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Veröffentlicht am 19.09.2023

Ein Mann kommt an eine Bar ...

Regen
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»Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst ...

»Sehen Sie, wir können jedem vergeben. Unseren Eltern, unseren Kindern, unseren Freunden und selbst unseren Feinden. Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen, das kann nur der Gläubiger tun. Ihre eigene Schuld verjährt nicht. Damit müssen Sie leben. Oder auch nicht.« S.19

Wir begegnen einem namenlosen Mann an der Bar, der vor dem Regen geflüchtet ist. Als Schöffe hat er gerade seinen ersten Verhandlungstag hinter sich gebracht. Doch das Verbrechen ist nur der Auslöser für einen gedankenschweren Monolog, in dem er über Schuld und Vergebung sinniert, über den Menschen an sich. Eigentlich ist er Schriftsteller, zumindest hat er ein Buch geschrieben, für die Liebe seines Lebens. Doch alles lief anders als gedacht.

»Seit 17 Jahren bin ich ein durch und durch lächerlicher Schriftsteller, der nicht mehr schreibt. Ich gehe trotzdem jeden Morgen rüber ins Schreibzimmer. Die Menschen wollen ja immer etwas sein, was sie nicht sind. Ich sitze dann am Schreibtisch und trinke Kaffee und rauche und schreibe nichts. Als das bei Hemingway so war, ging er nicht mehr in eine Bar. Er schoss sich den Kopf weg. Das kann ich verstehen, weil der Kopf ja sowieso schon weg ist.« S.28

Unser namenloser Protagonist hadert mit seinem hoffnungslosen Leben, mit seinem Scheitern, mit Verlust und Einsamkeit. Er reflektiert über Gutes und Schlechtes in unserer modernen Gesellschaft.

Nun ist die Kurzgeschichte in Form eines Theatermonologs noch kein Buch, also bekommen wir noch ein Interview mit dem Autor, das zwar bereits in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde, ich aber noch nicht kannte. Hier spricht von Schirach sehr offen über sein Leben als Schriftsteller, seine Depression und seinen Umgang damit.

Die Themen aus dem Interview verbinden sich mit denen in der Geschichte und bilden für mich eine Einheit. Ich fand es sehr interessant, mehr über den Menschen hinter den Büchern zu erfahren.


»Ich schreibe jeden Absatz 30-, 40-, 50-mal um. Es geht darum, dass am Ende der einfachste Satz übrig bleibt. Nur das, was man einfach sagen kann, ist wahr. Es geht um das einfachste, klarste Wort, das Sie finden können.« S.63

Genau das macht von Schirach für mich aus, die glasklare Reduktion, ein Text in seiner ganzen Schlichtheit, der Raum lässt für eigene Gedanken und Reflexionen.
Das Büchlein – sei es auch noch so dünn – hat einige Gedankenanstöße in mir ausgelöst und ich werde es sicher noch ein zweites Mal lesen.
Man darf gespannt sein, wenn von Schirach ab Oktober damit durch Deutschlands Theater tourt und seinen eigenen Protagonisten in persona auf der Bühne verkörpert.

Meine Bewertung bezieht sich allein auf den Inhalt, nicht den Umfang des Buchs. Da es ein eigenständiges Theaterstück ist, lässt es sich sicher nicht in mit anderen Kurzgeschichten kombinieren und hat daher eine Daseinsberechtigung als eigenständiges Werk. Ob man bereit ist, dafür das Geld auszugeben, muss jeder selbst entscheiden, denn 20 Euro sind viel Geld. Mir ist es das auf jeden Fall wert.

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Eine ergreifende Biografie

Dich zu verlieren oder mich
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»Meine Großmutter war der Überzeugung, dass der Allmächtige einem Menschen kaum eine schwerere Prüfung auferlegen könne, als ein Mädchen in Afghanistan zu sein. Als Kind wollte ich kein Mädchen sein. Ich ...

