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Veröffentlicht am 04.09.2023

Höllenpflanze auf Erden

Der Wald
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Per Postsendung erhalten tausende Haushalte auf der ganzen Welt kleine Päckchen mit Pflanzensamen. Arglos setzen viele Empfänger diese auch tatsächlich ein im Garten oder im Blumenkisterl, die Überraschung ...

Per Postsendung erhalten tausende Haushalte auf der ganzen Welt kleine Päckchen mit Pflanzensamen. Arglos setzen viele Empfänger diese auch tatsächlich ein im Garten oder im Blumenkisterl, die Überraschung wenige Tage später ist allerorts groß, löst das neuartige Gewächs doch Allergien aus, führt nach Berührung zu Brandblasen und wächst verblüffenderweise über alles andere hinweg. Kein Mittel scheint zu helfen, die Höllenpflanze namens Assassina incognita vereint Eigenschaften unterschiedlicher Gattungen in sich, lässt sich nicht systematisch einordnen und schon gar nicht vom Menschen bekämpfen. Übernimmt das Kraut aus China - denn von dort werden die unbeschrifteten Sackerl verschickt – die Macht? Verliert der Mensch seine Lebensgrundlage? Erobert sich die Natur ihren Raum auf der Erde zurück?

Überaus spannend und kurzweilig mit vielen knappen Kapiteln und rasch wechselnden Szenen präsentiert sich dieser Thriller zum Thema Pflanzen, Menschen, Technik. Auch der flotte Schreibstil verführt zum Gefühl, immer noch ein Stückchen weiterlesen zu wollen, bis schließlich alles aufgeklärt ist. Unterschiedliche Handlungsstränge geben anfangs nicht preis, wohin die Reise führt, der deutsche Botaniker und Pflanzenneurologe Marcus Holland jedenfalls findet sich alsbald in Amerika und Asien ein, um mit seiner Expertise zu helfen und Ursachen nachzuspüren.

Auch wenn man etliche Figuren nur flüchtig kennenlernt, da sie nur Handlanger des Themas selbst sind, bekommt man beim Lesen Gänsehaut. Ist das alles reine Fantasie oder ist tatsächlich „alles Unglaubliche an dieser Geschichte wahr“? Wie sich Menschen unterschiedlicher Standpunkte verhalten, wie eine Pflanze auf äußere Gegebenheiten reagieren kann, ja, wie sogar Johann Wolfgang von Goethe mit dem Ganzen zu tun hat, das erfährt der Leser auf diesen unfassbaren 464 Seiten. Nicht alle beleuchteten Teilaspekte haben mein Interesse getroffen, dennoch führen sämtliche Fäden am Ende logisch zusammen. „Erinnern Sie sich noch, was beim Covid-Lockdown in diesem Land los war, als Mehl und Klopapier knapp wurden und die Geschäfte und Schulen schlossen? Noch einmal werden die Menschen das nicht mit sich machen lassen.“ (kindle, Pos. 1297). Das hoffe ich auch, dass nicht nochmals – aus welchem Grunde auch immer – Macht und Zwang ausgeübt werden kann, Andersdenkende ausgegrenzt und diffamiert werden, nur noch eine einzige Meinung gültig sein darf und Diskurs Schnee der gestrigen wissenschaftlichen Herangehensweise ist.

Unterhaltsam, gruselig, realistisch – das ist „Der Wald“ auf alle Fälle, egal, wie man zu Natur, Technik und Menschheit steht.

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Veröffentlicht am 02.09.2023

Smart Home

App to die
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In der Musikszene heißt es „sehen und gesehen werden“ – Produzent Siegfried Sunny Sommer lädt also zu seinem vierzigsten Geburtstag ein in seine Villa. Freunde, Bekannte, alte Hasen, neue Gesichter, selbst ...

In der Musikszene heißt es „sehen und gesehen werden“ – Produzent Siegfried Sunny Sommer lädt also zu seinem vierzigsten Geburtstag ein in seine Villa. Freunde, Bekannte, alte Hasen, neue Gesichter, selbst Konkurrenten treffen hier aufeinander, um vielleicht auf einem Pressefoto zu erscheinen oder gar in einem Bericht erwähnt zu werden. Drei aufmerksame Roboter kümmern sich um das Wohl der Gäste, reichen Champagner und Häppchen, eine ausgeklügelte elektronische Steuerung im Smart Home sorgt nicht nur für perfekte Lichtstimmung und musikalische Untermalung. Als diese jedoch verrücktspielt und alle im Haus einsperrt, wird die Villa zur Todesfalle, die erste Leiche liegt im Keller. Die Gewissheit, dass aufgrund der verschlossenen Türen und Fenster der Mörder im Haus sein muss, sorgt für Aufregung.

