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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.10.2023

Intensive und sehr lesenswerte Introspektion einer Mutter-Tochter Beziehung

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft ...

Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft alles unaufhaltsam auf den einen Endpunkt zu.

Auf der äußeren Handlungsebene gibt es Johanna, die Ich-Erzählerin, eine ältere Künstlerin, die nach 30 Jahren in den USA in ihre norwegische Heimatstadt zurückgekehrt ist. Sie verließ damals zusammen mit einem anderen Mann ihre Ehe, ihre Familie und die Enge ihrer Herkunft um in den USA eine neues und anderes Leben zu beginnen. Mit ihrer Mutter verbindet sie seit der Kindheit ein sehr kompliziertes und schwieriges Verhältnis, das sie in ihrer Kunst in den USA verarbeitet. Das stößt beim Rest der Familie auf Unverständnis und Ablehnung und seitdem ist der Kontakt zur Mutter abgebrochen.

Auf der inneren Handlungsebene gibt es aber auch Johanna, in der, inzwischen selbst seit langem Mutter, noch immer das kleine verletzte Kind steckt, das sich nach der Nähe und der Liebe seiner Mutter sehnt.

Nach 30 Jahren wieder zurück in Norwegen drängen sich diese vergessen geglaubten Gefühle an die Oberfläche und die Erzählerin verstrickt sich zunehmend in Spekulationen über das Leben ihrer Mutter. Das obsessive Nachdenken über den Tagesablauf und die Beziehung der Mutter zu ihrer anderen Tochter Ruth nehmen sie immer mehr gefangen. Bald verfolgt, ja stalkt, sie ihre Mutter richtiggehend, ruft sie an, hofft auf eine zufällig Begegnung.

Doch die Mutter reagiert nicht und verweigert jede Kontaktaufnahme…

Vigdis Hjorth erforscht in ihrem introspektiven Roman dieses Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Gibt es ein Recht auf die Liebe einer Mutter?
Es rührt mich, wie diese lebenserfahrene Frau sich in ihrem Innersten noch immer nach der nie erreichten Liebe ihrer Mutter verzehrt. Wie sie an diesen nicht aufgearbeiteten Gefühlen leidet, ihr die Sicherheit entgleitet. Wie sie sich noch immer verletzten lässt.
Hjorth vermeidet dabei Pauschalisierungen und Schwarz-Weiß Malerei. Die Rolle der Bösen bleibt unbesetzt. Stattdessen zeigt sie die komplexen Ambivalenzen in dieser so wichtigen und usprünglichsten Verbindung zwischen Eltern und Kind.

Vor allem aber zeigt Hjorth, wieviel Macht diese Verbindung über uns haben kann, wenn wir es zulassen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ war für mich ein großer, rauschhaft gelesener, intimer Roman, der für mich viele persönliche Berührungspunkte hatte. Hat mich bewegt und mir sehr gefallen!

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Veröffentlicht am 07.09.2023

Geht unter die Haut

Die Stärkste unter ihnen
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Bereits die Beschreibung eines Blowjobs auf den ersten Seiten machen mich einfach nur unglaublich traurig und erfüllen mich mit starker Empathie für die Erzählerin, die sich „beim Sexuellen mit einer reinen ...

Bereits die Beschreibung eines Blowjobs auf den ersten Seiten machen mich einfach nur unglaublich traurig und erfüllen mich mit starker Empathie für die Erzählerin, die sich „beim Sexuellen mit einer reinen Dienstleistung meinerseits“ arrangiert.

Wenn mir eine Freundin das erzählen würde, was mir die Ich-Erzählerin Milena über ihre neue Internetbekanntschaft Josh, zu dem sie spontan für ein paar Tage nach Irland geflogen ist, erzählen würde, würden bei mir sämtliche Red flags aufleuchten.
Der Typ lebt noch bei seiner Mutter in seinem alten, ungepflegten Kinderzimmer, ist ein emotionaler und sexueller Under-Achiever und auch sonst kann ich keine sympathischen Benefits erkennen.
Doch bei Milena leuchten keine Red Flags, Milena ist fest entschlossen, sich in Josh zu verlieben.

