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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 03.10.2023

Von der Idee her ausgezeichnet

Dreieinhalb Stunden
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Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was ...

Der Gedanke des Buches gefiel mir ausgezeichnet, die Geschichte stellte die Protagonisten vor Entscheidungen, die sicher jeder Leser nachempfinden kann und bei denen sicher auch fast jeder überlegt: "Was würde ich tun?"

Wir begleiten diverse Personen auf der Fahrt des Interzonenzugs von München nach Berlin, und während dieser Fahrt sickert nun durch, daß in Berlin gerade die Mauer gebaut wird und man somit gerade die letzte Chance hat, der menschenverachtenden SED-Diktatur zu entfliehen. Die Entscheidung wird somit sehr plötzlich akut, es bleiben nur wenige Stunden bis zur Erreichung der Grenze. In wenigen Stunden über das ganze künftige Leben zu entscheiden - bei einem Verbleib im Westen so viel zurückzulassen, das setzt die Protagonisten unter erheblichen Druck.

Gelungen ist, daß hier sehr verschiedene Menschen unterwegs sind, die sich sowohl von ihrem Alter als auch von ihrer Vergangenheit und jetzigen Position unterscheiden. Jemand, der einen guten, regierungsnahen Posten in der DDR hat und bereits in einem regimetreuen Elternhaus aufwuchs, geht das Thema natürlich anders an als jemand, der nicht ganz in der Bild des angepaßten, gehorsamen DDR-Bürgers paßt und deshalb bereits Nachteile erlitten hat, oder jemand, dem dort seine berufliche Zukunft genommen wurde.

All diese Geschichten und Überlegungen lernen wir nun also kennen. Man merkt dem Buch m.E. an, daß es aus einem Drehbuch hervorgegangen ist. Die Szenenwechsel sind schnell, die einzelnen Szenen oft etwas oberflächlich, der Schreibstil eher einfach. Es liest sich leicht und nett weg, mehr aber auch nicht.

Für mich war ein großes Manko, daß es letztlich wenig Handlung gab und versucht wurde, die Geschichte langzuziehen. Vielleicht klappt das bei einem Film besser, aber im Buch war sehr viel Füllmaterial. So haben wir hier den Handlungsstrang zweier Polizisten, die für sehr viele blasse Füllszenen sorgen, in denen sie mehr oder weniger dasselbe oder eben gar nichts tun. Die Handlungsstrang wechselt zum Ende die Perspektive zu zwei anderen Charakteren, die mir aber viel zu blass geblieben sind, da der Fokus ihres Handlungsstrangs bei den beiden Polizisten lag. Dieser Handlungsstrang, der Potential gehabt hätte, wirkte dadurch unentschlossen und, wie gesagt, wie Füllmaterial. Wir lernen auch die Lokführerin kennen, welche aus dem Osten zur Grenze fährt, um den Zug nach der Grenze nach Berlin zu fahren. Sie wird von einem Jounalisten begleitet, der über ihre Arbeit berichten soll, und das Geplänkel und Geplauder der beiden zieht sich unendlich und trägt sehr wenig zur Geschichte bei, auch hier wirkt vieles wie Füllmaterial.

Im Zug geschieht auch recht wenig. Immer wieder wird betont, wie wenig Zeit noch bleibt, immer wieder kreisen die Gedanken der Protagonisten um dieselben Themen und alle von ihnen blicken plötzlich in ihre Vergangenheit zurück. Das ist teilweise interessant, weil wir so mehr über die Charaktere erfahren, aber auch hier ist vieles ausgewalzt, vieles unnötig und es ist auch etwas seltsam, daß diese Zugfahrt plötzlich bei mehreren Kriegserinnerungen freisetzt. Es wirkt alles etwas konstruiert. Vieles andere bleibt dagegen oberflächlich und viele wiederholt sich.

Es gibt berührende Momente und es wird gut dargebracht, wie grausam die gewaltsame Teilung Deutschlands und das Einsperren der Menschen in der DDR war, wie viel Leid es verursachte. Auch die Proteste in Berlin werden geschildert - ein wenig blass, da wir alles nur durch einen Polizisten in seinem Büro mitbekommen und nicht durch das tatsächliche Geschehen.

