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Veröffentlicht am 13.12.2023

Authentisch, zeitlos, meisterhaft!

Eine Laune Gottes
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Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren ...

Die im deutschen Sprachraum recht unbekannte kanadische Autorin Margaret Laurence hat es mehr als verdient, nun vom Eisele Verlag wiederentdeckt und neu übersetzt veröffentlicht zu werden. 1926 geboren und 1987 gestorben, veröffentlichte sie den vorliegenden Roman schon in 1966.

Nun kann man sich fragen, ob ein Roman, der sich mit dem Kleinstadtleben einer 34jährigen Grundschullehrerin, „alten Jungfer“ und auch noch scheinbar von ihrer Mutter abhängigen Frau beschäftigt und aus dem Jahre 1966 stammt, noch zeitgemäß sein kann. Ob eine Lektüre hier wirklich lohnt oder doch unseren modernen Ansprüchen an Literatur gar nicht mehr genügen kann. Aber mit dieser Annahme kann man hier falscher nicht liegen! Laurence beschreibt das Leben von Rachel Cameron in ihren kleinen Gefängnissen des Alltags mithilfe eines inneren Monologs, den uns Rachel gedanklich vorträgt, vollkommen zeitlos in seiner Art und Umsetzung. Rachels Gedanken zu ihrer Arbeit, den Kolleg:innen, dem Verhältnis zur eigenen Mutter sowie zu einem Bekannten aus ihrer Kindheit, der in die Stadt Manawaka für einen Sommer zurückkehrt und mit welchem sie eine Affäre – ihre ersten sexuellen Erfahrungen überhaupt! - anfängt, repliziert Laurence so unglaublich gekonnt, nah am Menschen und stilistisch modern, dass man glauben könnte, es liege ein zeitgenössisches Werk vor.

Mithilfe dieses inneren Monologs werden wir Leser:innen Teil des Gedankenkonstrukts Rachels, ihre Sorgen und Nöte werden unsere Sorgen und Nöte. Selten habe ich mich beim Lesen so tief im Kopf einer Romanfigur angekommen gefühlt. So entsteht ein hoher, wenn nicht gar der höchste, Grad an Authentizität und glaubhafter Atmosphäre, den ein Roman überhaupt erreichen kann. Jede Handlung und Entscheidung Rachels wird dadurch Schritt für Schritt nachvollziehbar, wodurch wir unweigerlich mit dieser vielschichtigen Person bis zum unerwarteten Finale mitfiebern. Wir begleiten Rachel auf ihrem Weg von einer – bezogen auf ihre Durchsetzungsfähigkeit und Abhängigkeit von anderen – kindlichen Person, zu einer Frau, die erstmals wie eine Jugendliche sexuelle Erfahrungen macht und ihre Fühler Richtung persönlicher Freiräume ausstreckt, hin zu einer scheinbar erwachsenen Rachel. Sprachlich hat man das Gefühl, jeder Satz in diesem Roman ist punktgenau gesetzt und gibt Hinweise auf das weitere Schicksal Rachels. Die Autorin verwendet Sprachbilder, die über den Lektürezeitraum hinaus hängen bleiben, sich festsetzen und später in den eigenen Gedanken Wurzeln schlagen. Ein Werk, was auf diese Art einen tiefen Eindruck bei den Leser:innen hinterlässt und eigene Denk- sowie Verhaltensweisen zu hinterfragen hilft.

Margaret Laurence bespricht in diesem Roman nicht nur den Drang zur Selbstbestimmtheit und Loslösung von der Familie einer Frau in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sondern streift auch das Thema Homosexualität, Umgang mit dem eigenen Körper und das Liebesleben einer Unverheirateten.

Sprachlich wie auch inhaltlich setzt dieser Roman eindeutig hohe Maßstäbe und ist ein – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher übersehenes Meisterwerk. Leser:innen sollten ob des frühen Entstehungszeitraumes keinesfalls zurückschrecken sondern fraglos sofort zu diesem Buch greifen und es lesen! Diese Frau schreibt nie eingestaubt, auch wenn das Setting verständlicherweise nicht ganz dem heutigen entsprechen kann. Die behandelten Themen bleiben hochaktuell und so lohnt sich wirklich für alle Interessierten diese umwerfende Lektüre. Ich bin hundertprozentig überzeugt von der Autorin und stehe ebenso vollständig hinter der Entscheidung des Eisele Verlags diese Autorin erneut aufzulegen. Abgerundet wird die Ausgabe von einem lesenswerten und unerwartet persönlichen Nachwort Margaret Atwoods aus dem Jahre 1988.