Denn Milena ist, seit sie 15 ist, in einer missbräuchlichen Beziehung zu einem wesentlich älteren, verheirateten Mann, Nick. Josh und Irland ist für sie der nötige Ausstieg, den sie nach 6 Jahren Beziehung für den Absprung braucht. Mittlerweile ist Milena Anfang 20, das Machtgefälle zwischen ihr und Nick hat sich ein wenig zu ihren Gunsten verlagert, sie ist älter und erwachsener geworden.
Selina Seemann beschreibt in sehr eindringlicher Weise, wie Nick Grooming und Gaslighting als Methoden verwendet um immer wieder junge Mädchen in seine Abhängigkeit zu bringen und für seine (sexuellen) Zwecke zu missbrauchen. Das ist kein neues Thema in der Literatur, aber für mich noch lange nicht auserzählt. Zudem erzählt uns Seemanns Roman nicht nur von dem Vorgangs des Grooming an sich, sondern auch von den Folgen, die es für Milena und andere junge Frauen in der nachfolgenden Jahre hat.
Leider ist Nick nicht nur ein Pädokriminelles Arschloch, sondern leidet auch noch extrem an fragiler und gekränkter Männlichkeit, wenn er verlassen wird, was sich im jahrelangen Stalking seiner Opfer äußert.
Was mich an dem Roman, neben dem authentischen Schreibstil, besonders angesprochen hat, sind die (eigentlich will ich es gar nicht so nennen) Sexszenen.
In einer seltenen Deutlichkeit und sehr konkret beschreibt Seemann die teilweise entwürdigenden und traurigen Akte. Sie zeigt dabei ihre Figur in einer großen Verletzlichkeit und Nahbarkeit, die mir unter die Haut geht.

Im letzten Drittel hätte ich mir vielleicht noch einen etwas stärkeren Fokus auf das Stalking und die Folgen gewünscht. Irgendwie scheint mir die Handlung nach der Trennung von Nick wie abgeblendet, abgedimmt. Als würde die Zeit ohne Nick für Milena weitergehen ohne wirklich gelebt zu werden. Das mag Absicht sein, verliert aber im Vergleich zu den ersten zwei Dritteln des Romans an Strahlkraft.


Ein richtig starker, brisanter Roman, den ich wahnsinnig gerne und voll von Mitempfinden gelesen habe.

F.Y.I.: Passend zum Roman gibt es die gleichnamige Playlist auf Spotify!

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Veröffentlicht am 01.09.2023

Erinnerungen an Simone: eine Spurensuche

Simone
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Anja Reich ist Journalistin und Autorin. In ihrem neuen Roman “Simone” verarbeitet sie autobiografisch den Selbstmord ihrer gleichnamigen Freundin.

Wie so oft steht an erster Stelle die unvermeidliche ...

Anja Reich ist Journalistin und Autorin. In ihrem neuen Roman “Simone” verarbeitet sie autobiografisch den Selbstmord ihrer gleichnamigen Freundin.

Wie so oft steht an erster Stelle die unvermeidliche Frage nach dem Warum.

“Wir brauchen einen Sündenbock, einen Grund, eine Erklärung, versuchen zu verstehen, was wir nicht verstehen können, um selbst weiterleben zu können.”

Zusätzlich quält sich Reich mit starken Schuldgefühlen, denn Simone hat vor ihrem Suizid telefonisch versucht ihrer langjährigen Freundin etwas wichtiges anzuvertrauen.

„Simone“ ist mehr als der Versuch einer Analyse einer unbegreiflichen Tat. Reich skizziert und analysiert während ihrer Recherche das komplette, wenn auch kurze, Leben Simones.
Können bereits in kurz nach der Geburt Anzeichen entdeckt werden, die auf dem späteren Suizid Simones hindeuten?

Als Baby kam Simone in eine DDR-typische Wochenkrippe, von denen man heute weiß, dass sie das Bindungsverhalten für immer schädigen können.