Letztlich überraschte mich keine der Entscheidungen. Jeder agierte so, wie es zuvor aufgrund Position, Alter, Lebenssituation zu vermuten gewesen wäre. Hier und da wurde zwar versucht, durch einige Wendungen oder Warten bis zur letzten Minute etwas Spannung zu erzeugen, und das gelang auch manchmal, aber letztlich merkt man dem Buch einfach an, daß es auf einem Fernsehfilm basidert, der unterhaltsam und gut verdaulich sein soll. Die Kniffe, die bei Drehbüchern funktionieren, lassen sich nicht auf Bücher übertragen. Man hätte diese Geschichte als Buch wesentlich besser, berührender und weniger auf Effekt gequält erzählen können. Als unterhaltsame Lektüre, die durchaus zwischendurch zum Nachdenken anregt, reicht es aber allemal.

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Veröffentlicht am 31.03.2023

Originelle Idee mit Potential, aber mangelnder Plausibilität

Stranded - Die Insel
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„Die Insel“ beginnt denkbar vielversprechend damit, daß die Ich-Erzählerin Maddy Teilnehmerin einer Fernsehshow ist, für welche acht Leute ein Jahr allein auf sich gestellt auf einer Insel zurechtkommen ...

„Die Insel“ beginnt denkbar vielversprechend damit, daß die Ich-Erzählerin Maddy Teilnehmerin einer Fernsehshow ist, für welche acht Leute ein Jahr allein auf sich gestellt auf einer Insel zurechtkommen müssen. Ich habe vor Jahren einen Krimi mit ähnlicher Prämisse gelesen und war dort von der tollen psychologischen Zeichnung der Teilnehmer begeistert. Ähnliche Erwartungen hatte ich an dieses Buch. Diese wurden aber leider nicht erfüllt. Die Charaktere bleiben farblos, zwei von ihnen konnte ich bis zum Ende nicht auseinanderhalten. Hier wird kaum psychologisch gezeichnet und das ist besonders deshalb bedauerlich, weil die Entwicklung der Geschichte auf einer Gruppendynamik beruht, die angesichts der blassen Charaktere kaum nachzuvollziehen ist und somit die Geschichte nicht glaubhaft tragen kann. Die Grundidee, die an „Herr der Fliegen“ erinnert, ist vielversprechend, die Umsetzung dagegen schwach.

Eine Ich-Erzählerin zu nehmen, ist ein guter Schachzug, denn wir sehen alles durch Maddys Augen, wissen dadurch vieles anfänglich nicht, außerdem macht Maddy genügend Andeutungen, die auf ihre Prägung durch einen schwierigen Hintergrund verweisen. Zunehmend stellt sich die Frage, wie verlässlich Maddys Sicht ist. Das liegt hauptsächlich daran, daß das Geschehen schnell extrem und unglaubwürdig wird. Beim Lesen gesellt sich eine Frage zur anderen, ein „Das kann ja eigentlich nicht sein“ zu einem „Auf die Erklärung dafür bin ich mal gespannt.“ Das ging mir nicht allein so; da ich dieses Buch in einer Leserunde las, weiß ich, daß viele Mitleser sich über Dinge wunderten, die keinen Sinn ergaben. Manches davon wird – oft unzureichend oder nicht nachvollziehbar – erklärt, anderes bleibt offen und so mußte ich feststellen, daß die Autorin ihre Geschichte oft unter Missachtung der Plausibilität entwickelt hat. Wenn man die unlogischen Punkte auflisten würde, käme eine ziemliche Liste zusammen. Das war für mich eine große Enttäuschung und beim Ende fühlte ich mich als Leser nicht ernst genommen. Die Auflösung vieler Fragen geschah am Ende zudem hastig und lieblos, außerdem übertrieben.

Positiv zu vermerken ist, daß es im Buch viele überraschende Wendungen und originelle Ideen gibt und es sich leicht und größtenteils ohne Längen liest. Die vorhandenen Längen entstehen hauptsächlich durch detaillierte Beschreibungen von Tagesabläufen und Überlebensmaßnahmen. Dies ist natürlich für die Geschichte wichtig, allerdings nicht in solcher (sich zudem wiederholender) Detailfreude. Teilweise hatte ich das Gefühl, ein Survival-Handbuch zu lesen. Wäre diese Akribie in die Charakterzeichnung gesteckt worden, hätte die Geschichte sicher sehr gewonnen. Der Schreibstil ist einfach, für meinen Geschmack etwas zu schlicht, auch die zahlreichen Wiederholungen waren manchmal ärgerlich (Beispiel: S. 260: „… außerdem konnte ich jedes Mal nur wenig Gepäck mitnehmen.“ / S. 261: „Da ich mich leise fortbewegen musste, konnte ich nicht allzu viel Gepäck mitnehmen“). Für einen Thriller zwischendurch ist der Schreibstil aber ausreichend.