Das ist ein absolutes Lesehighlight! In einem Wort: Wow!

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Du musst stark sein, wenn du dieses Buch liest

Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist
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Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die ...

Für die Lektüre dieses Buches sollte man sich in einem gefestigten Gemütszustand befinden. Denn die junge südafrikanische Autorin Kopano Matlwa, selbst Ärztin, schreibt in diesem Roman nicht nur über die Überlastungen einer jungen Ärztin im Praktischen Jahr an einem unterbesetzten Krankenhaus in Johannesburg, sondern außerdem über den Rassismus von Schwarzen Südafrikaner:innen gegenüber Einwanderer:innen anderer afrikanischer Staaten, und vor allem auch über sexualisierte Gewalt und deren Folgen. Das ist der Part, für den man besonders stark sein muss bei der Lektüre dieses großartigen Romans.

Die Ich-Erzählerin – und wie man zügig erfährt, Tagebuchschreiberin – des Romans ist Masechaba, eine junge Ärztin, die (mit erschreckenden Parallelen zu ärztlicher Kolleg:innen in vielen anderen Ländern der Welt) massiv überarbeitet und mitunter auch stark überfordert aufgrund der ihr aufgebürdeten Verantwortung ist. In der ersten Hälfte des Romans begleiten wir sie in ihrem Alltag, der nicht nur von Überarbeitung sondern auch der Ausländerfeindlichkeit von Schwarzen Menschen untereinander durchsetzt ist. Masechaba rutscht zunehmend ob der Widrigkeiten des Alltags in eine schwere Depression, was den Tagebucheinträgen immer stärker anzumerken ist. Doch zum völligen Zusammenbruch kommt es erst, als sie, nachdem sie sich für ihre ausländischen Kolleg:innen eingesetzt hat, von drei fremdenfeindlichen Männern in einer Vergeltungstat vergewaltigt wird. Dies ereignet sich bei der Hälfte des nur 200 Seiten dünnen Buches und ab diesem Zeitpunkt verändert sich alles im Leben unserer Protagonistin, sowohl bezogen auf ihre Psyche aber auch ihre Familie und Freunde. Ob und wofür es sich trotzdem noch lohnt, weiterzuleben, erarbeitet man nun gemeinsam mit Masechaba mithilfe des eindringlichen Erzählstils der Autorin.

Die Sprache der Autorin ist niemals ausufernd, sondern immer punktgenau und authentisch formuliert. Und auch wenn sie gerade die Gewaltszenen nicht ausführlich schildert (zum Glück), reichen ganz kurze Nebensätze, um die mitfühlende Leserin tief verstören zu können. Hier sollte jede:r für sich entscheiden, ob man stark genug ist, der Autorin in diese Dunkelheit zu folgen. Jedoch gibt es auch Licht in diesem Roman und das macht ihn so besonders. Das sehen wir schon am Titel „Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist.“ Im Original heißt der Roman übrigens „Period Pain“. Meines Erachtens sehr passend, da es sehr stark um das Selbst- und Fremdverständnis von Frauen geht. Die Autorin verbindet dies mit der Fremdenfeindlichkeit. Als Masechaba mit ihrer ärztlichen Kollegin und Freundin aus Simbabwe über die zunehmende Fremdenfeindlichkeit spricht, vergleicht diese Freundin die (zu diesem Zeitpunkt noch „nur Alltagsfremdenfeindlichkeit“) mit „Wachstumsschmerzen“, die gerade Südafrika durchmache, Masechaba nennt es „Regelschmerzen“. Etwas, was nicht nur einmal im Leben auftritt und dann ist man darüber hinweg, nein, etwas, was immer wieder auftritt und auch zukünftig ziemlich sicher auftreten wird. So war es mir bis zu dieser erhellenden Lektüre nicht bewusst, dass in Südafrika Schwarze Ausländer so massiv diskriminiert werden und starken Gewaltausbrüchen zum Opfer fallen. Fremdenfeindliche Gewalt breite sich aus, „wie ein Buschfeuer“, Menschen werden mitunter bei lebendigem Leib angezündet und verbrannt. Viele Menschen, so auch die Mutter Masechabas sind der Meinung: „Sie kommen in unser Land, um uns alles wegzunehmen, wofür wir gekämpft haben“. Letztendlich wird jedoch wieder alles zurückgeworfen auf den Unterschied fernab der Hautfarbe, der Menschen zu oft zu Tätern und Opfern werden lässt: Der Unterschied zwischen den Geschlechtern. So legt Matlwa ihrer Protagonistin die eindringlichen Worte in den Mund:
„Ich bin nur ein Fall für die südafrikanische Vergewaltigungsstatistik. An meiner Geschichte ist nichts Besonderes, sie passiert überall, tagtäglich. Es spielt keine Rolle, dass ich hochgebildet bin, dass ich Ärztin bin, dass ich eine Petition aufgesetzt habe, die es bis in die Zeitung geschafft hat. Ich habe ein Scheide. Nur das zählt.“

