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Veröffentlicht am 21.09.2023

Leben im Konjunktiv

Eigentum
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Mit seinem Roman "Eigentum" hat Wolf Haas mich überrascht. Und berührt. Und an alte Geschichten aus meiner Familie erinnert.
In diesem, wohl als autofiktional zu bezeichnenden Buch, schreibt ...

Mit seinem Roman "Eigentum" hat Wolf Haas mich überrascht. Und berührt. Und an alte Geschichten aus meiner Familie erinnert.
In diesem, wohl als autofiktional zu bezeichnenden Buch, schreibt ein Autor über das Leben seiner Mutter und über deren letzte Tage vor dem Tod.
Plötzlich scheint es der Mutter gut zu gehen, sie will "zu ihren Leuten". Der Autor ist überrascht, ging es der Mutter doch stets schlecht. Kein Wunder, bei einem Geburtsjahr 1923, dem Jahr der höchsten Inflation, dem nachfolgenden Weltkrieg und den vielen schlechten Zeiten. Immer war die Mutter schlecht dran, immer reichte es nicht für sie, immer hat sie sich schwer getan. Und sich dadurch das Leben natürlich noch schwerer gemacht.
Zuerst war nicht genügend zu Essen da für alle, also musste sie schon früh auf einem anderen Bauernhof arbeiten. Dann kam ein Lichtblick: Sie durfte einen "Servierkurs" machen auf einer Art Hotelfachschule. Aber nur einen Tag, dann kam der Krieg. Danach noch mal der Kurs und viele Jahre in der Schweiz als Serviererin gearbeitet und immer brav das Geld nach Hause geschickt. Die Eltern haben davon ein Haus gebaut. Irgendwann kam sie (ungeplant) schwanger nach Hause und hat endlich ein eigenes Zimmer in diesem Haus bekommen. Aber für ein eigenes Haus reichte es nie. Der Mann zu arm und arbeitsscheu, die Inflation. Die Ersparnisse reichten nie aus, um die Anzahlungen zu leisten.... aber jetzt: Nach Ihrem Tod wird sie endlich Eigentum haben: Ungefähr 2 qm. Ihre Grabstäte. Schon makaber.

Wolf Haas schreibt lakonisch, manchmal fast sarkastisch. Aber immer mit viel Wärme im Tonfall über ein irgendwie typisches Leben einer Frau, die nie so richtig das bekam, was sie wollte. Trotz Intelligenz, trotz Fleiß. Weil: Alle Männer tot, nur einer ohne Schulabschluss übrig, die Inflation, die Armut....Glück wäre - hätte - könnte es gegeben haben. So lässt es sich zusammenfassen. Aber es gab nur "arbeiten, arbeiten, arbeiten" (die Mutter liebte das rhetorische Trias).
Der Schreibstil ist genial, irgendwie typisch österreichisch (der Konjunktiv!) und irgendwie salopp und doch ernsthaft. Eine Gradwanderung, so eine tragische Geschichte so zu erzählen. Funktioniert aber.

Ein schmales Buch, das sehr viel Inhalt hat. Nämlich ein ganzes Leben.

Für mich persönlich kamen viele Erinnerungen hoch an Erzählungen meiner Großmutter mütterlicherseits. Sie stammte auch aus einem kleinen Dorf aus einer armen und dafür kinderreichen Familie. Auch für Sie gab es nicht genügend zu essen und so musste sie schon als Kind Ziegen oder Schafe oder Kühe hüten oder Wäsche waschen bei anderen Leuten. Für ein Butterbrot. Sie waren 21 Kinder, allerdings nie alle zusammen. Weil einige starben früh, einige wurden erst geboren, als die Älteren schon aus dem Haus waren, die Jungs fielen im Krieg. (Kennengelernt habe ich als Enkelin dann nur noch 6 Schwestern). Nach 8 Schuljahren ging es bei meiner Oma dann "in Stellung". Irgendwo in Haushalt oder Landwirtschaft, weg von Zuhause. Meine Oma hatte ihr Leben lang gekrümmte Finger von der heißen Waschlauge als Kind und von der Eiseskälte draußen beim Aufhängen. Und auch sie kannte nur Armut. Sie hat es allerdings zu einem eigenen Haus gebracht. Aber nur, weil mein Opa ein Grundstück geerbt hatte. Es wurde nur gebaut, wenn Geld da war. Kredite waren nicht erwünscht (oder man hätte sie nicht bekommen, so als einfache Arbeiterfamilie). Mein Opa hat sicher nicht zum Spaß den gesamten Keller mit der Schaufel alleine ausgehoben... Bagger war zu teuer. Als meine Mutter nach der Ausbildung anfing zu arbeiten, ging ihr Verdienst an die Bauarbeiter. ..... Also hat mich die Geschichte auch persönlich berührt. Denn ja: So war es. Bei vielen. Nicht bei allen. Wer etwas darüber erfahren möchte, sollte dieses Buch lesen. Und wer eine sehr spezielle Art der Erzählung sucht, auch!

