Das Buch beginnt 2010 – Ich-Erzählerin Elena „Lenù“ hat ihre beste Freundin „Lila“ Raffaella zum letzten Mal vor 5 Jahren gesehen. Sie schreibt, sie schreibt ihr Leben auf, Lilas Leben, die ihr einst das Versprechen abgerungen hatte, nie über sie zu schreiben, sonst käme sie. Lenù will Lila holen, sie aus dem Verschwinden holen. Mit ihrer Geschichte wechselt der Leser ins Italien kurz vor 1969 und in die Folgejahre, es ist die Zeit der beiden Frauen als „Twens“ bis in ihre Dreißiger. Lenù wird Pietro heiraten, wir begleiten die jungen Frauen durch Nachwuchs, Partnerschaft, berufliche Entwicklung, signifikante Änderungen, das Aneinander-Reiben.
Für sich allein gelesen, hätte ich mit diesem dritten Band der „Ferrante-Saga“ keinerlei Probleme gehabt dazu, ob es denn wirklich vier Bände braucht; ich bin durch die Seiten geflogen, empfand Spannung und Überraschung (ja, deutlich mehr als vorher, gerade Band 1 war mir teils etwas zäh). Besonders die vielen unerwarteten Wendungen veranlassten mich dazu, den Einstiegstext zur Handlung oben so kurz gehalten zu haben, ich möchte das Vergnügen keinem anderen Leser nehmen. Nur so viel: Die Beziehung die Frauen verändert sich, die berühmte Stärke Lilas erfährt ihre Grenzen, Lenù scheint vordergründig für kurze Zeit als die Stärkere, es kommt zu unerwarteten Wendungen, Kompromissen. Die Lektüre gestaltete sich wie ein Puzzlespiel, bei dem einzelne Steinchen ihren Platz fanden: Erkenntnisse zu Alfonso, Geständnisse über Michele Solara, die Relation Lilas zu Enzo, zu Michele, neue (alte) Lieben, Umzüge.
Für eine Leserunde fände ich das Buch sehr geeignet, mir springen so viele Gedanken im Kopf herum mit Erkenntnissen, die hier sehr schlecht preiszugeben sind, in dem Kontext aber Freude und Vertiefung bieten würden: Was bedeutet „sie ist tot“, wer griff die Wurstfabrik an, warum hat die Mutter von Lenù anscheinend andere Wertmaßstäbe für deren jüngere Schwester, weshalb erscheint die frühere Gymnasiallehrerin so verändert. Anderes wird vertieft, so die Frage, inwiefern man dem eigenen Milieu durch Bildung wirklich entkommt kann, oder neu in die Runde geworfen, wie diverse Ernüchterungen zu Männern. Bei den Freundinnen hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dem Geheimnis des Aufeinander-Bezogen-Seins näher zu kommen, Lenùs Mutmaßungen weisen den Weg „Ich wollte etwas werden, auch wenn ich nie gewusst hatte, was. Und ich war etwas geworden, so viel stand fest, aber ohne eine konkrete Vorstellung, ohne eine wahre Leidenschaft, ohne einen zielgerichteten Ehrgeiz.“ S. 445
Ich hatte Band 1 als Zeit- und Sittengemälde Neapels der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet, Band 2 bringt viel zur Rolle der Frau und zum Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Band 3 nun bringt die gesellschaftliche Lage mit ein, die blutigen Kämpfe zwischen Rechten und Linken, während die Rolle der Frau vertieft betrachtet wird (wobei da von einiger Ernüchterung auszugehen sein dürfte). Gespannt bin ich jetzt auf Band 4 und die Themen, die da noch kommen können, gerade weil Band 3 ja wortwörtlich in der Luft endet. Volle 5 Sterne von 5 für Lesevergnügen, Geschichtsstunde, Zeitgeist, Gedankenanregungen.