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Veröffentlicht am 27.09.2023

Wie weit geht es nach unten?

Der berühmte Tiefpunkt
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Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt ...

Mariekes Leben ist, um es mal nett auszudrücken, gerade etwas suboptimal. Ihr absolut unsympathischer Freund Blok hat sie vor die Tür gesetzt und den Zugriff auf das gemeinsame Konto gesperrt. Sie wohnt in einem Mietwagen, die Waschmaschine im Waschsalon gibt ihre Wäsche nicht frei und die zuständige Person ist gerade im Urlaub. Überdies ist gerade eine regelrechte Gluthitze ausgebrochen, was die Tatsache, dass Marieke gerade nur eine Jeans und ein Sweatshirt hat, noch schlimmer macht, denn so langsam fängt sie auch an zu riechen. Auf Hilfe aus der Familie kann sie nicht zählen. Obwohl sie als Kind mehr oder weniger als Rettungsanker für die Mutter herhalten musste, hält diese lieber zu Blok. Auch die Schwestern bilden eher für sich eine Einheit in der Marieke außen vor ist. Alles in allem könnte man sagen: Es ist ziemlich kompliziert.
Auf ihrer Arbeit läuft es auch nicht gerade rosig. Sie ist allein auf ihrer Station im Pflegeheim, alle anderen sind schon ins neue (klimatisierte) Gebäude umgezogen und scheinen sie vergessen zu haben. Es gibt jeden Tag Wurst mit Apfelmus (was ist das bitte für eine Zusammenstellung???) und auch das Wasser, sowohl zum Trinken, als auch zur Pflege, kommt in Flaschen, da leider die Leitung abgestellt wurde. Und so versucht sie ihr Bestes die Patienten am Leben zu erhalten.
Es geht nicht schlimmer? Ja doch, geht es: zu allem Überfluss tritt ihr Vater wieder in ihr Leben, eine Person die sie lange ausgeschlossen hat und sie sieht sich mit ihrer Vergangenheit/Kindheit konfrontiert und muss sich längst überfälligen Fragen stellen.
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Als allererstes, und das mache ich sonst super selten, möchte ich das Wahnsinns-Cover hervorheben. Es ist bunt, es ist chaotisch, es ist lebendig, es ist einfach sehr meins und extrem gut gelungen. Hätte ich genug Platz um einzelne Bücher mit der Vorderseite nach vorn ins Regal zu stellen, dies hier wäre eins davon.
Kommen wir nun zur Geschichte. De Gryse erschafft eine vielschichtige, tiefgreifende Erzählung auf gerade mal knapp 250 Seiten. Marieke als Protagonistin ist gut gelungen, auch wenn ich mich nur selten mit ihr identifizieren konnte.
Thematisch werden sehr viele Themen berührt: die Kindheit, die geprägt war von toxischen Verhältnissen, der Depression der Mutter, des Wegbleiben des Vaters und der damit einhergehenden, viel zu zeitigen Übernahme von Verantwortung auf Seiten von Marieke, was sich bis ins spätere Leben auswirkt. Auch jetzt ist Marieke eher ein Mensch der einsteckt, Dinge mit sich selbst ausmacht, sich herumschubsen lässt. Die Verhaltensweisen der Mutter halten bis heute an und sind geprägt von Vorwürfen und Schuldzuweisungen.
Es verwundert nicht, dass Marieke in einer Beziehung landet, die ebenfalls lieblos und auf Abhängigkeit ausgelegt ist. Sie wird nicht gesehen, nicht anerkannt und schaut man dann noch die mehr als übergriffige Mutter von Blok an, setzt dies dem Ganzen die Krone auf.
Überdies wird mit den Abschnitten die im Pflegeheim spielen sehr harte Kritik an dem System geübt. Völlig zurecht wie ich finde. Auch wenn es hier sicher überzogen ist, wird klar, dass der Pflegenotstand ein großes Problem ist, dem viel zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Auch gut fand ich die Einbindung von Essen als Lösung der Probleme. Nicht an sich die Tatsache, aber die Thematisierung. De Gryse beschreibt sehr bildlich, wie Marieke sich immer wieder in den „Genuss“ flüchtet und das dies schon seit frühester Kindheit ein Problem ist. Ich denke auch hier ist es wichtig, dass dies mal aufgefasst wird, denn auch wenn rein theoretisch klar ist, dass Essen keine Probleme löst, ist es doch für den/die ein oder andere*n eine Bewältigungsstrategie, die weitere Probleme nach sich zieht.
Apropos Essen: Fleischesser werden definitiv auf ihre Kosten kommen, denn die Beschreibung und Zubereitung von Mahlzeiten geht sehr ins Detail. Für mich war es nix, schon allein die Beschreibung wie es sich anfühlt bestimmte Fleischarten zu kneten, fand ich ein bisschen eklig, aber das ist ein sehr persönliches Empfinden und nach fast 20 Jahren Fleischverzicht denk ich nachvollziehbar.
Der Schreibstil hat mir sehr zugesagt, ist locker und leicht und manchmal weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Es ist eine gute Mischung aus Humor und Drama und durch die immer wieder stattfindenden Rückblicke bekommt man einen tollen Gesamteindruck von Mariekes Leben. Zudem ist man mit der Anfangsszene, in der die Protagonisten nackt in ihrem Mietwagen aufwacht, weil jemand ans Fenster klopft, sofort drin in der Geschichte und kann es dann kaum aus der Hand legen.
Es ist eine Geschichte von Freundschaft, Rückschlägen, Familie und am Ende auch von der Befreiung aus alten Strukturen. Es geht um Selbstfindung und Selbstbestimmung.
Kurz gesagt: es ist ein fantastisches Debüt, dass ich euch sehr ans Herz legen kann.