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Veröffentlicht am 21.08.2023

Unglaublich fesselnd & unglaublich wichtig. Ich konnte nicht aufhören, zu lesen!

Frag nach Jane
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Dieser Roman hat mir die Nachtruhe gestohlen. Aber das war vollkommen freiwillig. Ich habe abends um 21 Uhr angefangen zu lesen und frühmorgens aufgehört. Ich musste wissen, wie es weitergeht!

Dabei hatte ...

Dieser Roman hat mir die Nachtruhe gestohlen. Aber das war vollkommen freiwillig. Ich habe abends um 21 Uhr angefangen zu lesen und frühmorgens aufgehört. Ich musste wissen, wie es weitergeht!

Dabei hatte mich das Thema des Buches zunächst vordergründig geängstigt. Abtreibung, unfreiwillige Adoptionen. Heftig. Ist es auch. Aber es geht um mehr. Es geht insgesamt um das Thema "Freiwillige & Selbstbestimmte Mutterschaft". Ein leider aktuelles Thema, wenn man die neuesten Entwicklungen in einigen Staaten der USA bedenkt.....

Die Autorin erzählt abwechslungsreich und fesselnd und gleichzeitig sehr informativ von vor allem drei Frauen, die mit diesem Thema konfrontiert werden und die mehr miteinander zu tun haben, als man zunächst denkt.

Da ist Angela, die seit Jahren Mutter werden will und bei der die künstlichen Befruchtungen bisher immer fehlgeschlagen sind. Sie arbeitet in einem Antiquitätenladen, wo sie irgendwann in einer Schublade einen Brief einer Frau an ihr adoptiertes Kind findet. Angela versucht nun, das Kind zu finden und erfährt dabei eine Menge über illegale Abtreibungen und die Frauen, die für eine Legalisierung gekämpft haben.

Dann ist da Nancy, die selbst adoptiert wurde und ihre Cousine zu einer illegalen Abtreibung begleitet, die um ein Haar tödlich endet. Eine Ärztin empfiehlt ihr daraufhin, sie sollte in solchen Fällen alle Arztpraxen abtelefonieren und "nach Jane fragen", dann würde sie professionelle Unterstützung durch Ärzte bekommen. So wird Nancy auf das "Jane" Netzwerk aufmerksam.

Und dann gibt es Evelyn, die Anfang der 1960er Jahre unverheiratet schwanger wird, von ihren Eltern in ein von Nonnen geleitetes Heim für "gefallene" Mädchen gesteckt wird und gezwungen wurde, ihr Kind zur Adoption freizugeben.

Obwohl das Thema eher schwierig ist, fesselt das Buch und unterhält sogar, ohne seicht zu sein. Eine wirkliche Meisterleistung der Autorin.

Unbedingt lesen! Es gibt viele interessante Wendungen und Zusammenhänge, die nach und nach klar werden. Und am Ende einen unglaublichen Twist.

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Veröffentlicht am 10.07.2023

Moderne Liebesgeschichte über Menschen 40+

Stürmisch verliebt
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Mit 40+ ist das (Liebes-)leben noch längst nicht vorbei. Allerdings gibt es noch nicht all zu viele Romane, die dies thematisieren. Stina Jensen hat jetzt einen Roman geschrieben, der genau dieses Thema ...

Mit 40+ ist das (Liebes-)leben noch längst nicht vorbei. Allerdings gibt es noch nicht all zu viele Romane, die dies thematisieren. Stina Jensen hat jetzt einen Roman geschrieben, der genau dieses Thema aufgreift und erzählt. Da immer mehr Menschen älter und gleichzeitig fit, neugierig und aktiv sind, wird es Zeit, dies auch in der Literatur mehr zu würdigen!

Die Autorin Stina Jensen schreibt über eine Frau, die einen Liebesroman über nicht mehr ganz junge Frauen schreiben will und soll. Denn diese Altersgruppe kauft erwiesenermaßen die meisten Bücher (stimmt!).

Die Protagonistin Steffi ist schon Ende vierzig, ist früh Oma geworden und eigentlich ganz glücklich mit Tochter und Enkelkind und ihrem Job als Lektorin in einem Verlag. Nur romantische Liebe & Erotik, die gibt es derzeit nicht in ihrem Leben. Die Ehe ist schon längst gescheitert und alle Versuche danach waren nicht gerade von Erfolg gekrönt. Als dann ihr Verlag an neue Eigentümer verkauft wird, mit denen sie eine peinliche private Problematik verbindet, flüchtet Steffi auf die Nordseeinsel Nortrum, um dort ihren Resturlaub abzugelten und gleichzeitig einen Roman zu schreiben über die Liebe 40+. Sie kommt eigentlich ganz gut voran, aber Mark, der Sohn des Nachbarn, lenkt sie immer mehr ab.....

Stina Jensen ist ein spritziger, humorvoller und moderner Roman gelungen, der über genau einen solchen Roman erzählt. Ein wenig Buch im Buch, ein wenig Einblick ins Verlagswesen und eine realistische und moderne Schilderung von den vielen Verletzungen, Geheimnissen und Erfahrungen, die Menschen prägen, die die 40 schon längst hinter sich gelassen haben und sich zwar gerne verlieben würden - aber auch Angst davor haben.

Handlungsort ist die fiktive Insel Nortrum, die mehrere Romanautorinnen erschaffen haben, um einer Insel-Roman-Reihe den richtigen Rahmen zu geben. Dies ist der zweite Band, der auch eigenständig funktioniert. Wenn man alle Bände liest, bekommt man kleine Infos, was aus den Protagonisten aus den anderen Bänden geworden ist.

Also: Auf nach Nortrum!

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Veröffentlicht am 23.05.2023

Was für ein Buch! Über stille Stärke und unglaubliche Widerstandskraft

So weit der Fluss uns trägt
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Victoria wächst in den 1940er Jahren im westlichen Colorado auf einer Pfirsichfarm auf. Sie liebt die Natur, sie gibt ihr Kraft. Und die braucht Victoria uch. Denn sie musste in jungen Jahren schon viele ...

Victoria wächst in den 1940er Jahren im westlichen Colorado auf einer Pfirsichfarm auf. Sie liebt die Natur, sie gibt ihr Kraft. Und die braucht Victoria uch. Denn sie musste in jungen Jahren schon viele Schicksalsschläge verkraften. Früh verlor sie ihre Mutter und nun muss sie ganz alleine den Haushalt bewältigen und auf der Farm arbeiten. Victoria ist brav und fleißig und passt sich an, ihr gewalttätiger und unzuverlässiger Bruder Seth ist ihr keine Hilfe, im Gegenteil.
Nur einmal macht Victoria was sie will: Sie verliebt sich leidenschaftlich in einen Wanderarbeiten und schleicht sich heimlich davon. Denn Wilson Moon wird als "Indianer" beschimpft und die Gesellschaft in Colorado ist konservativ Ende der 40er Jahre. Es gibt jedoch eine Nachbarin, die allgemein als verrückt beschrieben wird, die Victoria unterstützt. Diese Unterstützung wird sie später noch brauchen, denn der nächste große Schicksalsschlag steht an. .....

Dieser Debütroman erzählt eigentlich eine tragische Geschichte. Von verlorener Liebe, gesellschaftlichen Zwängen und Verlust. Aber er erzählt auch von Durchsetzungsvermögen, von Widerstandskraft und von einer Frau, die ihren Weg geht. Ruhig und selbstbestimmt. Ohne große Bildung aber mit viel Intelligenz und einer ganz speziellen Beziehung zur Natur, die sie nährt und die ihr zeigt, dass es darauf ankommt, immer weiterzumachen. Egal, was kommt.

Mich hat dieses Buch sehr berührt und auch wenn ich zwischendurch kaum weiterlesen konnte, weil ich wusste, dass es jetzt wirklich schlimm wird, so war der Roman doch ein ganz großartiges Leseerlebnis. Denn es passiert nicht nur Schlechtes. Es gibt auch Freundschaft, Zusammenhalt, Hilfe von den "anständigen und einfachen" Leuten im Ort und ein großes Vertrauen in die Natur, die es auch immer wieder schafft, weiter zu leben.

So ein wenig hat mich der Roman an Hard Land von Benedict Wells oder Big Sky Country von Callan Wink erinnert. Beides Bücher, die auch von Verlust und Schwierigkeiten erzählen und doch so viel Menschlichkeit ausstrahlen.

Eine ganz große Leseempfehlung! Sobald das Buch erscheint: Lesen!

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Veröffentlicht am 17.05.2023

Was für ein kleines, feines, herzergreifendes Buch

Spargel in Afrika
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Abschied, Vater-Sohn und Eltern-Kind. Ein unerschöpfliches, existentielles Thema. In diesem schmalen Buch hervorragend dargestellt. Sprachlich sehr interessant gelöst. Vor allem wird das Thema anhand von ...

Abschied, Vater-Sohn und Eltern-Kind. Ein unerschöpfliches, existentielles Thema. In diesem schmalen Buch hervorragend dargestellt. Sprachlich sehr interessant gelöst. Vor allem wird das Thema anhand von Erzählungen übers Essen behandelt. Pfifferlinge, Weihnachtsessen und eben der titelgebende "Spargel in Afrika". Den hatte der Diplomaten Vater extra nach Afrika liefern lassen. Und dann hatte der Koch die Petersilien Kartoffeln vergessen...
Ein Sohn erinnert sich vor allem an diese Geschichte. An gemeinsame Mahlzeiten. Die oft das Verständnis und die Nähe ersetzen. Oder war genau das die Nähe? Und liegt im Gedanken an Essen nicht aus immer der Wunsch, genug zu bekommen? Genug Liebe, Zuwendung, Nahrung, Leben?


Es gilt im Roman für den Sohn Abschied zu nehmen vom Vater, der doch nur die Versäumnisse seiner eigenen Kindheit kompensieren wollte. Genauso, wie es der Sohn wiederum mit seinen Kindern macht. Wird der Sohn seinen Frieden finden und gestärkt seine Rolle als neue älteste Generation wahrnehmen können?

Mich hat diese Geschichte sehr berührt, sehe ich mich doch selbst als Mutter, für die "sorgen" auch "versorgen" ist. Gemeinsame Mahlzeiten, Schulbrote, Lieblingsessen kochen. So habe ich es selbst erfahren. Und unbewusst selbst so gemacht.
Gibt dieses Umsorgen Sicherheit und Nähe? Vielleicht? Hoffentlich!
Ich muss derzeit selbst schrittweise Abschied nehmen von meiner Mutter. Und letztens im Pflegeheim wollte meine Mutter unbedingt, dass ich mit ihr zusammen esse, sie hat mir ihr halbes Abendessen überlassen. Das Thema scheint uns also zu verbinden und hört auch im hohen Alter nicht auf. Danke Mutti für Deine Fürsorge!

Nicht alle Leser:innen werden ähnliche Erfahrungen haben. Die Erfahrung vom Abschied von den Eltern müssen wir aber irgendwie alle meistern. Daher eine ganz große Empfehlung für dieses Buch.

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