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Veröffentlicht am 26.08.2023

Schwere Zeiten

Der Klang eines neuen Lebens
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Nach der letzten Meinungsverschiedenheit mit der Schwiegermutter packt Emma ihr kleines Bündel und geht von Gut Meinersleben zurück in die Heimatstadt Köln, welche nach dem Kriegsende 1945 in Trümmern ...

Nach der letzten Meinungsverschiedenheit mit der Schwiegermutter packt Emma ihr kleines Bündel und geht von Gut Meinersleben zurück in die Heimatstadt Köln, welche nach dem Kriegsende 1945 in Trümmern liegt. Von ihrem Mann Christian hat sie schon seit Monaten nichts mehr gehört, er gilt als vermisst. Neben stundenlangem Anstellen für einen Kanten Brot und erschöpfender Hausarbeit verdient sie sich ein paar Reichsmark als Kellnerin und später als Musikerin mit ihrem geliebten Akkordeon, zusätzlich interessiert sie sich für die Geschäfte des Untermieters Kurt, der wohl mit illegalen Machenschaften zu tun hat.

Sehr genau schildert Marion Johanning die Nachkriegszeit, geprägt von Hunger, Wohnungsnot und Kälte. Kaum das Notwendigste ist mit den Lebensmittelmarken zu bekommen, der Schwarzmarkt floriert, die Angst um Angehörige, die Trauer um die Toten raubt vielen die letzten Kräfte. Emma gibt alles, um ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder zu helfen, ein einfaches Leben ist das in der zerbombten Stadt zwischen all den Trümmern wahrlich für niemanden. Was es mit Kurt auf sich hat, was man von ihm halten darf, ob er ein dreister Lügner ist oder ein gerissener Charmeur, was er in all seinen Jahren bisher erlebt hat, das erfährt der geneigte Leser erst nach und nach mittels Rückblenden, sodass sich dieses Puzzle nur langsam zusammensetzen lässt. Genau das aber hält sie Spannung aufrecht und lässt einen neugierig Kapitel um Kapitel weiterlesen.

Trotz der widrigen Umstände der Zeit spürt man Hoffnung und Zuversicht, hält ein lesenswertes Buch in Händen. Wer weiß, was die Fortsetzung bringen wird?

Veröffentlicht am 21.08.2023

Szenen aus dem Leben

Das Café ohne Namen
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1966. Mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, zuletzt am Karmelitermarkt, verdient Robert Simon seinen Lebensunterhalt. Das Viertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist heruntergekommen, aber aufstrebend. ...

1966. Mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, zuletzt am Karmelitermarkt, verdient Robert Simon seinen Lebensunterhalt. Das Viertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist heruntergekommen, aber aufstrebend. Und so erfüllt sich Robert seinen Traum mit der Pacht eines Lokals. Ein kleines Café, das gar kein eigentliches Café ist, lockt genug Gäste an, um gut über die Runden zu kommen. Menschen kommen, Menschen gehen, manche prägen Roberts eigenes Leben weniger, manche mehr. Aufbruch und Zukunft liegen bereits im Jetzt.

Ein wenig verträumt, ein wenig melancholisch, ein wenig realistisch – mit diesem gelungenen Mix beschreibt Seethaler zehn Jahre aus Roberts Leben im Karmeliterviertel. Besonders der Beginn ist interessant zu lesen, welche Träume der junge Mann hegt und wie er entschlossen an die Umsetzung herangeht. Dann verliert sich die Handlung eher in einzelne Episoden, in denen ganz unterschiedliche Menschen im Mittelpunkt stehen, hier aber sieht Seethaler ganz genau hin, beschreibt Einzelheiten detailliert, erzählt den Alltag in all seiner Beschwerlichkeit, flicht Augenblicke der Freude locker ein. Damit erschafft der Autor eine ganz besondere Atmosphäre vom Wien der 1960er- und 1970er-Jahre: Markstände, Fabriken, Farbfernsehen und Vierteltelefon, Straßen und Gassen im Grätzel zum Flanieren, am Abend ein Besuch im Kino, am Wochenende ein Picknick im Augarten, im Sommer ein Tag an der Alten Donau. Ein einfaches Leben prägt die Gäste in Simons Café, am Ende bleiben etliche von ihnen ebenso ohne Namen wie das Lokal. Ein schöner Streifzug durch vergangene Jahre, kaum verblasst, heißt es neue Ziele anzustreben: die eingestürzte Reichsbrücke muss wieder aufgebaut werden, neu hinzu kommen U-Bahn und Uno-City, kaum ist eine Etappe erreicht, beginnt die nächste …

Schöne Erinnerungen finden sich in diesem Büchlein, besonders für jene, die den zweiten Bezirk schon damals gekannt haben.

Veröffentlicht am 21.08.2023

Das Mädchen

Gebranntes Kind sucht das Feuer
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Das Mädchen ist Dreivierteljüdin, unehelich geboren und anders als die anderen, das merkt es schon im Kindesalter. Mit vierzehn Jahren hat es im Grunde keine Wahl bezüglich einer weitreichenden Entscheidung ...

Das Mädchen ist Dreivierteljüdin, unehelich geboren und anders als die anderen, das merkt es schon im Kindesalter. Mit vierzehn Jahren hat es im Grunde keine Wahl bezüglich einer weitreichenden Entscheidung und rettet die Mutter. So wird das Kind mit einem Judentransport über Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und – überlebt den Zweiten Weltkrieg.

Von Klein auf wächst Cordelia ohne spürbare Liebe der Mutter heran, im vorliegenden autobiografischen Roman spricht sie sehr distanziert von sich als „das Mädchen“, möglicherweise, um das Leid und das Böse nicht so nah heranzulassen. Genau das scheint sie auch damals praktiziert zu haben, zur Zeit des Holocaust, um die Schrecken, die sie erlitten hat, auszublenden und nichts als das nackte Überleben vor Augen zu haben. Der Text als Erinnerung lässt die Zeiten verschwimmen, die Kindheit in Berlin geht immer wieder über in die Baracken von Auschwitz und wieder zurück. Angelehnt an die Glaubensinhalte der katholischen Mutter finden sich etliche Bibelzitate im Buch, ebenso wie Vergleiche mit Figuren aus der griechischen Mythologie. Wer in diesen Bereichen bewandert ist, wird vermutlich noch intensiver in dieses poetisch und gleichzeitig nüchtern verfasste Buch eintauchen können. Sehr persönlich und dennoch mit großer Distanz wird der Leser durch einzelne Szenen geführt, wichtige Ereignisse werden manchmal nur beiläufig erwähnt, sodass es großer Aufmerksamkeit bedarf, nichts zu übersehen.

Ein beispielhafter Rückblick auf ein absolut außergewöhnliches Leben, insbesondere als die Autorin das sichere Schweden verlässt und in Israel im Jom-Kippur-Krieg ankommt. Jeder einzelne Schauplatz lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen und geht unter die Haut. Mit ihrem individuellen Blick auf die Gräueltaten rund um erschütterndes Kriegsgeschehen trägt Cordelia Edvardson jedenfalls ihren Teil dazu bei, dass immer wieder Leser wachgerüttelt werden, um Verdrängen und Vergessen zu verhindern.

Ein etwas anderes Buch von einem anderen Mädchen, das – geprägt von schrecklichen Erlebnissen – niemals wirklich ankommen und Frieden finden kann.

Veröffentlicht am 19.08.2023

Stationen der Menschlichkeit

Südfall
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1944. Als Einziger kann sich Dave nach dem Abschuss seines Fliegers mit dem Fallschirm retten und landet im nordfriesischen Watt. Eine sehr alte Dame, siebzig oder achtzig, findet ihn zwischen den Prielen ...

1944. Als Einziger kann sich Dave nach dem Abschuss seines Fliegers mit dem Fallschirm retten und landet im nordfriesischen Watt. Eine sehr alte Dame, siebzig oder achtzig, findet ihn zwischen den Prielen und gewährt dem Briten Unterschlupf. Obwohl er hier ausharren könnte bis zum Kriegsende, treibt ihn eine innere Kraft, von Husum der Küste entlang bis nach Dänemark zu fliehen, um von dort weiter nach England zu gelangen.