Veröffentlicht am 14.09.2023

Tiefe Auseinandersetzung mit Mutterschaft und Familiengeschichte

Im Prinzip ist alles okay
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Myriam ist 30. Sie ist gerade Mutter geworden, liebt ihr Kind über alles, lebt mit ihrem Freund zusammen, der ein liebe- und verantwortungsvoller Vater ist und sollte eigentlich rundum glücklich sein. ...

Myriam ist 30. Sie ist gerade Mutter geworden, liebt ihr Kind über alles, lebt mit ihrem Freund zusammen, der ein liebe- und verantwortungsvoller Vater ist und sollte eigentlich rundum glücklich sein. Zumindest redet sie sich das ein. Im Prinzip ist ja alles ok… die Realität allerdings ist eine Andere: sie leidet an postnataler Depression, fühlt sich von allem überfordert und als schlechte Mutter. Sie hat Angst mit ihrem Kind allein zu sein, denk sogar, dass ihr Kind sie gar nicht leiden kann, weiß nicht, wie sie die Tage füllen soll, rutscht mehr und mehr in die Isolation ab und ihre Vergangenheit holt sie immer wieder ein.
Aufgewachsen mit zwei narzisstisch anmutenden Elternteilen, fällt es ihr nicht leicht ihren eigenen Wert zu sehen. Sie hat starke Selbstzweifel, möchte jedem gefallen, geht damit stark über ihre Grenzen (die sie wahrscheinlich selbst gar nicht so recht benennen kann). Die Beziehung der Eltern war geprägt von Gewalt, Myriam selbst hat davon zwar nichts (körperliches) abbekommen, dennoch aber feine Sensoren entwickelt. Auch ihre Beziehungen zu Männern sind überaus toxisch. Ihr erster Freund schlägt sie, ist permanent eifersüchtig und kontrollierend. Ihr jetziger Freund trägt selbst viele unbewusste Narben aus der Kindheit mit sich herum, was immer wieder großes Eskalationspotential bietet.
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„Im Prinzip ist alles ok“ ist ein Debüt… und was für eins. Es hat mich nachhaltig beeindruckt, wie die Autorin hier verschiedene Lebenswege erfasst und vor allem wie tief sie gerade bei Myriam dabei geht.
Schon der Titel hat bei mir für Aufmerksamkeit gesorgt, denn ich finde damit ist alles gesagt. Was bedeutet es „ok“ zu sein? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang „im Prinzip“? Solch eine Formulierung sagt so viel über das Gegenüber aus: am Ende das genaue Gegenteil. Es ist ein Zustand in dem man gerade so funktioniert, manchmal besser, manchmal schlechter, aber eben nie darüber hinaus. Es hat nichts mit leben zu tun, ist auf das Nötigste beschränkt und fühlt sich besch… an.
