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Veröffentlicht am 03.07.2024

Das Ende des vorsichtigen Reisenden

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
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Sarah Brooks lässt im auslaufenden 19. Jahrhundert ihre Reisenden durch ein zwischen China und Russland liegendes, fiktives Ödland mit dem stärksten Zug der Welt transportieren. Dieser Zug ist technisches ...

Sarah Brooks lässt im auslaufenden 19. Jahrhundert ihre Reisenden durch ein zwischen China und Russland liegendes, fiktives Ödland mit dem stärksten Zug der Welt transportieren. Dieser Zug ist technisches Wunderwerk und Schutzpanzer gegen die Gefahren des Ödlands zugleich. Die Länder selbst schotten sich mit riesigen Mauern und Waffengewalt gegen die Bedrohung ab.

Doch was hier als öde betitelt wird, erscheint mir unheimlich attraktiv, voller Detailreichtum und positiver Möglichkeiten. Zudem verblasst für mich regelmäßig die vorgegebene Zeitachse, ich schwimme zwischen auslaufender Zarenzeit und Gegenwart. Über weite Strecken deuten die Verhaltensweisen der Damen im Roman auf ein emanzipierteres Zeitalter hin. Vielleicht ein anders entwickeltes Paralleluniversum?!

Begleitet werden die Reisenden vom „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ aus der Feder von Valentin Rostow, ein Buch im Buch also, das ihnen warnend Verhaltensweisen im Zug empfiehlt, um nicht am Ödland-Weh zu erkranken. Rostow teilt seine zwanzig Jahre früher liegenden Beobachtungen eigener Reisen, verwandelt damit den vorhandenen Respekt vor der Reise in Angst.

Schon irgendwie ein interessantes Debüt, von der Machart eigentlich gar nicht so meins, geradeaus erzählt, relativ blumig ins innere Auge geschrieben, zu viele sympathische Charaktere, wenig Streitbares, Nichts zum wirklich Aufregen. Trotzdem war dieser Reisebericht keine triviale Sommerlektüre. Es ist schwer, sich abschließend festzulegen, um was es geht. Wahrscheinlich entstehen Zuschreibungen in diesem Sinne abhängig davon, was die Lesenden an eigener Historie und Erfahrungen mitbringen.

Vielleicht wird ein stückweit auf die neuerliche, politische Ausrichtung der beiden Länder abgestellt oder es wird der Einfluss des Menschen auf Flora und Fauna kritisch betrachtet. Für mich geht es vor Allem um Veränderung, die Angstmache in diesem Kontext, aber auch um Abschied und Trauer, um einen beschwerlichen Weg hin zur nächsten hoffentlich wieder attraktiven Evolutionsstufe.

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Veröffentlicht am 01.02.2024

Impulse für mehr Mut und Kreativität im Leben

Die Piratenstrategie
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Pirate up your Life ist der Leitspruch von Stefanie Voss‘ Motivationsschrift. Es geht um das gezielte Verlassen der eigenen Komfortzone, um die Etappen zu den eigenen Lebenszielen zu meistern. Dafür braucht ...

Pirate up your Life ist der Leitspruch von Stefanie Voss‘ Motivationsschrift. Es geht um das gezielte Verlassen der eigenen Komfortzone, um die Etappen zu den eigenen Lebenszielen zu meistern. Dafür braucht es Wagemut, in meiner Wahrnehmung das am häufigsten verwendete Wort in diesem Sachbuch. Es ist allerdings nicht notwendig sein ganzes Leben auf links zu drehen. Pirate up your Life ist eher das regelmäßige Eingehen von Risiken, um den Status quo sukzessive zu verändern. Den inneren Schweinehund als Bedenkenträger gegenüber unserer Ideen und Vorhaben zu überwinden, dazu möchte uns die Autorin motivieren.

Teil der Abhandlung ist darüber hinaus ein großer Block Reflexion, über die eigenen Werte, über eigene Regeln vs gängiger Konventionen, über Geld- und Sinnkonto und vieles mehr. Logisch, weil sofort einsichtig, sind die Ausführungen zu den schönen Dingen des Lebens. Viel zu selten nehmen wir sie wahr. Besonders gefallen haben mir der Kuchen ohne Grund, die Piccolöchen im Kühlschrank sowie die Partys mit Activity.

Insgesamt ist das Sachbuch eine kurzweilige Angelegenheit. Mit Beispielen aus berühmten Piratenbiografien wie auch eigenen Lebenssituationen bereichert Stefanie Voss ihre Argumentationsketten. Manches reizt mich sofort nachzuahmen. In jedem Fall fühle ich mich motiviert, weniger nachgiebig gegenüber meinen Partnern zu sein.

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Veröffentlicht am 02.11.2023

Der rote Papst unter dem Naziregime

Lichtspiel
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Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. ...

Im Zeitalter des Stummfilms gehörte Georg Wilhelm Pabst, G. W. Papst, zu den den großen Film-Regisseuren der Weimarer Republik. Ihm widmet der hoch geschätzte Daniel Kehlmann seinen aktuellen Roman „Lichtspiel“. Obwohl mir die vielschichtige Betrachtung des Filmemachers Papst grundsätzlich gut gefallen hat, so habe ich doch noch etwas mehr von Kehlmann erwartet.

Überzeugen konnte mich der Autor hinsichtlich der persönlichen Entwicklung von G. W. Papst. Zu Beginn des Romans ist er der erfolgreiche, zwar mit einem Dämpfer in den USA versehene, aber immer noch selbstbewusste Regisseur. Schließlich hatte er dermaßen avantgardistische Filme inszeniert, dass diese zumindest szenenweise zensiert werden mussten. Als er dann aufgrund einer Verkettung von unglücklichen Ereignissen das Reich nicht mehr verlassen kann und zu Propagandafilmen gedrängt wird, merkt man sukzessive, wie der sozialkritische Rebell in ihm langsam, aber sicher stirbt. Als gegensätzliche Strömung lässt sich ein Verfall des Skrupels beobachten. Am Ende ist jedes Mittel und Opfer recht, das einem ausperfektionierten Film dient.

Gewöhnungsbedürftig habe ich die recht hohe Anzahl an Erzählperspektiven gepaart mit den teilweise ordentlichen Zeitsprüngen empfunden. Beim Übergang in eine neue Perspektive bleibt die Identität des jeweils aktuellen Erzählers recht lange verborgen. So erschließt sich den Lesenden oft erst rückwirkend ein ganzheitliches Bild. Die überwiegende Betrachtung des Protagonisten durch Dritte lässt G. W. Papst zeitweise in den Hintergrund seiner eigenen Geschichte geraten. Er wirkt dadurch unnahbar und wie ein Nerd seiner Zeit. Das entspricht wahrscheinlich sogar der Realität, lässt die Figur allerdings auch überdurchschnittlich unattraktiv und mürrisch erscheinen. Darüberhinaus sind es für mich insgesamt zu viele Charaktere, die im Roman ihren Auftritt bekommen. Die Allermeisten begleiten uns nur kurz, sind nur für die jeweilige Szenerie relevant. Das macht das Lesen dieses sprachlich leichtfüßigen Werkes phasenweise doch irgendwie anstrengend und lässt Längen entstehen.

Sensationell sind im Gegenzug die medial angepriesenen ironischen Spitzen, die Kehlmann in Form von Situationskomik gekonnt ausspielt. Der Lesezirkel, dem Trude Papst beitritt, der nur die Werke des Alfred Karrasch bewundert, sei nur ein Beispiel. Sämtliche derart gestaltete Kapitel habe ich mit viel Freude gelesen, weil sie viel mehr zu weiterführenden Gedanken, auch zum hier und jetzt, anregen, als die Geschichte an sich. Sie gleichen die ein oder andere Schwäche dieses künstlerisch, literarischen Puzzlespiels aus, so das die Lektüre insgesamt als attraktiv bezeichnet werden kann.

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Veröffentlicht am 09.10.2023

Ungewöhnlicher Blickwinkel auf ein jüdisches Erbe

Kajzer
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Menachem Kaiser ist gleichzeitig Autor und Ich-Erzähler des vorliegenden Sachbuches. Bei Besuchen am Grab des schon lange vor der eigenen Geburt verstorbenen Großvaters, die Menachem Kaiser alljährlich ...

Menachem Kaiser ist gleichzeitig Autor und Ich-Erzähler des vorliegenden Sachbuches. Bei Besuchen am Grab des schon lange vor der eigenen Geburt verstorbenen Großvaters, die Menachem Kaiser alljährlich mit seinem Vater begeht, stellt er irgendwann fest, dass er abgesehen von den spärlichen Aussagen des Vaters eigentlich nichts über seinen Großvater weiß. Dementsprechend ist auch seine Gefühlslage dem Großvater gegenüber eher kühl. Als irgendwann Menachems Vater in zwei Nebensätzen preisgibt, dass der verstorbene Großvater erfolglos mehrere Jahrzehnte versucht hatte, seinen Besitz in Polen wiederzuerlangen, war für Menachem eine Challenge losgebrochen. Dabei ist nicht wirklich klar, was genau die Motivation dahinter ist. Wirklich das Haus, der Grund und Boden? Ein Annäherungsversuch an den so fremden Großvater? Oder ein Akt zur Schaffung von Gerechtigkeit für ein Opfer der Schoa?

Was folgt ist eine Odyssee durch das in steter Überarbeitung befindliche Rechtssystem Polens mit einer, Killerin genannten, Rechtsanwältin. Trotz Sprachbarriere und der immensen Distanz zwischen Toronto und Schlesien reist Menachem mehrfach nach Polen, um die Rückforderung des familiären Besitzes auf den Weg zu bringen. Erfolg und Misserfolg seiner Mission sind abhängig von den Spitzfindigkeiten der Rechtsgrundlage. Er besucht die Heimatstadt seines Großvaters Sosnowiec, findet das Haus, spricht mit den Hausbewohnern. