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Veröffentlicht am 13.10.2023

Die Hohe Schule der Violetta M. – ein unterhaltsames Vergnügen der Extraklasse

Frau Morgenstern und der Abgrund
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Beim Ergreifen des kleinen blauen Taschenbuchs war ich noch reichlich ahnungslos. Ein Schweizer Krimi, die Hauptperson eine Frau mit dem Familiennamen meiner Großmutter. Das hatte meine Aufmerksamkeit ...

Beim Ergreifen des kleinen blauen Taschenbuchs war ich noch reichlich ahnungslos. Ein Schweizer Krimi, die Hauptperson eine Frau mit dem Familiennamen meiner Großmutter. Das hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Von Marcel Huwyler hatte ich bis dahin nie gehört, geschweige denn gelesen und dass schon vier Bänder der Morgenstern-Krimiserie existieren, war mir auch entgangen. Schade eigentlich, denn was ich so an den folgenden drei Lesetagen erlebte, das schreit gewaltig nach mehr.
Sie kennen die Vorgängerbände schon? Dann müssen Sie meine Rezension ja nicht unbedingt lesen, der Klick auf den Kaufen-Button geht schneller. Wenn Sie aber so unbedarft und unvoreingenommen wie ich ans Werk gehen, dann frage ich Sie jetzt „Haben Sie den Herbstblues? Liegen Ihnen die hässlichen Leichen des letzten Thrillers noch im Magen? Sind Sie immer noch deprimiert ob des gerade gelesenen tragischen Familienromans? Suchen Sie Abwechslung und gute Unterhaltung?“.
Beantworten Sie auch nur eine Frage mit ja, dann müssten Sie sofort zur „Violetta-Morgenstern-Miguel-Schlunegger-Kur“. Die findet in den Schweizer Höhen oberhalb jedweder Wellnessebene statt. Morgendlicher Start ist um sieben mit Gehirn-Jogging und allerfeinstem schwarzen Kaffee, es folgen Gedanken-Akrobatik, Wort-Jonglieren und nicht zuletzt etwas Lach-und-Wein‘-Yoga. Wenn Sie sich dann ausreichend gekringelt haben vor Erstaunen, Entsetzen oder eben Lachen, wird es auch mal ernst im Buch. Aber das sollte sie keinesfalls abhalten, weiterzublättern und sich mit Violetta und Miguel, ihrem Kompagnon, auf die ultimative Verbrechersuche zu machen. Das Ping-Pong-Spiel der beiden ist ein echtes Literaturhighlight, und so herrlich dämlich quatschen mit Hintersinn, das will schon gelernt sein. Dann taucht auch noch ein Herr Gantenbein auf, da musste ich wirklich laut lachen, die Schweizer mit ihren literarischen Ideen sind echt nicht zu verachten. Genau: Sie lesen hier meine Empfehlung, sich die Hohe Schule der Violetta Morgenstern nicht entgehen zu lassen.
Über Inhalt und Verlauf der Mördersuche halte ich mich derweil bedeckt, ich verderbe Ihnen ungern den Spaß und die Spannung schon gar nicht. Wobei der Spannungsbogen nicht so gleichmäßig verläuft wie es die Wortspielereien der Protagonisten von Beginn an erwarten lassen, mitunter wird das tatsächlich Ernste der Geschichte etwas betulich und korrekt erzählt, da fehlte mir „der letzte Pfiff“, wie der Berliner so sagt. Das Ende aber ist überraschend und es sei jedem Leser ausdrücklich verboten, zuerst die letzten Seiten zu lesen.
Was ich aber noch loswerden möchte, ist ein Lob an Verlag und Autor. Mein schon arg gebeutelter Schriftsetzerblick wurde von diesem kleinen Buch um Jahre verjüngt und sehr beglückt. Wann findet man schon Gedankenstriche oder Apostrophe, die auch ihren Namen verdienen. Im ganzen Buch kein falsch gesetzter Buchstabe oder gar Akzent, der ein Apostroph sein möchte, außerdem eine klassisch schöne Typographie: es war mir eine echte Freude. Dass ich von Zeit zu Zeit mal das Internet ganz nett nach der Bedeutung abgefahrener schweizerischer Ausdrücke befragen musste, versteht sich bei Preußen ja von selbst. Da wäre dann ein E-Book praktischer, bräuchte ich das Buch gar nicht aus der Hand legen.
Fazit: Viel Spaß mit Hintersinn. Und ich erwarte sehr gespannt, was Violetta demnächst so unternimmt und ob Miguel, ihr wortgewandter Kompagnon und wahrer Freund, uns erhalten bleibt.

