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Veröffentlicht am 08.11.2023

Beschwingtes Großstadtmärchen

Sungs Laden
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Alles beginnt mit einem Kulturgut, das Minh, Grundschüler am Prenzlauer Berg, in seiner Schule präsentieren soll. Gemeinsam mit seiner Großmutter stellt er eine Wassermarionettenpuppe vor, die bislang ...

Alles beginnt mit einem Kulturgut, das Minh, Grundschüler am Prenzlauer Berg, in seiner Schule präsentieren soll. Gemeinsam mit seiner Großmutter stellt er eine Wassermarionettenpuppe vor, die bislang ein vergessenes Dasein in einem Wandschrank gefristet hatte. Mit dieser alten Puppe aus Vietnam schwappt eine Welle über das Viertel, wie es sie noch nicht gegeben hat und verzaubert Menschen und Prenzlauer Berg.

Mit ganz viel Warmherzigkeit und Einfühlungsvermögen zeichnet Karin Kalisa diese bezaubernde Geschichte und ihre Figuren. Der humorvolle Schreibstil unterstreicht die sich verselbständigende Bewegung, die von den Akteuren immer weiter auf die - wortwörtliche - Spitze getrieben wird Es macht einen wirklich glücklich, diese langsam wachsende Symbiose zwischen Vietnam und Berlin zu verfolgen. Dabei verwebt die Autorin geschickt die Geschichte der zehntausend vietnamesischen Arbeitskräfte, die im Rahmen der sozialistischen "Bruderhilfe" in die DDR kamen, um dort eine Fachausbildung zu erhalten und im Gegenzug die dingend benötigte Arbeitskraft zu stellen. Eine Integration erfolgte in den meisten Fällen nicht, die auf Zeit angestellten Asiat:innen blieben unter sich. Beziehungen zu DDR-Bürger:innen waren untersagt, es galt sogar ein Kontaktverbot. Dieses traurige Kapitel wird anhand von Minhs Familie aufgezeigt, die aber auch den Anstoß zu der fast märchenhaft anmutenden Veränderung des Viertels gibt.

Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Er hat mich an Bergsalz erinnern. In diesem Buch der Autorin geht es auch um einen Ruck, der durch eine Gemeinschaft geht, die sich für "Fremdes" öffnet und alle am Ende glücklich entlässt. Ein Wohlfühlbuch, das zudem Interessantes über das - mir vorher unbekannte - Wassermarionettentheater vermittelt und die Geschichte der vietnamesischen Arbeitsmigrant:innen in der DDR ans Licht holt.

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Veröffentlicht am 08.11.2023

Das Schweigen einer Familie

Dschinns
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Hüseyin macht sich 1971 aus seinem kleinen Dorf in der Türkei auf den Weg nach Deutschland. Als er in Istanbul Station macht, entbrennt in ihm der Wunsch, hier einmal als wohlhabender Mann eine Wohnung ...

Hüseyin macht sich 1971 aus seinem kleinen Dorf in der Türkei auf den Weg nach Deutschland. Als er in Istanbul Station macht, entbrennt in ihm der Wunsch, hier einmal als wohlhabender Mann eine Wohnung zu besitzen. 1999 steht er wieder in Istanbul, nach fast 30 Jahren voller Plackerei im kalten Deutschland - in seiner Eigentumswohnung. Während es in Deutschland nur gebrauchte Möbel und nichts Schönes gab, ist er hier nahezu verschwenderisch in der Ausstattung. Eben noch denkt er, wie seine ahnungslose Familie auf diese Wohnung reagieren wird, da bricht er mit einem Herzinfarkt tot zusammen. So endet das erste Kapitel. Die nächsten sind jeweils aus der Sicht eines der vier Kinder geschrieben, das letzte Kapitel gehört der Mutter.

Der Roman wurde zu recht hoch gelobt. Ich habe ihn wahnsinnig gerne gelesen. Die Autorin verwendet einen flotten, ansprechenden und passenden Schreibstil und taucht ganz tief ein in die Geheimnisse, Sorgen und Wünsche jeder und jedes einzelnen, der verflucht glaubwürdigen Charaktere. Da werden so viele Themen angesprochen, so viele Ebenen beschritten und so viele Spuren gelegt. Man kann gar nicht anfangen, Beispiele zu nennen, weil es so wahnsinnig viele wichtige Aspekte gibt. Ganz großes Kino! Und wenn man das letzte Kapitel gelesen hat, steht einem der Mund offen, denn erst im Kapitel der Mutter fügen sich die Kontinente der einzelnen Familienmitglieder ineinander, werden Verhaltensweisen begründet und Geheimnisse gelüftet. Ich habe das Buch mit meiner Lesegruppe gelesen und es waren so gewinnbringende Gespräche, es gab so vieles, was erst durch die Diskussion ans Licht kam. Ich kann das Buch daher für Lesekreise uneingeschränkt empfehlen - für alle Einzelleser:innen natürlich auch. Ein ganz tiefer Blick in die Verstrickungen einer türkischen Arbeitsmigranten-Familie.

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Das unangepasste Kind

Brüderchen
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In den Cevennen, dem südöstlichsten Teil des französischen Zentralmassivs, lebt eine Familie abgeschieden auf einem alten Hof. Teile der Gebäudeanlage sollen noch aus dem Mittelalter stammen und deswegen ...

