Nachdenklich, farbenprächtig, komplex
Schon von der ersten Zeile an hat mich dieser Roman gefangen genommen. Es ist etwas zutiefst Russisches in Towles‘ Schreibstil, eine Eleganz, die ich aus den Romanen von Tolstoi und Dostojewski kenne und ...
Schon von der ersten Zeile an hat mich dieser Roman gefangen genommen. Es ist etwas zutiefst Russisches in Towles‘ Schreibstil, eine Eleganz, die ich aus den Romanen von Tolstoi und Dostojewski kenne und die dazu geführt hat, dass ich, ganz unabhängig vom Inhalt, die alten russischen Klassiker liebe und in ihrer Sprache schwelge, selbst wenn es sich bloß um Übersetzungen ins Englische oder ins Deutsche handelt. Nach wenigen Seiten schon ist klar, dass Towles sich auch eine andere Eigenart der alten Meister zueigen gemacht hat: das Abschweifen. Und das meine ich gänzlich positiv.
>> Ein Reigen warmherziger Charaktere
Die Hauptperson in diesem Roman, Graf Alexander Iljitsch Rostov, gehört einer alten russischen Familie von Aristokraten an, die gute Verbindungen haben und zu den Reichen des Landes gehören. Wir begegnen ihm zu Anfang, als er gerade seine Strafe für exakt diesen Umstand erhält, denn natürlich ist dem Russland der Sovjets jegliche Aristokratie verdächtig. Dass er einst ein politisches Gedicht mit Inhalten, welche den Sovjets gefallen, geschrieben hat, rettet ihn vor der direkten Exekution, so dass er stattdessen zu Hausarrest im Metropol, einem real existierenden Hotel in Moskau, verurteilt wird. Dort hat er schon zuvor gelebt, doch statt seiner luxuriösen Suite bleibt ihm nun nur ein winziger Raum.
Während er versucht, sich mit der neuen Gefangenschaft abzufinden, freundet er sich mit dem jungen Mädchen Nina an. Sie weiß nichts von den alten russischen Sitten, die unter Adligen geherrscht haben, hört dem Grafen aber geduldig bei Erzählungen zu. Dafür führt sie ihn in die tieferen Geheimnisse des Hotels ein, die sich nur einem neugierigen Kind erschließen. Er macht Bekanntschaft mit einer Näherin, einem Barbier, dem Koch und Kellner eines der beiden Restaurants im Hotel und lernt einige Gäste näher kennen. All diese Personen sind auf ihre Art eigenartig, doch es sind mitfühlende Menschen, die dem Charme und der Höflichkeit des Grafen erliegen und für ihn durchs Feuer gehen würden.
Meisterhaft erzählt uns Towles von den Lebensgeschichten dieser Menschen, packt manchmal ganze tragische Zukunftsereignisse in Fußnoten und entspinnt so ein riesiges Netz aus Persönlichkeiten rund um Rostov. Es erfordert Aufmerksamkeit, zwischen all den Lebensgeschichten nicht verloren zu gehen, doch wer die Konzentration aufbringt, wird mit einem schillernden Bild des Russlands zu Beginn der Sovjet-Zeit belohnt. Es ist ein Russland, dass neuerdings so sehr an die Gleichheit aller Menschen glaubt, dass jeder mit Genosse angesprochen wird, außer natürlich der alte Adel, der entweder exekutiert oder inhaftiert wird. Es ist ein Russland, in dem höhere Bildung als elitär betrachtet wird und deswegen ein beschämter Kellner, der aus Unwissenheit einen falschen Wein empfiehlt, die Macht besitzt, sämtliche Etiketten von Weinflaschen entfernen zu lassen, damit künftig auch der einfache Mann einen Rotwein oder einen Weißwein bestellen kann, ohne dass sein Selbstbewusstsein darunter leiden könnte, dass er nicht weiß, welche Sorte dem Mahl tatsächlich angemessen wäre.