Wer sich an zahlreichen Logiklöchern nicht stört, kann mit dem Buch unterhaltsame Lesestunden verbringen. Mir haben die o.g. Punkte das Lesevergnügen allerdings doch ziemlich beeinträchtigt.

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Veröffentlicht am 08.03.2023

Hier fehlte die Konzentration auf die Geschichte

Die leise Last der Dinge
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Das Buch hat mich anfänglich begeistert. Der Teenager Benny verliert seinen Vater, lebt nun allein mit seiner Mutter Annabelle und diese beiden müssen versuchen, mit diesem Verlust und mit allerlei Lebenswidrigkeiten ...

Das Buch hat mich anfänglich begeistert. Der Teenager Benny verliert seinen Vater, lebt nun allein mit seiner Mutter Annabelle und diese beiden müssen versuchen, mit diesem Verlust und mit allerlei Lebenswidrigkeiten zurechtzukommen. Das ist von der Thematik her interessant und wird anfänglich hinreißend erzählt, trotz des für meinen Geschmack zu schlichten Schreibstils. Es gibt direkt zu Beginn einige Skurrilitäten, mit denen ich nicht viel anfangen konnte, so kommuniziert das Buch selbst sowohl mit dem Leser wie auch mit Benny, dessen Geschichte es erzählt, auch ist die Geschichte des verstorbenen Vaters etwas bemüht unkonventionell. Aber dies stört nicht weiter und kann als originelle Note etwas beitragen.
Die Beziehung zwischen Benny und seiner Mutter ist ausgezeichnet geschildert und sehr nachvollziehbar. Annabelle, die nicht nur ein Messie ist, sondern allgemein so verloren und naiv wie ein kleines Kind wirkt, bemüht sich anrührend, sich um ihren Sohn zu kümmern. Sie scheitert immer wieder an sich selbst und so haben ihre Interaktionen mit Benny etwas berührend Schmerzhaftes. Auch Benny, der in diesem Umfeld viel zu früh erwachsen agieren muß, zwischen Mitgefühl für und Zorn über seine Mutter schwankt, ist ausgezeichnet dargestellt. Die Szenen zwischen den beiden sind die besten des Buches, haben so viel Echtes. Bennys inneres Leid vermittelte sich beim Lesen intensiv. Ich habe geradezu mit ihm mitgefiebert und ihm die Daumen gedrückt.
In der zweiten Hälfte aber nimmt das Buch leider eine wenig erfreuliche Wendung. Die Autorin ist Zen-Priesterin und letztlich ist die Zen-Philosophie das Thema des Buches. Das lässt sich anfänglich noch gut an – überlagert die Geschichte nicht zu sehr und bringt eine interessante Note hinein, auch wenn ich diese nicht gebraucht hätte. Dann aber wird es für meinen Geschmack viel zu abgedreht. Benny lernt mehrere obskure Leute kennen und verbringt viel Zeit damit, sich von ihnen allerlei gewollt Philosophisches erzählen zu lassen. Es sind uninteressante, sich wiederholende Unterhaltungen, teilweise mit skurrilen Nicht-Inhalten, teilweise mit platten Allgemeinplätzen („Nicht du bist verrückt, die Welt ist verrückt“, „Böser Kapitalismus“), die als tiefgehende Einsichten verkauft werden. Immer, wenn eine solche Begegnung anfing, fiel das Lesevergnügen auf den Nullpunkt und da diese Begegnungen sich wiederholten, wurde das Buch immer weniger lesenswert.
Gleichzeitig damit entdeckt Annabelle durch einen Ratgeber die Zen-Philosophie und das führt zu den nächsten Tiefpunkten der Lektüre. Handbuchartig bekommen wir so allerlei Zen-Lehren vorgesetzt. Auch „das Buch“ nutzt seine Kommunikation mit uns Lesern dazu, uns reichlich Theorie vorzubeten und dies natürlich nicht als Theorie, sondern als absolute Wahrheit. In völlig unnötigen Szenen reisen wir dann auch immer wieder zu der Autorin des o.e. Zen-Ratgebers und erfahren dort: nichts, langatmig erzählt. So wird die anfänglich so interessante Geschichte zu einer Zen-Werbeveranstaltung. Dies ist an sich schon ärgerlich, aber hinzu kommt, dass dieser Zen-Aspekt zur Geschichte eigentlich nichts beiträgt, sie sogar eher schwächt. Annabelles und Bennys Geschichte hätte ohne diese skurrilen Ausflüge viel besser funktioniert. Nachdem die zweiten Hälfte des Buches also größtenteils in abgedrehten oder handbuchartigen Passagen versinkt und sich bemüht, möglichst ungewöhnlich zu sein, wird dann am Ende blitzschnell ein Happy End draufgeklatscht. Alle notwendigen Erkenntnisse geschehen ganz plötzlich, alle notwendigen Behörden spielen sofort mit, alles Unheil wird plötzlich abgewendet. Nachdem es zuvor so gemächlich ging, wirkt das lieblos, zudem unglaubwürdig. Die etwa zweihundert Seiten mit überflüssigen Szenen hätten herrlich genutzt werden können, Annabelles und Bennys inneren Weg aufzuzeigen und das Ende der Geschichte glaubhaft und nachvollziehbar einzuleiten. Hier wurde eine Möglichkeit in zu viel Unnötigem ertränkt. Schade, denn die erste Hälfte war großartig.