In den Cevennen, dem südöstlichsten Teil des französischen Zentralmassivs, lebt eine Familie abgeschieden auf einem alten Hof. Teile der Gebäudeanlage sollen noch aus dem Mittelalter stammen und deswegen können die rötlichen Steine im Hof die Geschichte des unangepassten Kindes und seiner Geschwister am besten erzählen. Die Steine sehen alles und "stehen auf der Seite der Kinder" (S. 10), auf sie richtet sich ihr Blick. Folglich wird auch die Geschichte jeweils aus der Sicht eines der Geschwisterkinder erzählt.

Als das unangepasste Kind geboren wird, verändert sich für jedes Familienmitglied spürbar das eigene Leben. Wie die Geschwister mit dieser Herausforderung umgehen, ist einfach unglaublich schön und teilweise tieftraurig beschrieben. Die Autorin findet ganz wunderbare Worte, um in die Gefühlswelten der Figuren einzutauchen. Die karge, ursprüngliche und dennoch berauschende Landschaft spielt ebenso eine große Rolle im Roman und wird auf poetische Weise auf dem Papier zum Leben erweckt.

Mich hat diese Geschichte mit gerade einmal 174 Seiten zu Tränen gerührt und ich kann sie einfach nur weiterempfehlen. Trotz des ernsten und auch traurigen Themas wirkt der Roman insgesamt einfach nur sanft, leise und liebevoll und gleichzeitig ist es ein beeindruckendes und intensives Leseerlebnis. Während die Familie auf ihrem alten Hof und in den Bergen fest verortet ist, bleiben alle Personen namenlos. Was einerseits Distanz schafft, andererseits aber auch Raum läßt, damit die Figuren ganz nahe heranrücken können.

"Wenn man ein Kind hat, dem es schlecht geht, muss man ein Auge auf die Geschwister haben." (S. 94)

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Ein Leben in Episoden

Vom Aufstehen
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Wie Helga Schubert episodenhaft über ihr Leben schreibt, hat mich sehr bewegt und beeindruckt. Besonders das schwierige Verhältnis zu ihrer extravaganten Mutter hat mich geschmerzt; der Umgang mit ihrem ...

Wie Helga Schubert episodenhaft über ihr Leben schreibt, hat mich sehr bewegt und beeindruckt. Besonders das schwierige Verhältnis zu ihrer extravaganten Mutter hat mich geschmerzt; der Umgang mit ihrem kranken Ehemann angerührt.

Helga Schubert hat viel erlebt in ihren über 80 Lebensjahren. Die Mutter ist mit ihr im Krieg aus Hinterpommern geflohen. Den Vater, im Krieg gefallen, hat sie nie kennengelernt. Die Sommerferien ihrer Kindheit und Jugend verbrachte sie bei der geliebten Oma väterlicherseits. Helga Schubert wird Psychologin in der DDR, Mutter, Autorin, heiratet zum zweiten Mal und darf mit über 50 das erste Mal frei wählen.

Die oft pointenhaften 29 Texte sind unterschiedlich lang, sie reichen von einer bis zu über 30 Seiten. Wehmut klingt in vielen Episoden an. Gedanken darüber, dass sich das Leben auf der Zielgeraden befindet. Das meiste ist schon gelebt, die verbliebenen Jahre wirken übersichtlich. In sie läßt sich kaum alles hineinstopfen, was noch erlebt und gesehen werden will. Das hat mich oft nachdenklich gestimmt.

Mir hat das Buch mit seinen intensiv geschilderten Erlebnissen, ruhig und unaufgeregt erzählt, sehr gut gefallen. Ich kann es nur wärmstens weiterempfehlen.

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Veröffentlicht am 26.09.2023

Ein Baum mit Orangen und Zitronen

Das Land der Anderen
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Dieser Baum, den Amine Belhaj auf seinem Hof in Marokko besitzt, steht für das komplizierte Geflecht seiner Familie. Nach dem Krieg hat er seine französische Braut aus dem Elsass mit in seine Heimat gebracht: ...

Dieser Baum, den Amine Belhaj auf seinem Hof in Marokko besitzt, steht für das komplizierte Geflecht seiner Familie. Nach dem Krieg hat er seine französische Braut aus dem Elsass mit in seine Heimat gebracht: Die selbstbewusste, blonde und einen Kopf größere Mathilde, die sich in das Abenteuer dieser Ehe stürzte, um alles das nachzuholen, was der Krieg an Entbehrungen gebracht hatte. Schnell muss sie aber erkennen, dass das Leben in Marokko alles andere als ein Abenteuer ist. Weder die Marokkaner noch die Franzosen heißen diese Ehe gut. Mathilde sieht sich einer von Männern dominierten Welt gegenüber, einem veränderten Ehemann, Schmutz und Elend. Als sich in Marokko nationalistische Gruppen für eine Unabhängigkeit einsetzen, kommt es zu Kämpfen, denen sich auch die Belhajs nicht entziehen können.

Was für ein wuchtiger und kraftvoller Roman. Wahnsinnig gut geschrieben, ich konnte ihn kaum aus der Hand legen. Die Autor schreibt sehr lebendig, bildhaft und eindrucksvoll, wie es der emanzipierten Französin Mathilde in der Heimat ihres Mannes ergeht. Sie reflektiert über das Tragen eines Schleiers ebenso wie über den Sinn ihres Daseins auf dem abgelegenen Hof und die eintönige Arbeit, die sie langsam zermürbt. Es werden so viele Facetten dieser Zeit und in diesem Land ausgeleuchtet, weil Leïla Slimani uns auch die Innenansichten von Amine, seinem politischen Bruder, seiner widerspenstigen Schwester und seiner kleinen hochintelligenten Tochter Aïcha nahebringt.

Der Roman hat mir wahnsinnig gut gefallen. Es ist der erste Teil einer Trilogie, die auf der Familiengeschichte der Autorin beruht.

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