Mich konnte dieser Roman aufgrund seiner knappen aber ausdrucksstarken Sprache, der gesellschaftlichen Sprengkraft und der psychologischer Nachvollziehbarkeit tief bewegen. Diese Autorin schreibt erbarmungslos ehrlich und legt den Finger in gleich mehrere Wunden, nicht nur Südafrikas sondern auch vieler anderer Länder dieser Erde. Dafür hat sie meine Hochachtung verdient und ich hoffe, es werden zukünftig noch weitere ihrer Romane ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. Nach der Lektüre war ich teilweise verstört, zerstört, aber eben auch ein kleines bisschen mit Hoffnung erfüllt. Eine dringende Leseempfehlung für dieses erstaunliche Werk!

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Veröffentlicht am 27.10.2023

Überzeugender, multiperspektivischer Roman über Demenz

Solange wir schwimmen
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In ihrem 160 Seiten dünnen Roman, erschafft Julie Otsuka, amerikanische Autorin mit japanischen Wurzeln, das Bild von einer dich auflösenden Person. Diese ist Alice, wohl nahe an der Mutter der Autorin ...

In ihrem 160 Seiten dünnen Roman, erschafft Julie Otsuka, amerikanische Autorin mit japanischen Wurzeln, das Bild von einer dich auflösenden Person. Diese ist Alice, wohl nahe an der Mutter der Autorin angelegt, welche an einer Frontotemporalen Demenz erkrankt und zunehmenden ihren Platz in der Welt verliert. Solange Alice noch regelmäßig mit einer eingeschworenen Truppe in einem unterirdischen Schwimmbad schwamm, gehörte sie noch dazu, zur Gemeinschaft, zur Gesellschaft. Aber dann erscheint ein Riss im Schwimmbecken und das Schwimmbad wird für immer geschlossen. Mit dem Verlust der Routine scheint sich auch Alice‘ Zustand zu verschlechtern, sie muss ins Pflegeheim und die Tochter kämpft mit ihrem schlechten Gewissen bezüglich dessen, was sie alles im Umgang mit der Mutter versäumt hat.

Nun könnte der vorliegende Roman einer sein, der in denen Kanon thematisch ähnlicher Veröffentlichungen der letzten Jahre passt. Er sticht jedoch ganz klar durch seine stilistischen Mittel heraus. Zum einen nutzt die Autorin sehr kurze, nur scheinbar simple Sätze jedoch mit vielen Aufzählungen, um tiefgründige Sachverhalte, Gefühle und Gedanken darzulegen. Zum anderen – und das ist hier das Meisterhafte am Roman – nutzt die Autorin in jedem Kapitel eine neue Erzählperspektive. Lernen wir noch das Schwimmbad aus der „Wir“-Perspektive kennen und erleben das Auftauchen des Risses, gehören auch wir noch zur Gemeinschaft dazu. Danach wechseln wir in die „Sie“-Perspektive (personal), durch welche wir die zunehmenden kognitiven Einschränkungen von Alice mit einem gewissen erzählerischen Abstand, aber nicht minder intensiv, aufgezeigt bekommen. Gerade die Wiederholungen der Aufzählungen sind hier herausragend, da sie das Davor mit dem Währenddessen bzw. Danach vergleicht. Dann schlüpfen wir in eine ganz ungewohnte Perspektive, die „Sie“-Perspektive (Höflichkeitsform). Denn nun werden wir direkt wie in einem Werbevideo oder Werbeprospekt für ein Pflegeheim von den Betreibern angesprochen. Es werden uns die vermeintlichen Vorteile des Heims angepriesen. Und trotzdem merken wir schnell: Das ist kein Ort, an dem wir leben wollen würden. Alice‘ muss es aber aufgrund ihrer Erkrankung. Und zuletzt spricht sich die Autorin mit der „Du“-Perspektive quasi selbst als Tochter an. Sie macht sich Vorwürfe, erinnert sich an Momente mit ihrer Mutter, verarbeitet, was das Verschwinden ihrer Mutter obwohl sie physisch zunächst noch anwesend ist, mit ihr macht.

