Vielschichtiger Roman über Suchende
TaumelnDas ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. ...
Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. Dafür habe ich jetzt bei ihrem zweiten Roman, verführt durch die interessante Kurzbeschreibung und die vielversprechende Leseprobe, zugegriffen.
Luisas Schwester Hannah ist seit mehr als zwei Jahren verschwunden. Niemand weiß, wo die junge Frau ist und Luisa vermutet, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist. Doch als die polizeilichen Ermittlungen keinerlei Spuren ergeben, verlaufen die groß angelegten privaten Suchaktionen irgendwann im Sand. Nur ein kleiner, harter Kern von acht Menschen rund um Luisa trifft sich regelmäßig am Wochenende, um weitere Teilabschnitte des Waldes zu durchsuchen.
Nicht der rätselhafte Fall der verschwundenen Schwester, sondern diese Gruppe von Menschen und Luisa selbst steht im Zentrum von Scherzants neuem Roman.
Obwohl die meisten von ihnen Hannah nicht mal kannten, hat jede*r von ihnen seine eigene innere Motivation, an den Suchaktionen teilzunehmen.
Beispielsweise der mittelalte Junggeselle Frank. Er ist vereinsamt, fühlt sich im Leben gescheitert und ist auf der Suche nach sozialen Kontakten und nach einem Daseinszweck.
“Ihr Verlust hat ihm eine Art Hobby beschert und einen Grund, am Samstag aufzustehen, zu duschen, sich einen Kaffee zu machen, obwohl das Lämpchen schon blinkt, obwohl die Maschine entkalkt werden müsste, aber dafür hat er an den meisten Samstagen keine Zeit, denn er wird gebraucht, im Wald, da warten sie auf ihn.”
Die Suchenden wachsen zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die man fast Freundschaft nennen könnte. In Luisas eigenem Leben wurde durch das Verschwinden ihrer Schwester die Stoptaste gedrückt und die Familie schwer und nachhaltig erschüttert. Sie führen ein Leben wie in einem Wartezimmer.
Scherzant greift in ihrem Roman viele Themen auf. Manche wie Depressionen und die Konkurrenz unter Schwestern, werden nur angedeutet. Andere, wie das Thema Einsamkeit, werden stärker ausgearbeitet. Das gelingt ihr meiner Meinung nach gut, auch wenn eine klarere Fokussierung auf weniger Inhalte vielleicht noch stärker gewesen wäre.
Auch literarisch variiert Scherzant mit verschiedenen Stilmitteln, Tempi und Erzählformen, was sehr gut ihr schriftstellerisches Können zeigt, aber in meinen Augen vielleicht auch etwas zu beliebig verwendet wird.
Viele der von ihr verwendeten Bilder und die sprachliche Ausgestaltung finde ich richtig gut, wie beispielsweise der starke und interpretationsoffene Schluss.
Besonders gefällt mir, dass Scherzant zeigt, wie im Alltag viel von der Aufmerksamkeit, die wir unseren Mitmenschen und vor allem den Menschen die wir lieben, widmen sollten, verloren geht. Geht ein Mensch verloren, bekommen diese verschenkten Augenblicke neues Gewicht.
„Taumeln“ ist nicht die Geschichte, wie das Rätsel der verschwundenen Hannah gelöst wird. Es ist vielmehr die vielschichtig erzählte Geschichte von Menschen, die nicht nur im Wald, sondern im Leben auf der Suche sind.
Für mich vielleicht kein Highlight, aber ein interessanter und lesenswerter Roman einer vielversprechenden Autorin und Schriftstellerin.