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Veröffentlicht am 19.08.2022

Schöner Schreibstil, aber zu viele bequeme Zufälle und einige Klischees

Die Passage nach Maskat
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Das herrliche Titelbild hat mich sofort angesprochen. Es ist auf positive Weise auffallend und passt hervorragend zur Geschichte, ebenso wie die Übersichtskarte im Buch. Ein echtes Highlight. Auch der ...

Das herrliche Titelbild hat mich sofort angesprochen. Es ist auf positive Weise auffallend und passt hervorragend zur Geschichte, ebenso wie die Übersichtskarte im Buch. Ein echtes Highlight. Auch der Schreibstil ist durchweg erfreulich, ich habe den Umgang mit Sprache genossen. Wir werden sofort in die Atmosphäre auf dem Schiff Champollion hineingezogen, diese ist ausgezeichnet geschildert und ich habe beim Lesen alles vor mir gesehen. Wir lernen den kriegstraumatisierten Theodor Jung kennen, seine Schwiegerfamilie, sowie einige Passagiere – die zuweilen etwas stereotyp wirken – und Angestellte. Eine originelle Note ist die Einbindung Anita Berbers als Nebencharakter. Sie trägt zwar nicht wirklich etwas zur Geschichte bei, sorgt aber hier und da für interessante Skurrilität.
Allerdings dauert dieses Eintauchen und Kennenlernen doch ziemlich lang. Auf den ersten hundert Seiten passiert ausgesprochen wenig, vieles wiederholt sich und die anfänglich durchaus willkommene atmosphärische Gestaltung zieht sich. Auch sonst ist das Erzähltempo überwiegend sehr gemächlich. Das paßt zwar durchaus zu dieser Art Krimi, wird aber für meinen Geschmack doch übertrieben. Ausführliche Beschreibungen diverser Orte und Landausflüge sind zwar an sich gelungen, unterbrechen die Handlung aber doch sehr und werden irgendwann in ihrer Ausführlichkeit zu wiederholend und zu sehr zum Selbstzweck. Las ich die ersten Beschreibungen noch interessiert, begann ich sie irgendwann zu überfliegen.
Die historische Recherche ist fundiert und bemerkenswert. Die Fakten werden manchmal etwas plump und um ihrer selbst willen eingefügt, meistens aber gut in die Geschichte eingeflochten. Hier habe ich viele interessante Einzelheiten erfahren und Zusammenhänge gut erklärt gefunden. Besonders gelungen fand ich die Situation deutscher Passagiere auf einem französischen Schiff im Jahr 1929 – die mehr oder weniger unterschwelligen Ressentiments auf beiden Seiten werden ausgezeichnet geschildert, ebenso wie das Aufkommen der Naziströmungen in Deutschland. Auch die Einbindung von Ringvereinen war ein interessantes Detail.
Der Fall selbst ist verwickelt und hat mich oft auf angenehme Weise rätseln lassen, wie alles zusammenhängt. Das erschließt sich – jedenfalls mir – auch wirklich erst zum Ende hin, was gelungen ist, auch wenn für meinen Geschmack die überraschenden Wendungen und Verwicklungen etwas übertrieben wurden und ich es auch nicht alles glaubhaft oder plausibel fand. Es war in Teilen doch sehr konstruiert und überzeigte mich nicht gänzlich. Ein für mich sehr störendes Manko war allerdings die Tatsache, dass der