Meines Erachtens geht die Autorin in ihrem Welt nicht nur äußerst kreativ die Thematik der Veränderung eines Umfeldes und einer Person durch die Erkrankung einer Demenz an, sondern gleichzeitig mit ganz feinem Humor und auch Zärtlichkeit. Selbst im sehr kritischen Kapitel zum Pflegeheim scheint immer wieder diese Zärtlichkeit durch die Werbementalität hindurch. Das Kapitel übt Kritik am System aber nicht an den Menschen darin. Und gleichzeitig ist es zum schreien komisch, wenn die Autorin die Mechanismen aufs Korn nimmt.

Ich bin absolut angetan von diesem kleinen Büchlein. Und ich betone gleich mal das "kleine Büchlein", denn mit dieser Kürze von nur 160 Seiten passt für mich alles. Es ist eine Länge, die dieses schwere Thema aushalten lässt. Es ist aber auch eine Länge, die die Besonderheiten des Sprachstils, nämlich der ungewöhnlichen Perspektiven und der Aufzählungen, gerade nicht anstrengend werden lässt. Die kurzen Sätze und die Kürze des Romans erscheinen da ebenso passend. Demnach hat die Autorin mich sprachlich vollends von ihrem Können überzeugt. Inhaltlich ebenso, denn sie schafft es auf ganz vielseitige Weise Blicke auf die Erschütterungen zu werfen, die eine Demenzerkrankung auf nicht nur einen Menschen, sondern auch sein Umfeld auslöst. Ich habe das Gefühl, dass die Autorin immer mehr rangezoomt hat und zwar letztlich auf sich selbst als Angehörige. Wir beginnen ganz breit gefächert mit dem Schwimmbad und den Menschen (WIR) darin. Es wird klar, dass es einen Riss gibt. Dieser führt zur Hospitalisierung (das SIE in der Höflichkeitsform), dann fliegen wir an Alice vorbei und beobachten sie (bleiben aber in der SIE-Form, die Alice meint) und zoomen dann heran an die Tochter (DU), die damit ganz nah an eigene Versäumnisse, Vorwürfe aber auch schöne Erinnerungen herantritt. Toll gemacht!

Mich konnte die Autorin von Seite Eins an mit ihrem kleinen, aber feinen Roman unglaublich berühren. Häufig standen mir die Tränen in den Augen. Deshalb bekommt dieser Roman in der wunderbaren Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Katja Scholtz auch die volle Punktzahl von mir. Ein Highlight, welches ich nicht so schnell vergessen werde.

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 08.10.2023

Vielschichtiger Roman mit Phantastik-Anteilen - Ein Highlight!

Babel
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Alle, die normalerweise um Phantastik einen großen Bogen machen, sollten dies bei „Babel“ keinesfalls tun, sondern zum Buch greifen und lesen!

Rebecca F. Kuang entwirft in ihrem Roman eine historische ...

Alle, die normalerweise um Phantastik einen großen Bogen machen, sollten dies bei „Babel“ keinesfalls tun, sondern zum Buch greifen und lesen!