Am Beispiel von Myriam wird sehr deutlich bewusst, was es für ein Kind und die spätere Erwachsene bedeutet, Gewalt ausgesetzt zu sein, sich nicht gesehen zu fühlen, die eigene Wahrnehmung angezweifelt zu bekommen. Auch fehlende Unterstützung ist ein Problem. Trotz vorheriger Therapie und Abspaltung von der Familie, wird ihr immer wieder suggeriert nicht gut genug zu sein, undankbar zu sein, zu emotional zu sein… was dazu führt, dass sie in alte Muster zurück fällt. Sie will eine heile Familie, wobei sich dieser Wunsch sowohl auf die derzeitige, als auch auf die Herkunftsfamilie bezieht. Dies ist utopisch, zumindest wenn man die Schuld nur bei sich selbst sucht. Es ist schwer einzusehen, dass man andere Menschen nicht ändern kann und es fühlt sich erstmal egoistisch an, auf sich selbst zu schauen, aber manchmal ist das der einzige Weg sich zu retten.
Auch die Frage, was seine gute Mutter ausmacht, ob Liebe bedingungslos und auf Knopfdruck funktioniert, steht im Raum. Darf eine Mutter überfordert und traurig sein? Darf eine Mutter sich um sich selbst kümmern? Darf eine Mutter Angst vor ihrem Kind haben? In Myriams Fall wird schnell klar, wie schädlich das allseits akzeptierte und propagierte Bild einer Mutter ist. Denn dies schürt Druck, vermehrt Selbstzweifel und ist nun mal auch schlichtweg falsch. Jede Mutter weiß, dass Babys und Kleinkinder anstrengend sein können, das man an seine Grenzen stößt, manchmal auch einfach nur am Boden ist, weil man nicht weiter weiß und es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dies auch auszusprechen.
Yasmin Polat verarbeitet hier so viele wichtige Themen, angefangen mit einem realistischen Blick auf Mutterschaft und postnatale Depression. Themen die gern tabuisiert werden… auch toxische Familiengebilde werden analysiert, Grenzen und Bedürfnisse ausgelotet. Es wird nicht beschönigt, dafür ist dieser Roman auch nicht gedacht. Es ist kein Wohlfühlbuch, es tut teilweise weh es zu lesen und trotzdem ist es eine sehr große Empfehlung von mir. Ich finde wichtig, dass darüber geschrieben und gesprochen wird, einige werden sich sicher wiederfinden und damit vielleicht auch ein bisschen verstanden fühlen, anderen hilft es vielleicht das Gegenüber besser zu verstehen, wieder anderen wird klar, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.

Veröffentlicht am 01.09.2023

Wenn das Nichts zu groß wird

Und hinter mir das Nichts
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„𝘌𝘣𝘦𝘯 𝘸𝘢𝘳 𝘦𝘴 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘯𝘰𝘤𝘩 𝘥𝘢 𝘨𝘦𝘸𝘦𝘴𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯, 𝘥𝘢𝘴 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘸𝘢𝘳 - 𝘻𝘶𝘮𝘪𝘯𝘥𝘦𝘴𝘵 𝘳𝘦𝘪𝘯 𝘧𝘢𝘬𝘵𝘪𝘴𝘤𝘩, 𝘢𝘶𝘧 𝘥𝘦𝘮 𝘗𝘢𝘱𝘪𝘦𝘳.“ (𝘚.74)

Sara ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie sitzt schon auf gepackten Umzugskisten, ...