Nach einem einleitenden Kapitel über eine Musikpräsentation, bei der man nicht recht weiß, um wen es im Grunde geht, kommt Fabian Lenk schnell zur Sache. Die Villa dient als perfekte Kulisse, um zu zeigen, wie unterschiedlich Menschen auf eine bedrohliche Situation reagieren, wie schnell die praktischen und bequemen elektronischen Helfer zum Gegenteil mutieren, wenn sie nicht mehr vom eigentlichen Besitzer gesteuert werden, sondern von einem Hacker oder einem Dieb. Teils brutale oder abscheuliche Szenen mischen sich ins Geschehen, um die Spannung noch ein wenig mehr zu steigern. Kann überhaupt jemand aus diesem Haus entkommen? Und wenn ja, durch welche Strategie? Wer behält die Nerven in dieser schockierenden Situation, wer wird überlistet? Viele Fragen, die zu beantworten sind. Auch wenn die Handlung streckenweise skurril und überzogen wirkt, so ist doch die Annahme berechtigt, dass es schwerwiegende Probleme geben kann, sobald man sich vollends auf die Technik verlässt, ja sich davon abhängig macht.

Ein gelungener und flott dahinfließender Thriller mit einigen grausigen Details. Türen versperren und lesen!

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Veröffentlicht am 27.08.2023

Treibgut

Schwestern wie Ebbe und Flut
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Die Nordseeinsel Amrum ist für Mira ein Sehnsuchtsort. Immer wieder kehrt sie aus Hamburg hierher zurück, wo sie glückliche Stunden mit ihrem Patenonkel Ocko verbracht hat, über den Kniepsand geschlendert ...

Die Nordseeinsel Amrum ist für Mira ein Sehnsuchtsort. Immer wieder kehrt sie aus Hamburg hierher zurück, wo sie glückliche Stunden mit ihrem Patenonkel Ocko verbracht hat, über den Kniepsand geschlendert ist, Treibgut eingesammelt und dabei Ockos phantasievollen Seemannsgeschichten gelauscht hat. Nach dem Tod des alten Mannes erbt sie dessen Kapitänshaus, welches jedoch bei einem Sturm zerstört wird. Die schwere Seemannskiste bleibt zum Glück unversehrt und mit ihr ein altes Geheimnis, dem Mira nun nachspürt.

In Erwartung einer Erzählung über Mira und ihre etwas jüngere Schwester Anke taucht man ein in die raue Schönheit Amrums, die reetgedeckten Dächer, die Dünen, die Weite des Meeres. Keineswegs landet man dabei in einem flachen Sommerroman, den man schnell so nebenbei liest, vielmehr eröffnen die beiden anderen Handlungsstränge, einer ebenfalls in der Gegenwart, der andere etliche Jahre zurückliegend, eine vielseitige und tiefgründige Geschichte, die durchaus glaubwürdig klingt und nicht nur an einfallsreiches Seemannsgarn erinnert. Während Anke schon ihren Platz auf der Insel gefunden hat, pendelt Mira wie Treibgut hin und her zwischen Hamburg und Amrum, insbesondere nach Ockos Tod fällt es ihr schwer, eine Entscheidung zu treffen – was soll sie mit dem Kapitänshaus anfangen? Ihre Schwester würde es sofort abreißen und auf dem Grundstück Ferienwohnungen errichten lassen, Mira hingegen hängt an dem alten Gemäuer samt seinen Erinnerungen.

Mit vielen Bildern, einer spürbaren Atmosphäre, aber wenigen Worten zwischen den Hauptfiguren kommt Thesche Wulff aus, um diesen anfangs fast verwirrenden Roman zu Papier zu bringen. Überrascht, was denn eine liebevolle und hilfsbereite Tante Friede mit all dem zu tun hat und eine „Kleine“ etliche Jahrzehnte zuvor, tappt der Leser einige Zeit lang im Dunklen, offene Kapitelenden laden aber ein, neugierig den Weg der so unterschiedlichen Frauen weiterzuverfolgen. Die Stimmung ist überwiegend von einer gewissen Traurigkeit umnebelt, das Ende, welches ebenfalls ohne viele Worte auskommt, passt in seiner Kürze perfekt. Gut, dass nicht noch irgendein abschließendes Heile-Welt-Kapitel anschließt – so ist es genau richtig und passt zu den wortkargen Nordseebewohnern. Was kommt, bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.

Trotz einiger Längen und der anfänglich schwer zu erkennenden Zusammenhänge ein sehr schön zu lesendes Buch, welches ich gerne weiterempfehle.



