Zeit zu reflektieren, denn das Leben war gross. Was brauch ich noch, was lass ich los ? (Jo M. Wysser)
Dünnes EisMarietta blickt zurück auf ein bewegtes Leben und genau das ist es, was ihr eine innere Unruhe beschert. Nicht immer was es leicht und viele seelische Narben hat sie davon getragen. Als in der Nachbarwohnung ...
Marietta blickt zurück auf ein bewegtes Leben und genau das ist es, was ihr eine innere Unruhe beschert. Nicht immer was es leicht und viele seelische Narben hat sie davon getragen. Als in der Nachbarwohnung ein mürrischer Zeitgenosse einzieht und in der Unterkunft für Geflüchtete nebenan ein kleiner Junge ihre Aufmerksamkeit fordert, schwappen Bilder der Erinnerung an die Oberfläche, die Marietta längst verdrängt hat. Je mehr sich Marietta den Geistern der Vergangenheit stellt, desto dünner wird das Eis in ihrem Herzen, das sich wie ein Splitter dort festgesetzt hat...
Es gibt Bücher, die gehen schon mit dem Lesen der ersten Seiten direkt unter die Haut und lassen mich auch nach dem Beenden der Lektüre einfach nicht mehr los. Genauso ein Roman ist "Dünnes Eis" von Theres Essmann, der tiefe Spuren hinterlässt.
Die Autorin erzählt in ergreifenden Worten von Schuld und alten Wunden, von Erinnern und Loslassen und von den Ereignissen, die eine ganze Generation geprägt haben. Ihre Hauptfigur Marietta steht dabei stellvertretend für die Großelterngeneration, die Schreckliches erlebt hat und durch die Wirren des Krieges nicht nur Haus und Hof verloren haben, sondern auch ihre Würde.
Es sind schreckliche Bilder, die sehr lebendig wiedergegeben werden und sich vor dem inneren Augen abspulen. Geheimnisse, die sich wie Ungeziefer ein Leben lang in den untersten Schubladen der Erinnerungen versteckt haben und jetzt aus jeder Ecke und jedem Winkel ans Licht drängen. Essmann gibt einen ungeschönten und sehr schockierenden Einblick in die Vita ihrer Figuren und bricht alte Wunden auf, die doch nie ganz verheilt sind. Dabei findet sie immer den richtigen Ton für diese sensible Thematik und stellt ihre Protagonist:innen nicht bloß, sondern gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Gedanken und Gefühle kennenzulernen, um sie zu verstehen und ihren Lebensweg nachvollziehen zu können. Sie beobachtet präzise und gibt die Veränderungen, die mit dem Sich-erinnern einhergehen, direkt an die Leser;innen weiter und ermöglicht ihnen somit, Schmerz und Wut, Trauer und Schuld, Erkenntnis und Annehmen der Vergangenheit mitzuerleben.
Es ist nicht immer leicht, die Geschehnisse zu verarbeiten, aber der Prozess des Loslassens und Zulassens überträgt sich auf die Leserschaft, sodass sie ein Teil der Handlung werden und gemeinsam mit den Figuren den Weg der Versöhnung gehen. Ein eindringliches Buch, das ähnlich wie die Schleifsteine des Lebens, seine Leseeindrücke im Herzen hinterlässt und lange nachwirkt.