Die eine Wahrheit gibt es nicht
Wer sind Sie denn wirklich, Herr Gasbarra?Ich habe das Buch ausgewählt, weil es mich an meine eigenen Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vater-Wahrheit erinnert hat. Wie würde ein unehelicher, nicht rechtmäßig anerkannter Sohn, der ...
Ich habe das Buch ausgewählt, weil es mich an meine eigenen Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vater-Wahrheit erinnert hat. Wie würde ein unehelicher, nicht rechtmäßig anerkannter Sohn, der seinen Vater nur einmal gesehen hat und sich nicht daran erinnern kann, dem Unbekannten begegnen? Mit Wut, mit Bitterkeit, mit Abscheu, mit Verachtung? All das wäre möglich, aber dieses Buch zeigt eher das Gegenteil.
Schon bevor Gabriel Heim sich auf die Suche machte, hat ein Literaturhistoriker versucht, die Geheimnisse des Felix Gasbarra zu lüften. Aber er kam beim Verlag dann mit seinem Manuskript nicht zum Zuge, Gabriel Heim wollte ein ganz anderes Buch über seinen Vater verfassen und wurde unter Vertrag genommen. Die interessanteste Wendung nimmt dann die Reise nach Südamerika zur Stiefschwester Claudia. Sie war mit ihrer Mutter, der Malerin Doris Homann, Ende der 1940er Jahre nach Brasilien ausgewandert. In Brasilien findet Gabriel Heim dann das Herzstück seines geplanten Vater-Buches: „Die Quelle“ heißen die Lebenserinnerungen von Doris Homann, die schon 1974 verstarb, sehr doppeldeutig. Es finden sich in einer alten Seekiste noch andere Überbleibsel der Geschichte des Felix Gasbarra, aber auch andere Quelle nutzt der Autor für sein Buch.
Geschätzt 20 Prozent des Textes beruhen auf den, in abweichender Schrift gedruckten, Erinnerungen der Doris Homann. Gefühlt aber bestimmt diese Frau das Buch ganz überwiegend, fast wird sie zur Hauptperson, denn ihre Erinnerungen beziehen sich zu einem großen Teil auf ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Probleme. Als Leser muss man schon sehr genau verfolgen, wie die Charakterisierung des Felix Gasbarra und sein sehr verworrener Lebenslauf daraus hervorkommen. Doris Homann ist eine aufstrebende Künstlerin, kommt aus sehr gutbürgerlichen Kreisen und ist ihr Leben lang ihrer Erziehung treu geblieben. Künstlerisch ist Käthe Kollwitz ihr Idol und Vorbild.
Felix Gasbarra, 1895 unehelich geboren, halbitalienischer Herkunft, im bürgerlichen Milieu seiner deutschen Mutter, einer Schauspielerin, in Berlin großgeworden und verzogen, so sehr verzogen, dass er kaum der Mutter von der Seite weichen mag, wendet sich nach dem Ersten Weltkrieg dem radikalen Kommunismus zu. Seine ersten Erfahrungen mit dem Bücherkarren erinnerten mich an die bürgerliche Ursula Kuczynski (später Agent Sonja/Ruth Werner), die ähnliche Erfahrungen in ihrer Biografie beschreibt. Gasbarra seinerseits wird zum aktiven Mitglied der kommunistischen Theaterszene um Erwin Piscator. Beide wird eine lebenslange Freundschaft verbinden, auch eine Brieffreundschaft, die in Beispielen abgedruckt ist. Es ist ein schwieriges Auf und Ab in den Zwanziger Jahren in Berlin, Gasbarra lernt Doris Homann kennen, wird aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und verlässt sich mehr und mehr auf Doris‘ überlebenswichtige Arbeiten und die hemdenbügelnde und für ihn waschende Mutter. Piscator seinerseits weiß seinen Freund Gasbarra in jeder Hinsicht für sich einzuspannen und auszunutzen. Doris beschreibt jene Jahre sehr anschaulich, auch wie Gasbarra sie ausbeutet und mehr oder weniger dezent betrügt. Gasbarra, der nicht nur Theatermann, Dichter, Dramaturg ist, sondern auch ein begnadeter gelernter Tischler, wird sich später überall und nirgends als Doktor oder Dottore titulieren lassen, jegliche Berichtigungen unterlässt er tunlichst.
Noch im „Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945“, 1999 bei K G Saur München erschienen, erfährt man, dass Gasbarra ein Dr. phil sei und in Bonn promoviert habe. Dieser Titel wird auch noch bei wikipedia.de in den allerersten Einträgen um 2014 vermerkt. Heute ist er getilgt und auch Gabriel Heim weiß in seinem Buch zu berichten, dass der „Dottore“ ein Fake war. Geschadet hat das Gasbarra offenbar überhaupt nicht.
Der wusste sich ein Leben lang aus missliebigen Situationen zu retten, hängte sein Fähnchen in den Wind und betrügt seine Ehefrau, wo er kann. Dass er sie fast ins Verderben stürzt, hat ihn ebenso wenig tangiert wie seine Eifersucht, die ihr so manche Chance auf dem Kunstmarkt verdarb. Doris aber liebt ihren Felix und macht alles mit, schlimmer noch, sie ist diejenige, die ihn mit am Leben hält, obwohl sie ihn mit verstandesmäßiger Entscheidung längst hätte fallen lassen müssen. Tragisch. Erstaunlicherweise hat Gasbarra zu seinen beiden Töchtern trotzdem ein gutes Verhältnis, besonders zu älteren.