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Veröffentlicht am 03.10.2023

Die eine Wahrheit gibt es nicht

Wer sind Sie denn wirklich, Herr Gasbarra?
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Ich habe das Buch ausgewählt, weil es mich an meine eigenen Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vater-Wahrheit erinnert hat. Wie würde ein unehelicher, nicht rechtmäßig anerkannter Sohn, der ...

Ich habe das Buch ausgewählt, weil es mich an meine eigenen Vater-Tochter-Beziehung und die Suche nach der Vater-Wahrheit erinnert hat. Wie würde ein unehelicher, nicht rechtmäßig anerkannter Sohn, der seinen Vater nur einmal gesehen hat und sich nicht daran erinnern kann, dem Unbekannten begegnen? Mit Wut, mit Bitterkeit, mit Abscheu, mit Verachtung? All das wäre möglich, aber dieses Buch zeigt eher das Gegenteil.
Schon bevor Gabriel Heim sich auf die Suche machte, hat ein Literaturhistoriker versucht, die Geheimnisse des Felix Gasbarra zu lüften. Aber er kam beim Verlag dann mit seinem Manuskript nicht zum Zuge, Gabriel Heim wollte ein ganz anderes Buch über seinen Vater verfassen und wurde unter Vertrag genommen. Die interessanteste Wendung nimmt dann die Reise nach Südamerika zur Stiefschwester Claudia. Sie war mit ihrer Mutter, der Malerin Doris Homann, Ende der 1940er Jahre nach Brasilien ausgewandert. In Brasilien findet Gabriel Heim dann das Herzstück seines geplanten Vater-Buches: „Die Quelle“ heißen die Lebenserinnerungen von Doris Homann, die schon 1974 verstarb, sehr doppeldeutig. Es finden sich in einer alten Seekiste noch andere Überbleibsel der Geschichte des Felix Gasbarra, aber auch andere Quelle nutzt der Autor für sein Buch.
Geschätzt 20 Prozent des Textes beruhen auf den, in abweichender Schrift gedruckten, Erinnerungen der Doris Homann. Gefühlt aber bestimmt diese Frau das Buch ganz überwiegend, fast wird sie zur Hauptperson, denn ihre Erinnerungen beziehen sich zu einem großen Teil auf ihr Leben, ihre Gedanken, ihre Probleme. Als Leser muss man schon sehr genau verfolgen, wie die Charakterisierung des Felix Gasbarra und sein sehr verworrener Lebenslauf daraus hervorkommen. Doris Homann ist eine aufstrebende Künstlerin, kommt aus sehr gutbürgerlichen Kreisen und ist ihr Leben lang ihrer Erziehung treu geblieben. Künstlerisch ist Käthe Kollwitz ihr Idol und Vorbild.
Felix Gasbarra, 1895 unehelich geboren, halbitalienischer Herkunft, im bürgerlichen Milieu seiner deutschen Mutter, einer Schauspielerin, in Berlin großgeworden und verzogen, so sehr verzogen, dass er kaum der Mutter von der Seite weichen mag, wendet sich nach dem Ersten Weltkrieg dem radikalen Kommunismus zu. Seine ersten Erfahrungen mit dem Bücherkarren erinnerten mich an die bürgerliche Ursula Kuczynski (später Agent Sonja/Ruth Werner), die ähnliche Erfahrungen in ihrer Biografie beschreibt. Gasbarra seinerseits wird zum aktiven Mitglied der kommunistischen Theaterszene um Erwin Piscator. Beide wird eine lebenslange Freundschaft verbinden, auch eine Brieffreundschaft, die in Beispielen abgedruckt ist. Es ist ein schwieriges Auf und Ab in den Zwanziger Jahren in Berlin, Gasbarra lernt Doris Homann kennen, wird aktives Mitglied der Kommunistischen Partei und verlässt sich mehr und mehr auf Doris‘ überlebenswichtige Arbeiten und die hemdenbügelnde und für ihn waschende Mutter. Piscator seinerseits weiß seinen Freund Gasbarra in jeder Hinsicht für sich einzuspannen und auszunutzen. Doris beschreibt jene Jahre sehr anschaulich, auch wie Gasbarra sie ausbeutet und mehr oder weniger dezent betrügt. Gasbarra, der nicht nur Theatermann, Dichter, Dramaturg ist, sondern auch ein begnadeter gelernter Tischler, wird sich später überall und nirgends als Doktor oder Dottore titulieren lassen, jegliche Berichtigungen unterlässt er tunlichst.
Noch im „Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945“, 1999 bei K G Saur München erschienen, erfährt man, dass Gasbarra ein Dr. phil sei und in Bonn promoviert habe. Dieser Titel wird auch noch bei wikipedia.de in den allerersten Einträgen um 2014 vermerkt. Heute ist er getilgt und auch Gabriel Heim weiß in seinem Buch zu berichten, dass der „Dottore“ ein Fake war. Geschadet hat das Gasbarra offenbar überhaupt nicht.
Der wusste sich ein Leben lang aus missliebigen Situationen zu retten, hängte sein Fähnchen in den Wind und betrügt seine Ehefrau, wo er kann. Dass er sie fast ins Verderben stürzt, hat ihn ebenso wenig tangiert wie seine Eifersucht, die ihr so manche Chance auf dem Kunstmarkt verdarb. Doris aber liebt ihren Felix und macht alles mit, schlimmer noch, sie ist diejenige, die ihn mit am Leben hält, obwohl sie ihn mit verstandesmäßiger Entscheidung längst hätte fallen lassen müssen. Tragisch. Erstaunlicherweise hat Gasbarra zu seinen beiden Töchtern trotzdem ein gutes Verhältnis, besonders zu älteren.