>> Gleichzeitig selbstironisch und kritisch
Graf Rostov ist ein Mann von alter Schule, er kennt jedes noch so lächerliche Zeichen, das sich die Aristokratie einst für den sozialen Umgang ausgedacht hat. Wie schräg legt man den Kopf? Was bedeutet es, wenn ein Gast mit Zeitung unter dem Arm das Restaurant betritt? Welche codierten Floskeln haben welche Bedeutung? All das weiß Alexander im Schlaf – und er ist sich dieser Tatsache bewusst. Er weiß, dass ihn das über andere Menschen erhebt, kann aber gleichzeitig darüber lachen, dass sein ganzes bisheriges Leben in codierten Umgangsformen abgelaufen ist. Er beobachtet melancholisch, wie unter den Sovjets Stück um Stück der Glanz Russlands durch Gleichheit und Gemeinschaft zerstört wird. Er besitzt einen ungebrochenen Patriotismus und würde jedem Ausländer gegenüber den Stolz der Nation verteidigen, doch er ist nicht blind für den Schrecken einer kommunistischen Diktatur.
Während das Metropol ein Ort der Wärme bleibt, wird es im Rest von Russland kalt. Politische Reformen, Fünfjahrespläne, Machtkämpfe und Zwangsenteignungen beherrschen die Gegenwart. Obwohl dem Leser all dies bekannt ist und Towles die Geschehnisse auch immer wieder andeutet, ist dieses große Ganze doch nicht der zentrale Aspekt des Romans. Es ist Rostov, der sich dank Nina und später dank seiner Tochter Sofia verändert. Rostov, der einen riesigen Horizont besitzt und gerne andere aufklärt, ohne belehrend zu wirken. Wie in den alten russischen Klassikern präsentiert uns Towles ein drei Dekaden umspannendes Historienepos, in dem aber die Geschichte in den Hintergrund tritt, um den Figuren und ihren Charakteren Raum zu Glänzen zu geben. Rostov kennt sich selbst so gut, dass er sich gleichzeitig sehr ernst nehmen und herzlich über sich lachen kann.
>> Nie eindeutig
Das Buch erzählt nicht nur eine Geschichte, es erzählt viele Geschichten. Wir verfolgen das Leben von Rostov, ohne dass wir wissen, wo es hinführen wird. Erst sehr spät, auf den letzten 100 Seiten, kommt tatsächlich Spannung im klassischen Sinne auf, doch auch vorher schon kann Rostovs Lebensgeschichte fesseln.
Genauso wird schnell deutlich, dass dieses Buch kein eindeutiges Anliegen hat. Es will uns ein Stück russischer Geschichte näher bringen, gewiss, aber das ist nicht das Wichtigste. Es will uns mit Rostov bekannt machen, doch gleichzeitig verlässt der Erzähler regelmäßig den Pfad, um das Leben anderer Personen nachzuverfolgen. Der Glanz der Aristokratie und die Nostalgie für vergangene Zeiten, in denen die Eliten geherrscht haben, wird farbenprächtig geschildert, doch wann immer das Nostalgiegefühl in Sehnsucht umzuschlagen droht, führt eine kleine spitze Bemerkung oder eine Anekdote dazu, dass man doch eher den Kopf schüttelt über den alten Adel.
Für mich gehört dieses Buch wie kaum ein anderes zu jenen, die für jeden Leser eine andere Bedeutung haben wird. Vielleicht gehen einige darin verloren. Vielleicht lernen andere ganz neue Aspekte über Russland. Vielleicht inspiriert es einige, Tolstoi oder Dostojewski oder einen der anderen zahllosen, im Buch erwähnten russischen Autoren zu lesen. Vielleicht motiviert es andere dazu, Humphrey Bogart Filme zu sehen. Wer weiß?
Mich persönlich hat es in meiner Liebe zu Russland gestärkt. Kaum ein anderes Land wird für mich je so sehr für Adel und höfische Kultur stehen wie das Russland vor der Revolution. Ich liebe das Russland vor 1900, aber ich bin ebenso fasziniert von dem Russland der Sovjetrepubliken und dem heutigen Russland, in dem ein Machtmensch die Geschicke leitet.
FAZIT:
Der Roman „Ein Gentleman in Moskau“ von Amor Towles ist ein prachtvolles Historiengemälde, in dem die Geschichte selbst jedoch nur die zweite Geige spielt. Im Zentrum steht Graf Rostov, der mit seinem althergebrachten Charme und seinem Wissen aus der Abgeschiedenheit des Hotels Metropol Russland beim Wandel zuschaut. Towles hat hier einen durch und durch russischen Protagonisten erschaffen, der selbstironisch aber auch kritisch sich, die Umwelt und seine Beziehung zu den Mitmenschen zu analysieren versteht. Das Buch ist so komplex und vielschichtig, dass wohl kaum zwei Leser zu einem gleichen Eindruck kommen werden. Daher kann ich es nur jedem ans Herz legen, es selbst zu lesen.