»Meine Großmutter war der Überzeugung, dass der Allmächtige einem Menschen kaum eine schwerere Prüfung auferlegen könne, als ein Mädchen in Afghanistan zu sein. Als Kind wollte ich kein Mädchen sein. Ich wollte nicht einmal, dass meine Puppen weiblich waren.« S.11

Das, was wir hier lesen, ist kein Roman! Ist ist die traurige, erschütternde aber auch hoffnungsvolle Lebensgeschichte einer afghanischen Frau und Mutter, die ergreifend und mutig schildert, was für uns Frauen hier in Deutschland unvorstellbar ist. Eine Geschichte, die unter die Haut geht. Unterbrochen werden die Kapitel von Briefen an ihren Sohn Siawash, der ihr mit nur 19 Monaten weggenommen wurde. Ihm versucht sie ihr Leben zu erzählen, damit er versteht, wie tief ihre Liebe zu ihm ist, und um Tausenden hilflosen afghanischen Frauen Mut zu machen.
Qaderi wächst in Herat, einer Großstadt im Westen Afghanistans auf. Schon früh wird für Qaderi deutlich, dass man ihrem Bruder andere Geschichten erzählt, Geschichten von Dschinns, von Wünschen, die in seinem Leben wahr werden können. Ihr machte vor allem ihre Großmutter, Nanah-jan, immer wieder deutlich, wo ihr Platz ist und was man von ihr erwartet.

»Meine Nanah-jan sagte immer: »In den Augen eines Mädchens sollte man Angst erkennen.«« S. 14

Unter der Herrschaft der Taliban wächst sie zur Frau heran und muss miterleben, wie den Frauen alle Rechte aberkannt werden. Sie dürfen nicht ohne männliche Begleitung auf die Straße gehen, sie dürfen nicht mehr lernen, keinen Beruf ausüben. Verstöße werden mit Auspeitschungen bestraft, schlimmstenfalls droht ihnen die Enthauptung. Doch Qaderi ist willensstark, mutig und rebellisch, findet immer wieder Wege, sich zu widersetzen und anderen Mädchen in ihrem Ort Mut zu machen.

Mit der Unterstützung ihrer Eltern gründet sie mit 13 Jahren eine Mädchenschule, offiziell, um den Koran zu studieren– das einzige Buch, das überhaupt noch gelesen werden darf. Aber sie bringt den Kindern Lesen und Schreiben bei, begleitet von der ständigen Angst, erwischt zu werden, denn es könnte für sie die Todesstrafe bedeuten. Doch das Leben wird sie noch vor eine Entscheidung stellen, deren Konsequenzen für jede Mutter unerträglich wären.

Dieses Buch hat mich immer wieder zu Tränen gerührt, manchmal war ich sprachlos, manchmal musste ich es zur Seite legen, weil es schier nicht zu verkraften war. Von Beginn an hat Qaderi mich mit ihren starken, poetischen und berührenden Worten gefesselt. Wie viel Mut es braucht, sich den Regeln und Gesetzen einer zutiefst konservativen patriarchischen Gesellschaft zu widersetzen, wenn klar ist, welche Konsequenzen zu befürchten sind. Ob russische Intervention, Bürgerkrieg oder Talibanherrschaft, das Land kennt keinen Frieden und keine Freiheit. Frauen werden zu Objekten degradiert, sind Vergewaltigungen, Zwangsheiraten und Polygamie ausgeliefert. Wie kostbar dagegen die kleinen Siege sind, die immer wieder errungen hat.

In einem sehr bewegenden Nachwort schreibt sie:
»Ich konnte es nicht fassen, dass ich eines Tages wieder gezwungen sein sollte, gegen die Taliban zu kämpfen. Aber die Wirklichkeit wurde zur Fratze, und die Weltgemeinschaft zeigte ihr wahres Gesicht, indem sie uns im Stich ließ.« S.233

Vielleicht erinnert ihr euch an die Bilder, als 2021 deutsche und US-amerikanische Truppen das Land verlassen, an die Menschen, die mit ihrer Verzweiflung und den neuen alten Talibanherrschern zurückgelassen wurden.
Bitte lest dieses Buch und vergesst nicht die Frauen in Afghanistan und all den anderen Ländern, die die Menschenrechte mit Füßen treten. Dieses Buch wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.

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Veröffentlicht am 14.09.2023

Ein dunkles Kapitel in der deutsch-tschechischen Geschichte

Blinde Tunnel
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Als das schwedische Paar Sonja und Daniel sich in Böhmen einen Weinberg kaufen, sollte es für beide ein Neuanfang werden. Die Kinder sind aus dem Haus, um ihr Ehe steht es nicht zum Besten, und Sonja fragt ...

Als das schwedische Paar Sonja und Daniel sich in Böhmen einen Weinberg kaufen, sollte es für beide ein Neuanfang werden. Die Kinder sind aus dem Haus, um ihr Ehe steht es nicht zum Besten, und Sonja fragt sich mehr als einmal, warum es ausgerechnet Tschechien sein musste und nicht Portugal oder Spanien.
Das dazugehörige Haus ist ziemlich marode und als Daniel eine Mauer im Keller einreißt, entdecken sie dahinter nicht nur staubige Weinflaschen, sondern ein altes Tunnelsystem. Doch in dem Kellergewölbe finden sie auch die mumifizierte Leiche eines Jungen, der eine weiße Armbinde trägt. Die Polizei scheint sich nicht für die Identität des Jungen zu interessieren. Sie werden sogar aufgefordert, nicht darüber zu reden.
Zur gleichen Zeit lernen sie Anna kennen, eine englische Anwältin mit ostdeutschen Wurzeln. Kurz darauf wird sie tot auf dem Weinberg gefunden und Daniel als Verdächtiger verhaftet. Was hat Anna, die angeblich als Touristin unterwegs war, früh morgens auf ihrem Grundstück zu suchen?

Der Tod des Kindes ist der Auslöser für Sonjas Recherche, die sie in einn dunkles Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte führt. Alsterdal konzentriert sich zunächst darauf, die angespannte Stimmung in dem kleinen Ort zu zeichnen. Denn sobald die Sprache auf die Vergangenheit kommt, zeigen sich die meisten ziemlich zugeknöpft oder äußern unverhohlen ihre Meinung über die Sudetendeutschen von damals. Sonja findet bei Marta in der einzigen Buchhandlung im Ort erste Antworten, die Grausames offenbaren. Sonja ist schockiert, auch ihr Weingut hatte ehemals einer deutschen Familie gehört.

Die Geschichte der Sudetendeutschen reicht bis ins Mittelalter zurück und endete mit der grausamen Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Menschen wurden verprügelt, gefoltert, getötet, mussten ihr Hab und Gut aufgeben und wurden aus dem Land getrieben.

Es war mein erstes Buch der schwedischen Krimiautorin und ich hatte einen soliden Krimi erwartet – bekommen habe ich einen spannenden, tiefgründigen und gut recherchierten Kriminalroman, der bis in den Zweiten Weltkrieg zurückreicht. Obwohl mir viele der historischen Fakten bekannt waren, konnte sie mich mit einigen neuen überraschen, denn die grausame Vertreibung hinterließ ihre Spuren auch in der Gegenwart.

Mir gefällt Alsterdals unaufgeregte, ruhige Art des Erzählens. Wer einen rasanten Krimi vermutet, liegt hier falsch und wird enttäuscht sein. Wer sich aber für das Thema der Sudetendeutschen interessiert, findet eine fundierte, gut recherchierte Story wieder. Das damals brutale, grausame Vorgehen der Tschechen wird ungeschönt geschildert, dass ich manchmal echt schlucken musste. Aber auch alle Folgen, die daraus erwachsen sind, der heutige Umgang damit haben mich stellenweise echt erschüttert.
Es geht um Vergangenheitsbewältigung und den daraus entstandenen Traumata, Wegschauen und Schweigen, Herkunft und Heimatlosigkeit.
Gegen Ende des Buches zieht sie das Tempo noch mal merklich an und bringt meine ganzen Vermutungen ins Wanken. Für mich war es eine sehr gelungene, überraschende Lektüre, die ich allen gern empfehle, die tiefgründige Geschichten mögen und keinen Pageturner suchen.