„𝘌𝘣𝘦𝘯 𝘸𝘢𝘳 𝘦𝘴 𝘥𝘰𝘤𝘩 𝘯𝘰𝘤𝘩 𝘥𝘢 𝘨𝘦𝘸𝘦𝘴𝘦𝘯, 𝘥𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯, 𝘥𝘢𝘴 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘸𝘢𝘳 - 𝘻𝘶𝘮𝘪𝘯𝘥𝘦𝘴𝘵 𝘳𝘦𝘪𝘯 𝘧𝘢𝘬𝘵𝘪𝘴𝘤𝘩, 𝘢𝘶𝘧 𝘥𝘦𝘮 𝘗𝘢𝘱𝘪𝘦𝘳.“ (𝘚.74)

Sara ist Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie sitzt schon auf gepackten Umzugskisten, will gerade bei ihrem (unter uns, sehr unsympathischen) Freund einziehen, als etwas passiert, was ihr Leben komplett aus der Bahn wirft. Ein Patient von ihr, Herr Mangold, begeht Suizid. Nichts hat vorher darauf hin gedeutet und sie macht sich Vorwürfe irgendetwas übersehen zu haben, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben…
Von diesem Augenblick an ist alles anders: Sie hinterfragt sich selbst und ihre Beziehung, kann ihre Arbeit nicht aufrecht erhalten, verlässt ihren Freund, findet sich in Gedanken immer wieder mit ihrer Kindheit und der eigenen Endlichkeit konfrontiert.
Eines Tages taucht plötzlich Nikto, eine unbekannte Frau auf, die Sarah seltsam vertraut vorkommt und eine Menge über ihr Leben zu wissen scheint. Doch kann diese ihr helfen wieder zu sich selbst zu finden?
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Ich hab mich wahnsinnig auf das 2. Buch der Autorin gefreut, war ich doch von ihrem Debüt „Gleich unter der Haut“ komplett hingerissen. Und was soll ich sagen: Ich wurde nicht enttäuscht.
Berthe Obermanns versteht es sich in Menschen einzufühlen und Themem zu skizzieren, von denen man gern die Finger lässt. Suizid und psychische Erkrankungen sind solche Themen, die Bearbeitung ist ihr grandios gelungen. Zum einen kommt es durch den Freitod von Herrn Mangold, nicht nur bei der Protagonistin Sara, zu Fragen: Was bringt einen Menschen dazu dem Leben selbst ein Ende zu setzen? Hätte es verhindert werden können? Wer trägt Schuld und hat diese überhaupt jemand? Und ganz allgemein: Ist es überhaupt angemessen die Entscheidung einer Person zu hinterfragen?
Sara verrennt sich regelrecht in diese Fragen, analysiert wieder und wieder Gesprächsprotokolle, versucht einen roten Faden zu finden und scheitert.
Der Tod nimmt sie so wahnsinnig mit, warum bleibt unklar, könnte aber auf fehlende oder geringe Resilienz bedingt durch ihre Kindheit zurück zu führen sein.
„𝘏𝘦𝘶𝘵𝘦 𝘸𝘦𝘪ß 𝘪𝘤𝘩, 𝘥𝘢𝘴𝘴 𝘦𝘴 𝘢𝘶𝘤𝘩 𝘚𝘤𝘩𝘮𝘦𝘳𝘻𝘦𝘯 𝘨𝘪𝘣𝘵, 𝘥𝘪𝘦 𝘦𝘸𝘪𝘨 𝘢𝘯𝘩𝘢𝘭𝘵𝘦𝘯, 𝘧𝘶̈𝘳 𝘪𝘮𝘮𝘦𝘳 𝘸𝘦𝘩𝘵𝘶𝘯.“ (𝘚.65)
Viel erfahren wir nicht darüber, die Erinnerungen bleiben schwammig, aber es schwingt viel Düsteres mit, viel Verdrängtes… Es bleibt Lesenden selbst überlassen Interpretationen zu kreieren und Schlüsse zu ziehen.
Der Auftritt von Nikto bleibt auch vorerst rätselhaft. Was will diese Frau? Woher weiß sie soviel? Es macht den Anschein als würde sie Sara (auf nicht grad einfühlsame Art) anleiten, die richtigen Fragen stellen, versuchen sie zurück ins Leben zu führen und auch mit der Vergangenheit abzuschließen. Erst relativ spät ist mir klar geworden, wer Nikto eigentlich ist. Auch hier bleibt Obermanns undeutlich, lädt zu Spekulationen ein, lässt meine bestehende Meinung immer wieder umbrechen. Sie schafft es perfekt ein, in meinen Augen, wenig bekanntes psychologisches Krankheitsbild einzuflechten, auf das ich leider an dieser Stelle nicht näher eingehen kann, da dies viel zu viel vorwegnehmen würde, daher lest es einfach selbst (und meldet euch gern, wenn ihr euch darüber austauschen wollt).
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Im Fazit konnte mich „Und hinter mir das Nichts“ ebenso begeistern, wie das Debüt. Ein sehr gelungener Roman, der mit Tabus bricht, sehr viel Raum für eigene Gedanken bietet und die Grenzen der Realität gekonnt aufweicht.