Gasbarra dient sich eloquent durch alle Machthaber, nach Hitlers Machtergreifung folgt ein jeher Wechsel der Gesinnung: vom kommunistischen Agitator wird er zum Mitglied des Reichsverbandes deutscher Schriftsteller, er tritt in die Partei der italienischen Faschisten ein, ohne mit der Wimper zu zucken, später schreibt er Reden für Mussolini und Übersetzungen, deren Inhalt er als Kommunist nicht mit dem Feuerhaken berührt hätte. Folgerichtig war sein Abgang Richtung Rom, Doris ist innerlich entsetzt, aber hält sich mit Meinungsäußerungen zurück. Sie lebt in den Dreißiger Jahren in einem Haus der Familie in Schreiberhau in Schlesien. Erst als es auch für sie zu gefährlich wird, zieht sie mit italienischem Pass zu Felix nach Italien.
Felix‘ Arbeit bleibt ihr weitgehend fremd, irgendwann ziehen sie nach Frascati in der Nähe Roms, richten sich dort ein und leben, abgesehen von Felix‘ Arbeit, ein bäuerliches Leben. Das wird jäh zerstört durch alliierte Bomben. Kaum ist Mussolini Geschichte, ist Felix der Wehrmacht mit seinen Sprachkenntnissen zur Hand, und als auch diese Machthaber verschwinden, sucht er sich ein neues Betätigungsfeld. Der anpassungsfähige Gasbarra geht nie unter. Doris macht das alles mit, organisiert, überlebt, und irgendwann kurz nach dem Krieg werden beide auf ihre Kosten Burgbesitzer in Bozen. Da sie dort endlich begreift, dass ein Leben mit Gasbarra sie vollkommen ausbrennt und ausbremst, wandert sie zur Tochter Livia in Brasilien aus, Claudia mit ihr. Einmal, in ihrer Quelle wird sie schreiben: „So doof wie ich war niemand.“ Ich sehe das nicht nur situationsbezogen auf die wegen Felix ausgeschlagene Chance, bei Bernheim-Jeune in Paris auszustellen, ich sehe es als ein trauriges Fazit ihres Lebens mit Felix.
Gasbarra bleibt auf der Burg Kampenn zurück, und kaum ist er allein, tritt seine alte, immer aktuelle Liebe Ilse auf den Plan und lässt sich von Gasbarra das lang ersehnte Kind machen. Hier schließt sich der äußere Kreis. Gabriel Heim als Ergebnis dieser unendlichen Liebe kehrt mit diesem Buch die vielen Scherben zusammen, die sein Vater hinterlassen hat.
Ob Gasbarra tatsächlich „Kommunist im Herzen, Atheist in der Seele und Gotteslästerer aus Überzeugung“ ist, das wage ich zumindest im Bezug auf den Kommunisten zu bezweifeln. Aus meiner Sicht ist Felix Gasbarra eher ein Opportunist, ein talentiertes Chamäleon, aber ein Verräter an der Sache des Kommunismus auf jeden Fall. Was das Privatleben Gasbarras anbelangt, versage ich mir die Meinungsäußerung. Das steht mir nicht zu, schon Gabriel Heim wird es schwer genug gefallen sein, dieses Buch so objektiv wie möglich zu verfassen.
Heim tendiert manchmal zum Überformulieren seiner bedeutungsschweren Sätze, aber insgesamt liest sich dieses Buch recht gut. Die sogenannte geschlechtergerechte Sprache hat Heim wohl schon als das neue Normal verinnerlicht, er schreibt von Jüdinnen und Juden, die im nächsten Moment alle zu Juden werden, das gilt auch für Emigranten und Genossen, mir ist es lästig. Für Leser, die Biografien mögen, Geschichte lieben und gern Neues lernen, ist das Buch bestens geeignet. Günstig ist, wenn man ein Handy oder Tablet in der Nähe hat, um sich das eine oder andere italienische oder französische Wort zu übersetzen. Was mir tatsächlich fehlte im Buch, ist ein Namensindex. Und anstelle der dicken Trennstriche hätte ich Zwischenüberschriften und eine Einteilung in größere Kapitel (z. B. nach Jahren oder Orten) bevorzugt. Dann wäre auch ein Inhaltsverzeichnis möglich gewesen, das beim Wiederauffinden besonders interessierender Textstellen helfen würde.
Traurig hat mich gemacht, wie viele der Kunstwerke von Doris Homann verloren und verschollen sind. Das im Buch Gezeigte zeugt von einer interessanten und begabten Künstlerin, die in Deutschland leider kaum bekannt ist, neben einer Kollwitz aber gut bestehen würde.
Fazit: Felix Gasbarra bleibt an vielen Stellen ein Geheimnis, an vielen Stellen blass, Doris Homann ist die feste Bank, auf die sich dieses Buch stützt. Die geschichtlichen Hintergründe werden gut lesbar und interessant dargestellt, die Illustrationen machen das Buch komplett. Gabriel Heim kann, so wie ich das bei meinem Vater auch empfunden habe, mit dem Thema abschließen, sich innerlich mit ihm versöhnen, ihm vergeben, wohl wissend, dass es die eine Wahrheit niemals gibt.