“Trennung von Menschen, die ihr viel bedeuteten, warfen sie aus der Bahn, riefen Angst in ihr hervor”

Beide Mädchen werden im DDR-System groß und freunden sich an. Reich kommt für eine Weile mit Simones Bruder zusammen.

Dann der Mauerfall. Euphorie.

Aber es ist auch ein großer Umbruch, den einige nicht gut verkraften. Und Simone? Wie hat sie den Systemwechsel erlebt?

Während Reich beruflich Fuß fast und eine Familie gründet, ist Simone Dauerstudentin, hat Wechselnde Männerbekanntschaft. Aber immer die falschen, nicht verfügbaren Männer.
Wünscht sich Bindung und Nähe, aber hält sie nicht aus.

Das besondere an Reichs Recherchen sind neben dem bewegenden individuellen Leben von Simone, das sie sehr sensible beleuchtet, die gesellschaftlichspolitische Dimension, die immer mit einfließt.

So thematisiert Reich den Selbstmord als großes gesellschaftliches Tabu, das immer noch oft ausgeblendet oder verschwiegen wird.

Diese Mischung Spurensuche, Tagebüchern und Gespräche mit Angehörigen und Expert*innen macht den Roman für mich äußerst lesenswert. Emotional ergreifen mich vor allem die Enthüllungen der letzten Lebensjahre von Simone, die nicht glücklich, sondern von verzweifelter Suche nach Nähe geprägt sind.
Auch ich frage mich, ob Simones Leben anders verlaufen wäre, wenn manche Umstände vielleicht anders gewesen wären.

Diese Fragen können und werden nie beantwortet werden. Was Reich aber mit ihrem Roman erschafft ist etwas Bleibendes: es eine Erinnerung an eine verlorenen Freundin, Schwester und Tochter. Die Erinnerung an Simone.

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Veröffentlicht am 30.08.2023

Unterhaltsam, sexy und kaputt: Eine Liebesgeschichte aus New York

Cleopatra und Frankenstein
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Ich wollte diesen Roman unbedingt lesen. Und er hat meine Erwartungen nicht enttäuscht, ich mochte ihn ziemlich gerne.
Ein richtiger Page Turner.

Die spoilerfreie Kurzzusammenfassung könnte lauten: ein ...

Ich wollte diesen Roman unbedingt lesen. Und er hat meine Erwartungen nicht enttäuscht, ich mochte ihn ziemlich gerne.
Ein richtiger Page Turner.

Die spoilerfreie Kurzzusammenfassung könnte lauten: ein kaputter, mittelalter Mann und eine kaputte, junge Frau verlieben sich in einander, haben tollen Sex und heiraten spontan. So weit, so Romance.
Doch natürlich beginnt nach jeder Verliebtheit der Alltag und die Pheromone können bestehende Probleme nicht auf ewig überdecken…

Stimmt, der Plot hört sich jetzt nicht nach was noch nie Dagewesenem an und die Grundstory habe ich schon in verschiedenen Romanen und Filmen mit unterschiedlichem Ausgang gesehen.
Aber es ist eben auch einfach ein tolle Geschichte und ich will sie noch öfter in den verschiedensten Varianten lesen.
Vorausgesetzt die Rahmenbedingungen passen und das tun sie bei Coco Mellors ausgezeichnet.
Ihr Schreibstil ist sehr eingängig aber dabei ungewöhnlich und abwechslungsreich genug um einen gewissen Anspruch zu befriedigen. Die Nebenfiguren und Handlungen genau richtig in ihrer Anzahl um zusätzliche Themen einzubringen ohne die Haupthandlung zu überfrachten.
Auch die Sexszenen gefallen mir richtig gut, sie sind nicht zu glatt aber nicht kinky genug, um Anstoß zu erregen.

Wirklich very, very nice.

Hätten mir die oben genannten Benefits nicht so viel Freude gebracht, dann könnte ich einige Kritikpunkte anbringen. Die Feministin in mir stört sich etwas am Ausgang der Frank-Plotline, aber gut, bestimmt bin ich einfach nur neidisch. Außerdem, warum immer diese mittelalten Männer? Kann mensch seine junge weibliche Selbstzerstörung nicht mit gleichaltrigen Männern ausleben?