Protagonist Jung seine Informationen überwiegend durch praktische, zunehmend unwahrscheinliche Zufälle erhält. Jung gelingt es ständig, ganz zufällig genau im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein. So hört er gleich mehrere vertrauliche Unterhaltungen mit und ist auch genau dann zur Stelle, wenn die zwei, drei wichtigsten Sätze ausgetauscht werden. Wenn etwas über Bord geworfen oder etwas übergeben wird – also Sekundenvorgänge, die an abgeschiedenen Stellen geschehen – ist Jung ebenfalls immer wieder zufällig genau zur richtigen Zeit da. Ganz gleich, wo es stattfindet, er ist zufällig zur Stelle, selbst wenn es in der 3. Klasse passiert, die er nur selten aufsucht. Ein glücklicher Zufall ist völlig in Ordnung, zwei kann man hinnehmen, bei drei kann man eventuell noch damit argumentieren, dass ein Schiff relativ überschaubar ist, aber wenn es siebenmal, achtmal und noch häufiger vorkommt, dann hat der Autor es sich auf Kosten jeglicher Plausibilität viel zu einfach gemacht und ich fühlte mich als Leser zunehmend auf den Arm genommen. Dieser Aspekt hat mir das Lesevergnügen erheblich beeinträchtigt und mich zunehmend geärgert. Dann greift der Autor noch zu einigen etwas abgegriffenen Versatzstücken, so der aus der Höhe runtergestoßene Felsbrocken, die obligatorische, halbherzig ans Ende angeklebte Liebesgeschichte und die Tatsache, dass alle Komplizen sich am Ende plötzlich entscheiden, dem Protagonisten alle notwendigen Informationen monologartig mitzuteilen. Das las sich nicht nur etwas zäh, sondern ist als Stilmittel ärgerlich und überholt. Hier kam es gleich dreimal vor und war nicht plausibel.
Während das Buch wundervoll anfing und durchweg durch Schreibstil und Atmosphäre zu überzeugen wusste, fand ich die Konzeption mit ihren ständigen bequemen Zufällen und Krimi-Versatzstücken wenig erfreulich.

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Veröffentlicht am 26.05.2022

Ungewöhnlicher Stil, der mich leider nicht berühren konnte

Über Carl reden wir morgen
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Judith W. Taschlers Generationenroman führt uns durch etwa hundert Jahre Familiengeschichte und österreichischer Geschichte. Ich war auf diesen Blick auf Österreich sehr gespannt, ebenso darauf, wie man ...

Judith W. Taschlers Generationenroman führt uns durch etwa hundert Jahre Familiengeschichte und österreichischer Geschichte. Ich war auf diesen Blick auf Österreich sehr gespannt, ebenso darauf, wie man drei Generation und ein Jahrhundert auf 450 Seiten unterbringt. Schon das Titelbild hebt sich vom Einerlei historischer Romane erfreulich ab und lässt auf den ersten Blick nicht darauf schließen, dass es sich um einen Familiensaga handelt. Insofern ist es treffend gewählt, denn die Autorin geht in Konzept und Stil ungewöhnliche Wege und schuf einen ebenso ungewöhnlichen Roman, welcher die traditionellen Pfade des Genres hinter sich lässt. Das ist interessant, hat in vielerlei Hinsicht einen eigenen Charme, funktioniert aber für mich in vielerlei Hinsicht auch nicht unbedingt.