Von recht unterschiedlichen Personen erzählt Florian Knöppler in dieser ungewöhnlichen Geschichte. Jeder ist ein Kapitel gewidmet, alle begegnen Dave auf seinem Weg in die Heimat. Wie werden sie auf das Aufeinandertreffen reagieren, werden sie ihm helfen, ihn ignorieren oder ihn gar verraten? Etliche einzelne Episoden, die doch wiederum zusammenhängen und mit vielerlei Gedanken und Gefühlen aufwarten, präsentiert Florian Knöppler mit seinem angenehm ruhigen Schreibstil. Manche Figuren geben mehr von sich preis, manche weniger, nicht immer erfährt der Leser, welche Gründe die einzelnen Menschen zu ihrem Tun bewegen, aber auch der Feind ist ein Mensch, das ist wohl die wesentliche Aussage dieses Romans.

Ein Buch über Mut und Aufrichtigkeit, welches berührend anders ist als ein typischer Fluchtroman. Gerne vergebe ich vier Sterne und eine Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 17.08.2023

Interessante Einblicke

Wal macht Wetter
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Steigende Lufttemperaturen, schmelzende Polkappen, sinkende Walpopulation und emsige Termiten – was das miteinander zu tun haben kann? In ihrem aktuellen Sachbuch mit dem klingenden Namen „Wal macht Wetter“ ...

Steigende Lufttemperaturen, schmelzende Polkappen, sinkende Walpopulation und emsige Termiten – was das miteinander zu tun haben kann? In ihrem aktuellen Sachbuch mit dem klingenden Namen „Wal macht Wetter“ erklären Frauke Fischer und Hilke Oberhansberg auf für jedermann gut verständliche Art und Weise, was es mit dem Klimawandel auf sich hat und wie wir uns ganz einfach von der Natur abschauen können, was der Mensch tun kann, um dem Ganzen noch (ein wenig) Einhalt zu gebieten.

Sehr übersichtlich strukturiert gliedert sich dieses interessante Buch in drei große Abschnitte – wo liegen die Ursachen – was zeigt uns die Natur vor – was sollten wir selber tun? Auch für Laien verständlich werden Kohlenstoffkreislauf und andere chemische und physikalische Grundlagen erklärt, auf kleine effekthaschende Tricksereien wie Änderung der Maßeinheit (erst „21 bis 24 Zentimeter“, kurz darauf „97 Millimeter“, kindle Pos. 287) hätte man durchaus verzichten können. Ebenso käme das Buch gut aus ohne „müssen wir hier gleich warnend den Finger erheben“ (kindle, Pos. 592), die Fakten sprechen für sich, wenngleich zugegeben wird, dass es so manch nötigen Mess- und Vergleichswert gar nicht gibt (kindle, Pos. 341) und daher vieles auf Annahmen und Modellierungen beruht. Trotz allem kann man eben die Tatsache einer – rascher als früher – voranschreitenden Klimaänderung nicht leugnen. Ob es für diese Erkenntnis teils komisch zu lesende Kunstwörter mit Gendersternchen braucht, sei dahingestellt.

Sehr anschaulich werden die einzelnen Kapitel beleuchtet, Tabellen, Abbildungen und Fotografien untermauern den Text und sorgen sowohl für Abwechslung als auch für besseres Verständnis. Alles eigentlich ganz einfach, denkt man sich nach dem optimistisch gehaltenen Ende, warum nur passiert denn das alles (noch) nicht? Denn statt komplizierter, hochpreisiger technischer Lösungen zeigen uns Termiten und Mangroven, wie es preiswert und mit oftmals einfachen Mitteln geht. Das Wissen aus diesem Buch muss an die breite Öffentlichkeit dringen, damit nicht nur große Konzerne als Gewinner hervorgehen, sondern unser gesamter Erdball, samt seiner vielfältigen Pflanzen- und Tierwelt, einschließlich des Menschen.

Einmal gelesen, kann ich dieses Buch trotz kleiner Kritikpunkte jedenfalls weiterempfehlen.