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Veröffentlicht am 10.09.2023

Mutig und mitreißend

Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden
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Ehrlich, hattet ihr auch schon mal böse Fantasien, als ihr von sexuellen Missbrauch, vor allem von Kindern, gehört habt? Die Autorin Mvogdobo geht noch einen Schritt weiter und erzählt von den Mordfantasien ...

Ehrlich, hattet ihr auch schon mal böse Fantasien, als ihr von sexuellen Missbrauch, vor allem von Kindern, gehört habt? Die Autorin Mvogdobo geht noch einen Schritt weiter und erzählt von den Mordfantasien der fünf Schwestern, die von ihrem Vater missbraucht wurden.

»Ich werde meinen Vater umbringen. Ich werde ihn töten, auslöschen, hinrichten, eliminieren, ins Gras beißen lassen, ihn über den Jordan schicken, das letzte Stündlein für ihn schlagen lassen. Ich werde mit ihm abrechnen und mich dabei endlich selbst befreien.« S.13

... denkt sich die schwangere Céleste und ersinnt mit ihrer Schwester Sheshe und ihren Halbschwestern Lea und Marion äußerst kreative Tötungsarten, die sehr detailliert geschildert werden.
Nach vielen Jahren in der Schweiz – und nach vielen Frauen – kehrt der Vater im Alter in sein Heimatland Kamerun zurück, wo er von der ältesten Tochter Séraphine pflichtbewusst umsorgt wird. Die vier Schwestern planen also ihre Reise nach Kamerun und wollen Séraphine ins Boot holen, die Afrika nie verlassen hat und in einem traditionellen Rollenbild verhaftet ist. Doch den Alten umzubringen, gestaltet sich dann doch schwieriger als gedacht.

Mvogdobo lässt alle Frauen, einschließlich der Mütter zu Wort kommen. Und während ich mich noch über den »Klitoriszertrümmerer« und den Wunsch nach »mit Zähnen bewehrten Schamlippen« amüsiere, wird der Ton zunehmend ernster. Jede der Schwestern hat mit den Folgen des Missbrauchs durch den Vater zu kämpfen und will sich nun endlich aus der Selbstzerstörung befreien. Der Autorin sind hier wunderbare, tiefgründige Figuren gelungen, die nicht in die Opferrolle fallen, sondern durch das geplante Ereignis Kraft schöpfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Der Autorin ist hier ein sehr kontrastreiches Buch gelungen, das trotz des ernsten Themas mit vielen humorvollen Szenen aufgelockert und mit Sarkasmus angereichert ist, sodass sich auch einige schonungslos geschilderte Passagen gut verkraften lassen. Am Ende präsentiert sie uns noch eine Wendung, ganz eines guten Krimis würdig.
Sie wirft einen kritischen Blick auf die traditionelle Rollenverteilung, auf die seelischen Folgen von Missbrauch und den heilsamen Zusammenhalt der Schwestern, der ihnen Kraft und Mut gibt, sich aus ihren Dilemmata zu befreien. Sie spricht unverblümt über Gewalt und Betrug, spricht auch über Herkunft, Kultur und Aberglaube – und das alles auf 200 Seiten, ohne das ich das Gefühl hatte, etwas bliebe ungesagt oder angerissen.

Aber auch ihr Nachwort gibt mir zu denken. Sie schreibt, dass sie die Idee zum Roman bereits vor 20 Jahren hatte, ihr Manuskript aber immer abgelehnt wurde. Erst nach MeToo war die Verlagswelt scheinbar reif für diesen außergewöhnlichen Emanzipationsroman. Und bitte werft einen genaueren Blick auf das Cover, das übrigens von der Autorin selbst gestaltet wurde. Ich musste auch zwei Mal hinschauen.

Inhaltlich ebenso wie sprachlich konnte mich ihr Racheroman vollkommen begeistern. Und wer sich jetzt fragt, ob ernstes und makaberes nebeneinander funktioniert, dem kann ich nur sagen – ja, sogar wunderbar.