Veröffentlicht am 15.08.2023

Wunderbar und einfühlsam

Kontur eines Lebens
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Frieda ist 81 und gerade Witwe geworden. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr geliebter Louis vor ihr geht. Nun steht sie allein da, kann dir Aufgaben die ihr Mann bis dato erfüllt hat nicht selbst ...

Frieda ist 81 und gerade Witwe geworden. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr geliebter Louis vor ihr geht. Nun steht sie allein da, kann dir Aufgaben die ihr Mann bis dato erfüllt hat nicht selbst wahrnehmen und so zieht sie ins Altersheim.
Aber nicht nur die neue Umgebung macht ihr zu schaffen, auch jahrzehntelang verdrängte Erinnerungen treten zu Tage und machen ihr das Leben schwer.
In jungen Jahren war sie schwanger, durfte sich aber nie um ihr Kind kümmern. Auch den Vater hat sie nie wieder gesehen und es lässt ihr keine Ruhe, sodass sie sich, mit Hilfe ihres Sohnes, auf die Suche macht.
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Jaap Robben geht auf sehr einfühlsame Weise auf ein Thema ein, dass wenig bekannt ist und lange totgeschwiegen wurde. Es geht um den Umgang mit Totgeburten in der Nachkriegszeit. Auch Schwangerschaften außerhalb einer Ehe und Mütterheime werden beleuchtet und es ist ein ums andere Mal unfassbar so etwas zu lesen.
Dies alles wird auf wunderbare Weise an der Geschichte von Frieda erzählt, die wir auf zwei Zeitstrahlen verfolgen. Friedas Geschichte ist nur eine von vielen, zeigt aber das Schicksal vieler junger Mütter der damaligen Zeit auf.
Schwanger von einem verheirateten Mann, streng katholisch erzogen, kommt es für Friedas Eltern natürlich nicht in Frage das Kind zu behalten, obwohl Frieda dies gern möchte. Erst wird sie zu einem Abbruch gedrängt, als es dafür zu spät ist, soll sie in einem Mütterheim entbinden und das Kind zur Adoption freigeben.
Schaut man sich die Geschichte der Mütterheime an, schaut man auf Grauen und die absolute Entmündigung von Frauen. Viele wurden dort hingeschickt, schon Monate vor der Geburt um die Schwangerschaft zu verheimlichen, mussten dort arbeiten, später entbinden und haben nie erfahren, was aus dem Kind geworden ist. Es gab keinerlei Mitspracherecht oder gar die Möglichkeit sich für das Kind zu entscheiden. Viele dieser Heime liefen unter Schirmherrschaft der Kirche, wurden von Nonnen geführt, hatten mit Nächstenliebe aber sehr wenig zu tun.
Frieda verlässt daraufhin ihr zu Hause und versucht sich mit Ottos Hilfe selbst durchzuschlagen, trifft aber auf immer mehr Probleme. Als ledige Frau, noch dazu schwanger findet sie nirgends eine Unterkunft. Sie verliert ihre Arbeit, da ihr Chef befürchtet, das ihr „Zustand“ seinem Geschäft schadet. Als sie endlich eine Wohnung findet, herrschen dort so miserable Zustände, dass sie letztendlich ihr Kind verliert. Nur die Füße bekommt sie zu Gesicht, bevor es weggebracht wird, niemand erzählt ihr was los ist und als sie im Krankenhaus versucht Antworten zu bekommen, wird ihr geraten zu vergessen, da sie sonst in eine Psychatrie eingeliefert wird. Und genau dies tut sie… Sie verdrängt die Erlebnisse, baut sich ein neues Leben auf, heiratet, bekommt einen Sohn. Aber wie das mit Traumata so ist… irgendwann kommen sie wieder.
Die Tatsache, dass Sternenkinder damals anonym, meist in irgendwelchen hinteren Ecken von Friedhöfen begraben wurden, ohne dass die Eltern davon wussten, ist mehr als grausam. Ein Abschied wird verweigert und damit auch die Möglichkeit damit abschließen und es verarbeiten zu können. Viele sind daran zerbrochen, wurde in psychiatrische Einrichtungen abgeschoben, haben sich ein Leben lang nicht davon erholt.
Wenn ich solche Geschichten lese, fällt es mir tatsächlich immer sehr schwer zu begreifen, dass wir uns hier nicht im Mittelalter befinden, sondern gerade mal 60 Jahte in die Vergangenheit blicken. In eine Vergangenheit, in der Frauen keinerlei Rechte an ihrem Körper hatten, als sie als nicht mündige Personen behandelt wurden, als sie ohne Mann nichts wert waren, keine Arbeiten und keinen Wohnraum bekommen haben. Und so ist dieser fiktive Roman nicht nur ein Blick in die Geschichte und Freude darüber, was bis dato in Hinblick auf Frauenrechte geschafft wurde, sondern auch ein Mahnmal in einer Zeit, in der sich vieles wieder rückständig anfühlt.
Die Protagonistin ist nicht immer nett, hat viele Ecken und Kanten, reagiert teilweise ungehalten, aber sie ist sehr authentisch. Mit Blick auf ihre Vergangenheit erschließt sich vieles im Verhalten und so mochte ich sie trotz allem unglaublich gern. Sie hatte mein vollstes Mitgefühl und auch meine Wut hinsichtlich der Ungerechtigkeit, der sie ausgesetzt war.
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Im Fazit eine riesengroße Empfehlung meinerseits.