Rebecca F. Kuang entwirft in ihrem Roman eine historische Welt, die sich nur minimal von der unsrigen unterscheidet und sich dafür aber in so vielen gesellschaftspolitischen Themen mit ihr überschneidet. Wir befinden uns in den 1830er Jahren im viktorianischen England. Das britische Empire erstreckt sich mit seinen Kolonien über den Globus und von überall her kommen junge Gelehrte, um in Oxford, spezieller in Babel, zu studieren. Babel ist ein Institut, welches sich Sprache und spezieller Übersetzungen zunutze macht, um das sogenannte „Silberwerk“ zu betreiben. In dieser alternativen Welt besitzt nämlich Silber ein gewisses magisches Potential. Durch Silberbarren mit entsprechenden Wortpaaren können Kutschen schneller fahren, Türme höher gebaut werden oder Kanonen mehr Zerstörungskraft entwickeln. Der Hauptprotagonist Robin stammt aus der chinesischen Stadt Kanton, wird von einem Babel-Professor als Kind mit nach England genommen und beginnt dann ein Studium in eben jenem Institut. Allerdings wird ihm nach und nach klar, dass dieser rein akademische Elfenbeinturm nicht nur Gutes in die Welt bringt und dass der Erfolg des Empires mithilfe der in Babel erstellten Silberbarren zur Unterdrückung der restlichen Welt führt. Er engagiert sich in einer Untergrundbewegung und die Situation eskaliert zunehmend, als sein Heimatland China den Import von britischem Opium verweigert und sich ein Krieg ankündigt.

Der Autorin ist mit diesem Roman nicht nur eine verständliche Aufschlüsselung der tatsächlichen historischen Geschehnisse gelungen, sondern außerdem ein Spiegelbild unserer heutigen Zeit, in der Postkolonialismus, Kapitalismus, Rassismus und die Chance auf Widerstand und eine Revolution der bestehenden Ordnung weiterhin eine sehr reale Rolle spielen.

An die Themen arbeitet sie sich über die Linguistik und die Kunst der Übersetzung an. Ihre Ausführungen zu Wortursprüngen und wie im Rahmen einer Übersetzung immer auch Inhalt verloren gehen kann, sind niemals trocken, sondern immer erhellend und wissenswert. Gleichzeitig zeichnet sie ein soziologisch interessantes Bild von dieser eingeschworenen Bildungselite, die so homogen dann doch nicht ist. Und auf psychologischer Ebene geht sie in die Tiefe bezogen auf eine Clique von vier Personen um den Hauptcharakter Robin herum. Und irgendwie schafft sie es dann auch noch die Weltpolitik glaubhaft in dieses Szenario einzubauen. Man könnte ja befürchten, es handle sich hier ausschließlich um einen Roman für junge Student:innen und ihre oberflächlichen Problemchen. Überhaupt nicht! Was Kuang erschafft, ist kaum in Worte zu fassen. (Vielleicht würde es mir ja in einer anderen Sprache gelingen.)

Sie stellt nachvollziehbar dar, wie sich die Macht der Fremdsprachen (hier sinnbildlich für andere Güter) durch die bewusste Ausbeutung fremder Kulturen und fremder Ressourcen im England dieser Zeit zentralisierte und erstellt damit eine Herleitung unserer heutigen Weltordnung. Außerdem arbeitet sie die historisch verbrieften Zusammenhänge der Industriellen Revolution anhand der hier „Industriellen Silberrevolution“ genannten den Menschen überholenden Fortschritt heraus. So scheint das Versprechen von Fortschritt nur Armut und Leid gebracht zu haben, denn selten wurden so viele Menschen in verruste Industriegebiete und aus ihren angestammten Arbeitsplätzen gerissen durch eine zunehmende Mechanisierung. Hier könnte man problemlos die aktuellen Diskussionen um die Digitalisierung und KI als Vergleich heranziehen.

Auch wird in der zweiten Hälfte des Buches zunehmend die Chancen eines Widerstands, einer Revolution von unten beleuchtet. Denn immerhin ist der vollständige Titel des englischsprachigen Originalromans folgender: „Babel. Or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators' Revolution“. Mit welchen Mitteln können die Menschen gegen ihren Staat aufbegehren? Kann es gewaltfrei eine Veränderung geben oder braucht es Gewalt zwingend? Kuang vermittelt hier keineswegs eine einfache Lösung mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger. Immer wieder lässt sie ihre, nebenbei äußerst authentisch entworfenen Figuren, Vor- und Nachteile diskutieren. Fast immer befinden sie sich zwischen den Stühlen, in den Grauzonen und können keine einfache Lösung finden.