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Veröffentlicht am 05.09.2023

Das Geschäft mit der Not der Menschen

Der Schleuser
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»Ich habe die Hoffnung zu meiner Handelsware gemacht. Solange es Verzweifelte gibt, werden auf meinem Strand Hühner aufkreuzen, die goldene Eier legen. Hühner, die blöd genug sind, von besseren Zeiten ...

»Ich habe die Hoffnung zu meiner Handelsware gemacht. Solange es Verzweifelte gibt, werden auf meinem Strand Hühner aufkreuzen, die goldene Eier legen. Hühner, die blöd genug sind, von besseren Zeiten am gegenüberliegenden Ufer zu träumen.«

So beginnt die Geschichte des Schleusers Seyoum, der an der Küste Libyens seine Geschäfte mit Menschen macht, die die glühende Sahara durchquert haben und nun die andere Seite des Mittelmeers erreichen wollen. Keine dreißig Jahre alt zählt er zu den einflussreichsten Männern in seinem »Business«, doch innerlich ist er tot, so scheint es.
Es soll die letzte Fahrt des Jahres werden, von der er sich hunderttausend Dollar Gewinn verspricht. Das ist alles, was für ihn zählt, die Menschen bringt er unter unwürdigen Bedingungen wochenlang in einer stickigen Lagerhalle unter, Wasser bekommen sie nur ein Mal am Tag. Was aus ihnen wird, ist ihm egal, ihn ärgert nur, dass er sein Geld mit anderen teilen muss – die ihm die maroden Boote verkaufen, den Drogendealern, korrupten Bankern und Polizisten. Zehn Jahre ist er bereits im Geschäft und unzählige Leichen gehen auf sein Konto. Jetzt entdeckt er seine Jugendliebe Madiha auf der Liste und entscheidet sich, das Boot selbst durchs Mittelmeer zu steuern.

Das höchstaktuelle Thema wird aus einer anderen Perspektive erzählt, eines menschverachtenden Mannes, der skrupellos ist, zerfressen von einer inneren Wut, die er mit Khat und Gin betäubt. Coste lässt uns in Rückblenden in Seyoums Vergangenheit blicken, woher diese Wut und dieser Hass kommen. Seyoum stammt aus Eritrea, wo seit 1993 bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, Menschen aus dem Weg geräumt werden und verschwinden. Wir erfahren, dass er bereits 10 Jahre zuvor mit Madiha flüchten wollte und warum diese Flucht scheiterte.

Dieser Roman ist schonungslos, brutal und direkt. Auf nur knapp 130 Seiten gelingt es der Autorin, uns einen tiefen Einblick hinter das System von Schleusern und Menschenhändlern zu geben und das damit verbundene Leid der Flüchtenden. Sie zeigt aber auch auf, wie dieses Dilemma entsteht, dass Menschen zu so etwas grausamen fähig sind und ihre Menschlichkeit verlieren. Diese tiefe innere Zerrissenheit wird von Kapitel zu Kapitel spürbarer und schafft eine bedrückende Atmosphäre, der man sich nicht entziehen kann. Coste will hier keine Taten entschuldigen oder rechtfertigen aber zeigen, dass hinter all dem auch eine leidvolle Vergangenheit steckt, die Wurzeln des Übels sozusagen.
Denn wenn mir diese Geschichte wieder einmal etwas zeigt, dann, dass wir das unsägliche Leid der Flüchtenden erst beenden können, wenn die Ursachen bekämpft werden.

Stellenweise liest sich das Buch spannender als ein Krimi und überrollt einen förmlich und die Wendung im letzten Kapitel hat es wirklich in sich. Dicht erzählt und sprachlich herausragend, dafür sorgt auch die tolle Übersetzung aus dem Französischen von Katharina Triebner-Cabald.

Ausgezeichnet wurde Costes Debütroman in Frankreich u.a. mit dem Prix de la Closerie des Lilas. Ich bin froh, dass ich wieder auf so einen kleinen feinen unabhängigen Verlag aufmerksam wurde, der mir mit diesem Buch fesselnde Lesestunden beschert hat.

Ich weiß, es ist kein leichtes Thema, aber das Buch bekommt eine absolute Leseempfehlung von mir.

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