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Veröffentlicht am 26.09.2023

Gilles bereitet diebische Freude

Gilles der Gauner
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Selten habe ich so viele unterschiedliche Comic-Geschichten in einem Band vereint gehabt. Obwohl ich ein Asterix-Anhänger bin, haben mir die Figuren in diesem Buch wirklich Spaß gemacht. Die kurzen Geschichten ...

Selten habe ich so viele unterschiedliche Comic-Geschichten in einem Band vereint gehabt. Obwohl ich ein Asterix-Anhänger bin, haben mir die Figuren in diesem Buch wirklich Spaß gemacht. Die kurzen Geschichten gefielen mir besonders gut, mein Favorit ist hier "Eislaufvergnügen". Aber das Comic-Epos "Sturm über Dubbeldam", das ist das absolute Highlight dieses Sammelbandes.

Die Zeichnungen haben mir nicht alle gefallen, manchmal erscheinen sie mir etwas grobschlächtig, manchmal etwas wirr, besonders Gilles ist nicht so ganz mein Fall. Aber das ist reine Geschmackssache. Insgesamt ein sehr "ansehenswertes" Buch mit vielen irren Storys.

Hervorheben möchte ich unbedingt die historische Einführung von Markus Pfalzgraf, die mich wunderbar eingestimmt hat auf die Geschichten, die in einer Epoche spielen, als das Mittelalter gerade vorbei und die Neuzeit eben erst angebrochen war.