Gasbarra dient sich eloquent durch alle Machthaber, nach Hitlers Machtergreifung folgt ein jeher Wechsel der Gesinnung: vom kommunistischen Agitator wird er zum Mitglied des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller, er tritt in die Partei der italienischen Faschisten ein, ohne mit der Wimper zu zucken, später schreibt er Reden für Mussolini und Übersetzungen, deren Inhalt er als Kommunist nicht mit dem Feuerhaken berührt hätte. Folgerichtig war sein Abgang Richtung Rom, Doris ist innerlich entsetzt, aber hält sich mit Meinungsäußerungen zurück. Sie lebt in den Dreißiger Jahren in einem Haus der Familie in Schreiberhau in Schlesien. Erst als es auch für sie zu gefährlich wird, zieht sie mit italienischem Pass zu Felix nach Italien.
Felix‘ Arbeit bleibt ihr weitgehend fremd, irgendwann ziehen sie nach Frascati in der Nähe Roms, richten sich dort ein und leben, abgesehen von Felix‘ Arbeit, ein bäuerliches Leben. Das wird jäh zerstört durch alliierte Bomben. Kaum ist Mussolini Geschichte, ist Felix der Wehrmacht mit seinen Sprachkenntnissen zur Hand, und als auch diese Machthaber verschwinden, sucht er sich ein neues Betätigungsfeld. Der anpassungsfähige Gasbarra geht nie unter. Doris macht das alles mit, organisiert, überlebt, und irgendwann kurz nach dem Krieg werden beide auf ihre Kosten Burgbesitzer in Bozen. Da sie dort endlich begreift, dass ein Leben mit Gasbarra sie vollkommen ausbrennt und ausbremst, wandert sie zur Tochter Livia in Brasilien aus, Claudia mit ihr. Einmal, in ihrer Quelle wird sie schreiben: „So doof wie ich war niemand.“ Ich sehe das nicht nur situationsbezogen auf die wegen Felix ausgeschlagene Chance, bei Bernheim-Jeune in Paris auszustellen, ich sehe es als ein trauriges Fazit ihres Lebens mit Felix.
Gasbarra bleibt auf der Burg Kampenn zurück, und kaum ist er allein, tritt seine alte, immer aktuelle Liebe Ilse auf den Plan und lässt sich von Gasbarra das lang ersehnte Kind machen. Hier schließt sich der äußere Kreis. Gabriel Heim als Ergebnis dieser unendlichen Liebe kehrt mit diesem Buch die vielen Scherben zusammen, die sein Vater hinterlassen hat.
Ob Gasbarra tatsächlich „Kommunist im Herzen, Atheist in der Seele und Gotteslästerer aus Überzeugung“ ist, das wage ich zumindest im Bezug auf den Kommunisten zu bezweifeln. Aus meiner Sicht ist Felix Gasbarra eher ein Opportunist, ein talentiertes Chamäleon, aber ein Verräter an der Sache des Kommunismus auf jeden Fall. Was das Privatleben Gasbarras anbelangt, versage ich mir die Meinungsäußerung. Das steht mir nicht zu, schon Gabriel Heim wird es schwer genug gefallen sein, dieses Buch so objektiv wie möglich zu verfassen.
Heim tendiert manchmal zum Überformulieren seiner bedeutungsschweren Sätze, aber insgesamt liest sich dieses Buch recht gut. Die sogenannte geschlechtergerechte Sprache hat Heim wohl schon als das neue Normal verinnerlicht, er schreibt von Jüdinnen und Juden, die im nächsten Moment alle zu Juden werden, das gilt auch für Emigranten und Genossen, mir ist es lästig. Für Leser, die Biografien mögen, Geschichte lieben und gern Neues lernen, ist das Buch bestens geeignet. Günstig ist, wenn man ein Handy oder Tablet in der Nähe hat, um sich das eine oder andere italienische oder französische Wort zu übersetzen. Was mir tatsächlich fehlte im Buch, ist ein Namensindex. Und anstelle der dicken Trennstriche hätte ich Zwischenüberschriften und eine Einteilung in größere Kapitel (z. B. nach Jahren oder Orten) bevorzugt. Dann wäre auch ein Inhaltsverzeichnis möglich gewesen, das beim Wiederauffinden besonders interessierender Textstellen helfen würde.
Traurig hat mich gemacht, wie viele der Kunstwerke von Doris Homann verloren und verschollen sind. Das im Buch Gezeigte zeugt von einer interessanten und begabten Künstlerin, die in Deutschland leider kaum bekannt ist, neben einer Kollwitz aber gut bestehen würde.
Fazit: Felix Gasbarra bleibt an vielen Stellen ein Geheimnis, an vielen Stellen blass, Doris Homann ist die feste Bank, auf die sich dieses Buch stützt. Die geschichtlichen Hintergründe werden gut lesbar und interessant dargestellt, die Illustrationen machen das Buch komplett. Gabriel Heim kann, so wie ich das bei meinem Vater auch empfunden habe, mit dem Thema abschließen, sich innerlich mit ihm versöhnen, ihm vergeben, wohl wissend, dass es die eine Wahrheit niemals gibt.