Ich bin von diesem Buch über wie es im Begleittext heißt „die Magie der Sprache, die Gewalt des Kolonialismus und die Opfer des Widerstands“ ebenso begeistert wie über die Übersetzung von Heide Franck und Alexandra Jordan aus dem amerikanischen Englisch. Denn wie schwer muss es gewesen sein, dieses Buch, welches auf jeder Seite mit einzelnen Wörtern, ihrer Bedeutung und Übersetzung in verschiedenste andere Sprachen (u.a. Chinesisch, Altgriechisch, Sanskrit etc. pp.) arbeitet, vollkommen stimmig und funktionierend in die deutsche Sprache zu bringen? Klasse! Ganz große Klasse!

Ihr könnt euch meine Empfehlung denken: Lest! Lest dieses Buch, wenn euch Sprache etwas bedeutet und ihr sowohl historische Zusammenhänge als auch aktuelle Gegebenheiten besser verstehen wollt. Und keine Angst vor der „Phantastik“, diese ist hier nur ein Vehikel, aber dieses Vehikel ist so meisterhaft und plausibel entworfen, sodass man vollständig in die vielschichtige Welt von Rebecca F. Kuang eintauchen kann.

Ein Highlight!

5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 12.09.2023

Volle Punktzahl in der A- und B-Note

Seemann vom Siebener
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Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und ...

Im Freibad darf nicht fotografiert werden. Das weiß doch jeder und jede. Lenny ist dafür vor 25 Jahren aus dem Freibad von Bademeister Kiontke verbannt worden. Nun kehrt Lennard als gefeierter Kunst- und Kriegsfotograf wieder in seine Heimat zurück, denn Max, ein ehemaliger Jugendfreund ist gestorben und seine Beerdigung steht an. Doch statt zur Beerdigung geht Lenny ebenso wie Joe, Josefine, die Witwe von Max, erst einmal am letzten Wochenende der Saison ins alte Freibad. Aber eigentlich dreht sich die Geschichte von Arno Franks Roman „Seemann vom Siebener“ gar nicht so richtig um diese beiden Figuren. Nein, er dreht sich um viele Personen, die an diesem einen Tag das Freibad besuchen und alle ihren Gedanken und Problemen nachhängen. So auch Isobel, eine hoch betagte Dame, deren Ehemann das Freibad erbaute und die noch heute als ehemalige Lehrerin von vielen Freibadbesucher:innen erkannt wird. Und noch viele andere.

Arno Frank erschafft ein ganz wunderbares Tableau in diesem Freibad an diesem einen Tag im September. Jede Person bekommt ihr zugewiesene Kapitel, in denen wir in ihre Gedankenwelt eintauchen dürfen. Wirklich brillant gibt der Autor jeder Figur ihre eigene, personale Erzählstimme, die neben dem reinen Inhalt der geschriebenen Worte, allein schon durch die Form die jeweilige Figur vor dem inneren Auge entstehen lassen. Ein Mädchen bekommt als einzige die Ich-Erzählstimme zugewiesen. Sie ist es, die vorhat an diesem Tag vom gesperrten Siebeneinhalb-Meter-Turm einen Seemann-Köpper zu springen.

Ich bin absolut begeistert davon, wie es Frank schafft, mit nur wenigen Pinselstrichen seine Figuren lebendig werden zu lassen. Man glaubt es kaum, aber auf den nur knapp 240 Seiten taucht man so tief in die Psychen der Personen ein, dass man das Gefühl hat, gerade selbst vom Siebener gesprungen und fast bis auf den Grund der Dinge getaucht zu sein. Oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Bei richtig gut geschossenen Portrait-Fotografien hat man das Gefühl das ganze Leben dieser Menschen, ihre Wünsche und Sorgen herauslesen zu können. So gelingt dies Arno Frank in seinem Roman.

Deshalb gibt es kurzerhand von mir die volle Punktzahl sowohl in der A- als auch in der B-Note für dieses Lesehighlight und eine absolute Leseempfehlung!

5/5 Sterne

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