Ein tolles Buch, das man immer wieder in die Hand nehmen und sich eine Geschichte herauspicken kann, man kann sie getrost auch zwei- und dreimal lesen.

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Veröffentlicht am 21.09.2023

So viele zerstörte Träume, so viel Hoffnung

Die Freiheit so nah
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Die Literatur, die Schriftsteller, die Sachbuchautoren, viele beschäftigen sich mit der Geschichte, ich lese viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, aber die Thematik, die uns heute ...

Die Literatur, die Schriftsteller, die Sachbuchautoren, viele beschäftigen sich mit der Geschichte, ich lese viele Bücher über den Zweiten Weltkrieg, Flucht, Vertreibung, aber die Thematik, die uns heute zeitlich sehr viel näher liegt, die kommt noch sehr selten vor in Romanen. Die begrenzte Zeit der DDR von 1949 bis 1989 aber ist mit all ihren Merkwürdigkeiten, mit der für die dort lebenden Menschen einengenden und freiheitsfeindlichen Politik noch immer ein recht blinder Fleck. Umso mehr wollte ich dieses Buch unbedingt lesen, denn ich habe meine Kindheit und Jugend bis hin zum 35. Lebensjahr in Ostberlin erlebt. Ich kenne den „real existierenden Sozialismus“ und ich habe die Diktatur der Arbeiterklasse erlebt. Nicht alle Rückblicke erscheinen mir da im goldenen Licht.
Ich dachte, ich würde dieses Buch schnell durchlesen können, aber im Gegenteil, ich blieb immer wieder stecken, nicht weil ich es nicht mochte, sondern weil jede Seite bei mir Gedanken, Erinnerungen, Wehmut, Erschütterung getriggert hat. Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, die absonderlichsten Momente fielen mir ein. Und ich dachte an die Menschen, die vielleicht durch meinen Vater, der KGB- und Stasimann war, gelitten haben oder geschädigt wurden. Ich wuchs ohne diesen Vater auf, erst 2011 begann ich, sein Leben zu erforschen, seine Biografie zu schreiben und auch seine Stasiakten einzusehen, aber das macht das Denken darüber nicht leichter.
So durchlitt ich mit Kay all die Jahre, all seine Niederlagen und Hoffnungen, seine Ausreise, seinen Neuanfang. Wie furchtbar die Entdeckung des Verräters in den eigenen Reihen ist, das kann ich nicht wissen, mir ist so etwas nie passiert, aber es ist auch so, dass ich nicht alles weiß und nun auch nicht mehr wissen will. Genau an diesem Punkt beginnt auch das Schwanken, ist es besser, alles zu erfahren oder lässt man manches lieber ruhen? Ich jedenfalls war froh, dass die Mauer fiel, auch wenn die ersten Jahre danach ein großes inneres Chaos auslösten. Alles wurde anders, am Ende kann ich sagen, alles wurde besser. Ich habe das Gefühl, auch Kay könnte diese Gedanken gehabt haben.
Dass dieses Buch überhaupt entstanden ist, empfinde ich als echtes Geschenk. Es gibt so viele Menschen, die über die DDR-Zeit nichts wissen oder nur oberflächlich damit in Berührung kamen. Hier haben sie Gelegenheit, recht nah an die Wirklichkeit heranzukommen. Und damit meine ich nicht nur junge Leute, die in den Achtzigern oder noch später geboren wurden. Nein, auch die Menschen, die im Wirtschaftswunderland BRD großwurden, haben oft nur rudimentäre Vorstellungen vom Leben in der DDR.
Ich wünsche dem Buch Erfolg und danke der Autorin und ihrem Kay für diese mühevolle und sicher auch schmerzliche Erinnerungsarbeit. Die indische Reisegruppe wird mir in Erinnerung bleiben.

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Veröffentlicht am 01.09.2023

Ein Journalist sucht verschwundene Kinder

Die Spur der Kinder
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Walter Klein ist wieder aktiv! Der etwas abgehalfterte deutsche Journalist lebt und arbeitet in Belgrad, Offensichtlich wird er aber mit journalistischen Aufträgen nicht überhäuft, so dass er private Rechercheaufträge ...