Veröffentlicht am 26.07.2023

Schonungsloses, intensives Debüt

Gleich unter der Haut
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„𝘐𝘤𝘩 𝘴𝘦𝘩𝘦 𝘥𝘪𝘦 𝘝𝘰𝘳𝘥𝘦𝘳𝘴𝘦𝘪𝘵𝘦 𝘷𝘰𝘳 𝘮𝘪𝘳: 𝘉𝘦𝘳𝘨𝘦, 𝘩𝘦𝘭𝘭𝘣𝘭𝘢𝘶𝘦𝘳 𝘏𝘪𝘮𝘮𝘦𝘭, 𝘨𝘭𝘪𝘵𝘻𝘦𝘳𝘯𝘥𝘦𝘳 𝘚𝘤𝘩𝘯𝘦𝘦. 𝘚𝘤𝘩𝘰̈𝘯𝘦 𝘛𝘢𝘨𝘦 𝘪𝘮 𝘒𝘭𝘪𝘴𝘤𝘩𝘦𝘦. 𝘋𝘢𝘴 𝘱𝘦𝘳𝘧𝘦𝘬𝘵𝘦 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯. 𝘋𝘢𝘻𝘶 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘪𝘮 𝘒𝘰𝘯𝘵𝘳𝘢𝘴𝘵.“ (𝘚. 29)

Niklas hat vor nicht allzu langer Zeit ...

„𝘐𝘤𝘩 𝘴𝘦𝘩𝘦 𝘥𝘪𝘦 𝘝𝘰𝘳𝘥𝘦𝘳𝘴𝘦𝘪𝘵𝘦 𝘷𝘰𝘳 𝘮𝘪𝘳: 𝘉𝘦𝘳𝘨𝘦, 𝘩𝘦𝘭𝘭𝘣𝘭𝘢𝘶𝘦𝘳 𝘏𝘪𝘮𝘮𝘦𝘭, 𝘨𝘭𝘪𝘵𝘻𝘦𝘳𝘯𝘥𝘦𝘳 𝘚𝘤𝘩𝘯𝘦𝘦. 𝘚𝘤𝘩𝘰̈𝘯𝘦 𝘛𝘢𝘨𝘦 𝘪𝘮 𝘒𝘭𝘪𝘴𝘤𝘩𝘦𝘦. 𝘋𝘢𝘴 𝘱𝘦𝘳𝘧𝘦𝘬𝘵𝘦 𝘓𝘦𝘣𝘦𝘯. 𝘋𝘢𝘻𝘶 𝘮𝘦𝘪𝘯𝘦𝘴 𝘪𝘮 𝘒𝘰𝘯𝘵𝘳𝘢𝘴𝘵.“ (𝘚. 29)