Veröffentlicht am 26.08.2023

Schwere Zeiten

Der Klang eines neuen Lebens
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Nach der letzten Meinungsverschiedenheit mit der Schwiegermutter packt Emma ihr kleines Bündel und geht von Gut Meinersleben zurück in die Heimatstadt Köln, welche nach dem Kriegsende 1945 in Trümmern ...

Nach der letzten Meinungsverschiedenheit mit der Schwiegermutter packt Emma ihr kleines Bündel und geht von Gut Meinersleben zurück in die Heimatstadt Köln, welche nach dem Kriegsende 1945 in Trümmern liegt. Von ihrem Mann Christian hat sie schon seit Monaten nichts mehr gehört, er gilt als vermisst. Neben stundenlangem Anstellen für einen Kanten Brot und erschöpfender Hausarbeit verdient sie sich ein paar Reichsmark als Kellnerin und später als Musikerin mit ihrem geliebten Akkordeon, zusätzlich interessiert sie sich für die Geschäfte des Untermieters Kurt, der wohl mit illegalen Machenschaften zu tun hat.

Sehr genau schildert Marion Johanning die Nachkriegszeit, geprägt von Hunger, Wohnungsnot und Kälte. Kaum das Notwendigste ist mit den Lebensmittelmarken zu bekommen, der Schwarzmarkt floriert, die Angst um Angehörige, die Trauer um die Toten raubt vielen die letzten Kräfte. Emma gibt alles, um ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder zu helfen, ein einfaches Leben ist das in der zerbombten Stadt zwischen all den Trümmern wahrlich für niemanden. Was es mit Kurt auf sich hat, was man von ihm halten darf, ob er ein dreister Lügner ist oder ein gerissener Charmeur, was er in all seinen Jahren bisher erlebt hat, das erfährt der geneigte Leser erst nach und nach mittels Rückblenden, sodass sich dieses Puzzle nur langsam zusammensetzen lässt. Genau das aber hält sie Spannung aufrecht und lässt einen neugierig Kapitel um Kapitel weiterlesen.

Trotz der widrigen Umstände der Zeit spürt man Hoffnung und Zuversicht, hält ein lesenswertes Buch in Händen. Wer weiß, was die Fortsetzung bringen wird?

Veröffentlicht am 21.08.2023

Szenen aus dem Leben

Das Café ohne Namen
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1966. Mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, zuletzt am Karmelitermarkt, verdient Robert Simon seinen Lebensunterhalt. Das Viertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist heruntergekommen, aber aufstrebend. ...

1966. Mit verschiedenen Gelegenheitsarbeiten, zuletzt am Karmelitermarkt, verdient Robert Simon seinen Lebensunterhalt. Das Viertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk ist heruntergekommen, aber aufstrebend. Und so erfüllt sich Robert seinen Traum mit der Pacht eines Lokals. Ein kleines Café, das gar kein eigentliches Café ist, lockt genug Gäste an, um gut über die Runden zu kommen. Menschen kommen, Menschen gehen, manche prägen Roberts eigenes Leben weniger, manche mehr. Aufbruch und Zukunft liegen bereits im Jetzt.

Ein wenig verträumt, ein wenig melancholisch, ein wenig realistisch – mit diesem gelungenen Mix beschreibt Seethaler zehn Jahre aus Roberts Leben im Karmeliterviertel. Besonders der Beginn ist interessant zu lesen, welche Träume der junge Mann hegt und wie er entschlossen an die Umsetzung herangeht. Dann verliert sich die Handlung eher in einzelne Episoden, in denen ganz unterschiedliche Menschen im Mittelpunkt stehen, hier aber sieht Seethaler ganz genau hin, beschreibt Einzelheiten detailliert, erzählt den Alltag in all seiner Beschwerlichkeit, flicht Augenblicke der Freude locker ein. Damit erschafft der Autor eine ganz besondere Atmosphäre vom Wien der 1960er- und 1970er-Jahre: Markstände, Fabriken, Farbfernsehen und Vierteltelefon, Straßen und Gassen im Grätzel zum Flanieren, am Abend ein Besuch im Kino, am Wochenende ein Picknick im Augarten, im Sommer ein Tag an der Alten Donau. Ein einfaches Leben prägt die Gäste in Simons Café, am Ende bleiben etliche von ihnen ebenso ohne Namen wie das Lokal. Ein schöner Streifzug durch vergangene Jahre, kaum verblasst, heißt es neue Ziele anzustreben: die eingestürzte Reichsbrücke muss wieder aufgebaut werden, neu hinzu kommen U-Bahn und Uno-City, kaum ist eine Etappe erreicht, beginnt die nächste …

Schöne Erinnerungen finden sich in diesem Büchlein, besonders für jene, die den zweiten Bezirk schon damals gekannt haben.