Walter Klein ist wieder aktiv! Der etwas abgehalfterte deutsche Journalist lebt und arbeitet in Belgrad, Offensichtlich wird er aber mit journalistischen Aufträgen nicht überhäuft, so dass er private Rechercheaufträge wenn auch zögerlich, aber doch mit Blick auf die Vermieterin, die ständig mahnt, ganz gern annimmt.
Persönliches, Privates und seine Aufträge vermischen sich immer mehr, als er vom plötzlichen Tod eines neugeborenen Mädchens erfährt, dessen Geburt er gerade noch in der Nacht ausgiebig und mit tradionellem Hemdzerreißen des frischgebackenen Vaters gefeiert hat. Nikolina soll nachts gestorben sein, morgens wird der völlig aufgelösten Mutter erklärt, das Kind sei verstorben und bereits kremiert. Das lässt alle Alarmglocken schrillen, aber die Eltern sind so geschockt, dass sie nicht zu Polizei gehen. Ihr Freund Walter aber will die Sache nicht auf sich beruhen lassen und bohrt und bohrt pro bono in jedem erdenklichen Winkel des verdächtigen Krankenhauses.
Parallel zu diesem Drama erhält er den Auftrag eines Bosniers, seinen im Krieg verschwundenen Sohn zu finden. Dieses soll von einem alten Soldaten verschleppt und verkauft worden sein. So die Legende. Walter stürzt sich auch in diesen Fall.
Zwischendurch hat er arge Bauchschmerzen wegen seiner verflossenen Liebe Vanja und seiner letzten One-Night-Flamme, der er ohne Adieu zu sagen, aus dem Bett entwischt ist. Leider ohne seine Jacke.
Walter macht sich also auf, die Geheimnisse zu lüften, leider versterben ihm potentielle Zeugen zu Hauf. Was ihn natürlich noch misstrauischer macht. Das bosnische wie auch das serbische Behördenwesen, Ärzte und Personal des besagten Krankenhauses, Bewohner merkwürdiger und abgelegener Ort machen ihm das Ermitteln kaum leichter. Dass es für Walter bisweilen auch gefährlich wird, ist voraussehbar, aber durchaus lesenswert.
Mir hat die Charakterisierung der Protagonisten sehr gefallen, jeder für sich ein Unikat, ich konnte mir die Menschen vorstellen und auch die Gegend, durch die Walter fährt, ist gut beschrieben. Der Schreibstil ist manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, manche Floskeln wiederholen sich, manches könnte etwas "feiner" ausgedrückt werden. Aber alles in allem ist das Buch gut und flüssig lesbar.
Über Einzelheiten schreibe ich hier nicht, eines will ich aber anderen Lesern trotzdem als Empfehlung geben: es bleibt durchaus spannend bis zum Schluss.
Der Autor kennt sich gut aus mit der Balkanmentalität wie auch mit der Balkangeschichte. Für mich eine interessante Auffrischung der Erinnerungen an den Balkankrieg der 1990er Jahre und seine dramatischen Folgen.
Das Verschwinden von Kindern, die für eine schon als Kindermafia zu bezeichnende Verbrecherbande im ehemaligen Jugoslawien eine lukrative Einnahmequelle bildeten, ist keineswegs eine fixe Idee des Autors. Das sind recherchierbare Tatsachenereignisse, die sich dort nicht erst seit 1991 ereigneten, sondern schon mindestens 20 Jahre zuvor für Aufsehen sorgten. Aber der Balkan steht nicht allein für solche Art von Kinderraub, während der Pinochet-Diktatur in Chile zum Beispiel ist das in Tausenden Fällen geschehen. Ein immer noch brandaktuelles Thema, das der Autor da für seinen Krimi ausgewählt hat, denn viele der heute erwachsenen Adoptivkinder sind nun auf der Suche nach ihren Wurzeln.
Fazit: ein wirklich spannender Krimi, in dem der Autor eine Menge Probleme verarbeitet hat und der beim Lesen auch zum Nachdenken über die Geschichte anregt. Mir hat das Buch gefallen, wenn Walter Kühn mal wieder einen Recherchefall übernimmt, lese ich ihn gern.

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