Niklas hat vor nicht allzu langer Zeit seine Eltern bei einem Autounfall verloren. Er selbst saß mit im Auto, hat überlebt und ist seitdem mehr Hülle als alles andere. Von seiner Familie ist nur Nora, seine Schwester und seine demenzkranke Oma, um die er sich versucht zu kümmern, übrig.
Eines Tages trifft er auf Lou, schöpft neuen Lebensmut, sieht wieder einen Sinn. Für sie will er weiterleben, nur hat Lou selbst ein großes Päckchen zu tragen und sieht das ein bisschen anders als Niklas.

„𝘚𝘪𝘦 𝘯𝘪𝘤𝘬𝘵, 𝘩𝘢̈𝘭𝘵 𝘪𝘯𝘯𝘦, 𝘴𝘤𝘩𝘦𝘪𝘯𝘵 𝘻𝘶 𝘶̈𝘣𝘦𝘳𝘭𝘦𝘨𝘦𝘯, 𝘥𝘢𝘯𝘯 𝘧𝘭𝘶̈𝘴𝘵𝘦𝘳𝘵 𝘴𝘪𝘦: »𝘑𝘢, 𝘢𝘣𝘦𝘳 𝘪𝘤𝘩 𝘨𝘭𝘢𝘶𝘣𝘦, 𝘦𝘴 𝘪𝘴𝘵 𝘣𝘦𝘴𝘴𝘦𝘳, 𝘦𝘴 𝘨𝘦𝘳𝘢𝘥𝘦 𝘥𝘢𝘯𝘯 𝘻𝘶 𝘣𝘦𝘦𝘯𝘥𝘦𝘯, 𝘸𝘦𝘯𝘯 𝘦𝘴 𝘴𝘤𝘩𝘰̈𝘯 𝘪𝘴𝘵. 𝘈𝘮 𝘌𝘯𝘥𝘦 𝘴𝘰𝘭𝘭𝘵𝘦 𝘦𝘴 𝘴𝘤𝘩𝘰̈𝘯 𝘴𝘦𝘪𝘯.«“ (𝘚. 242)

Berthe Obermanns Roman ist unglaublich dicht und intensiv. Thematisch wird wahnsinnig viel bearbeitet. Von Trauerbewältigung, über Missbrauch, Selbstverletzung, Depression, Pflege von Angehörigen und Essstörungen, von allem ist ein bisschen was dabei.
Als ich erste Rezensionen dazu gelesen habe, dachte ich mir: Klingt zwar gut, aber ist es möglich, so viele Themen auf tiefe Art und Weise einzubauen auf gerade mal 260 Seiten? Die Antwort lautet klar: Ja, ist es!
Obermanns ist es in ihrem Debüt gelungen ohne Umschweife und emotionale Ausbrüche auf verschiedene Problematiken einzugehen. Teilweise sehr nüchtern leitet sie durch die Geschichte.
Ob nun die Überforderung durch die Pflege der Oma, die unverarbeitete Trauer um die Eltern, Nora’s Esstörung, die unerwähnt bleiben soll oder Lou‘s Verhalten auf Grund von Traumata… alles ist realistisch beschrieben, nichts wirkt zu viel, es ist einfach eine unglaublich gelungene Geschichte.
Selten schafft es ein Buch, dass ich erstmal inne halte und kein neues zur Hand nehmen will. Dieses hier hatte den Effekt. Ich lag, wie Lou, erstmal 10 Minuten da, hab die Decke angestiert…
Im Fazit ein großartiges Buch, ohne viel Schnickschnack, einfach auf den Punkt. Große Empfehlung von mir.