslandsaufenthalte ihren Blick geweitet haben:

Jared Diamond: Arm und Reich. Die Schicksale menschlicher Gesellschaften
Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit
Wolfgang Templin: Revolutionär und Staatsgründer. Jósef Piłsudski - Eine Biografie
Radek Sikorski: Das polnische Haus. Die Geschichte meines Landes

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