So ist die Erzählung über lange Strecken ausgesprochen distanziert. Dialoge gibt es im ersten Drittel fast keine. Später kommen sie etwas vermehrt vor, aber die rein erzählerischen Passagen überwiegen bei weitem. Diese lesen sich flüssig, aber der Leser ist beim Geschehen nicht dabei, bekommt es erzählt und beschrieben. Man liest es, aber man erlebt es nicht mit. Über weite Strecken fühlte es sich an, als ob ich nicht das Buch selbst, sondern eine Nacherzählung des Buches lesen würde. Die Emotionen, Motivationen und Eigenschaften der Charaktere werden auf dem Tablett mundgerecht präsentiert, anstatt dass man sie selbst entdecken kann, und so konnte ich selten Anteil an ihnen nehmen. Ein aufklappbares, schön gestaltetes Lesezeichen (sehr gute Idee!) beinhaltet einen Familienstammbaum, der für mich auch nötig war, da ich mit vielen Namen (die Vorliebe für mit A beginnende Namen führte anfangs zu zusätzlichen Verwechslungen) kaum etwas verbinden konnte – leider offenbarte mir der Blick auf den Stammbaum dann auch einen kleinen Spoiler. Auch die Geschehnisse selbst entfalteten aufgrund der distanzierten, oft zusammenfassenden Erzählweise auf mich kaum berührende Wirkung. Das ist insbesondere deshalb schade, weil sehr interessante Themen vorkommen, die für meinen Geschmack oft zu kurz und unbeteiligt abgehandelt werden. Viele spannende Thematiken wurden für mich verschenkt, vielversprechende Andeutungen nicht aufgegriffen, manche Probleme zu leicht gelöst, was mich enttäuschte. Im letzten Viertel überschlagen sich die Themen und zahlreiche kaum eingeführte Charaktere tauchen auf, so dass es ein Gewirr aus Geschehnissen und Namen war, die an mir vorbeisausten, ohne mich zu packen.
Wenn die Erzählung gelegentlich involvierter wurde, die Szenen sich vor dem Leser direkt entfalteten, sah ich, welch immensen Unterschied das macht und wie die Charaktere anrühren können, wenn sie dazu den nötigen Raum erhalten. So aber kann ich mich an keinen Roman erinnern, dessen Charaktere und Geschehnisse mich so wenig berührten.

Ein stilistisches Element, das mir gut gefallen hat, war der Umgang mit Zeit. Judith W. Taschler erzählt nicht linear, sondern springt auf gelungene Weise abenteuerlich durch die Zeiten. Dies tut sie keineswegs mit dem mittlerweile überbenutzten Werkzeug abwechselnder Zeitebenen, sondern auf eine Art, die mir in Romanen bislang noch nicht begegnete. Oft beginnt sie mit dem Ende einer Geschichte, stellt den Leser vor manches Rätsel und deckt dann rückwärts erzählend die Zusammenhänge auf. Manche Handlungsstränge brechen scheinbar ab und werden viele Seiten später wieder aufgenommen oder aufgeklärt, manchmal springt die Handlung ein Stück vor, dann wieder zurück – dies alles ohne Kennzeichnung oder Ankündigung. Auch die Perspektiven wechseln unablässig und unangekündigt. Das wirkt zu Beginn ein wenig verwirrend, funktioniert aber und entfaltet aber eine ganz eigene Attraktivität. Schade fand ich, dass es im Zuge dieser Erzählweise häufiger zu Wiederholungen kam, so erfahren wir eine Geschichte gleich doppelt, jeweils auf mehreren sehr ähnlich formulierten Seiten, andere Dinge werden drei- oder viermal erzählt. Das wäre vermeidbar gewesen, trotzdem ist diese Erzählweise insgesamt erfreulich fordernd und innovativ.

Historische Informationen werden oft geschickt eingebunden, manchmal aber auch durch sachbuchähnliche Einschübe vermittelt, die Sprache war mir stellenweise zu modern. Erfreulich fand ich, dass viel Relevantes und Interessantes aufgegriffen wurde, ich habe hier zu einigen historischen Themen Neues erfahren und man merkt, dass sorgfältig recherchiert wurde.

So war das Buch für mich ein gemischtes Vergnügen. Bei einem weniger beschreibenden Schreibstil hätten mich die Charaktere und ihre Erlebnisse sicher ergriffen, bei einer Konzentration auf weniger, aber dafür tiefgehender behandelter Themen wäre ich in die Geschichte eingetaucht und hätte an dem herrlichen Umgang mit Zeit und Perspektiven viel Freude gefunden. So aber war es zumindest für mich nicht das richtige Buch.

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