Aber ich will gar nicht kritisieren. Ich will sagen, dass mir der Roman trotz möglicher fragwürdiger Punkte einfach richtig gut gefallen hat und mir gute Lesestunden ohne Alltagssorgen bereitet hat.

Und das reicht definitiv für eine Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 15.08.2023

Emotional, wertvoll und empfehlenswert!

Kontur eines Lebens
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Nach dem Beenden des Romans durfte ich den beigelegten, geheimnisvollen Brief lesen. Er war vom Autor Jaap Robben selbst und sehr bewegend. Darin schreibt er über die Enstehungsgeschichte des Romans und ...

Nach dem Beenden des Romans durfte ich den beigelegten, geheimnisvollen Brief lesen. Er war vom Autor Jaap Robben selbst und sehr bewegend. Darin schreibt er über die Enstehungsgeschichte des Romans und die real zu Grunde liegenden Hintergründe und Menschen.
Seine Protagonistin Fieda Tendeloo ist fiktional und steht stellvertretend für viele Frauen ihrer Generation, nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in seinen Nachbarländern.

Frieda ist heute 81 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim, da sie seit dem kürzlichen Tod ihres Mannes nicht mehr alleine leben kann. Ihr einziger Sohn, der selbst kurz davor steht das erste Mal Vater zu werden, ist einer ihrer wenigen verbliebenen Sozialkontakte. Frieda ist keine rüstige thoughe alte Dame, wie ich sie aus anderen Romanen kenne. Robben beschreibt sehr einfühlsam aus Friedas Sicht, wie es sich anfühlt, selbst bei intimsten Verrichtungen auf bezahlte Hilfe angewiesen zu sein und wie sie immer mehr die Kontrolle über sich selbst und ihr Leben verliert.
Aber ich lerne auch eine ganze andere Frieda kennen, eine ganz junge Frieda, voller Träume, Liebe und Hoffnungen. Es ist die Frieda der Vergangenheit, der, trotz der geschlechtervorgegeben Bergrenzungen der damaligen Zeit, viele Wege offen stehen.
Bis sie sich in einen verheirateten Mann verliebt, mit ihm eine Affäre beginnt und ungeplant und ungewollt schwanger wird…

Ich finde die Passagen aus dem Heute sehr gelungen. Die unausgesprochenen Themen zwischen Mutter und Sohn, die langsam an die Oberfläche drängen, fangen einen ganzen Generationenkonflikt ein.
In den Erzählsträngen aus der Vergangenheit thematisiert Robben unter anderem die strengen gesellschaftlichen Konventionen denen v.a. Frauen unterworfen waren. Mir als glücklich unverheiratetes Elternteil macht das deutlich wie viel sich seither geändert hat.
Die Eingangs erwähnte Universalität seiner Figuren macht den Roman zu einem Spiegel dieser Zeit. Diese Universalität lässt den Figuren auf der anderen Seite für mich zu wenig Raum für Indiviualität. Sie wirken manchmal wie Spielbälle ihrer Zeit und ihres Schicksals und dadurch sehr determiniert. Das wirft die Frage auf, wie frei wir (auch heute) wirklich in unseren Handlungen sind oder doch durch die Umstände und unser Umfeld gezwungen sind.
Spannend finde ich die Frage, wie und ob trotz tragischer Vergangenheit ein glückliches, gutes Leben möglich ist und welche Rolle Schweigen und Verdrängung in diesem Kontext spielt.
Der Erzählstil ist konventionell und hält trotz der am Ende etwas zu gewollt erzeugten Suspense wenig Überraschungen bereit. Das kann je nach persönlichen Vorlieben als angenehm zu lesen oder als vorhersehbar aufgefasst werden.

Unabhängig davon erzählt Robben mit Friedas wertvoller Geschichte entlang der Kontur eines Lebens und schafft dabei einen sehr lesenswerten und zu Herze gehenden Roman.

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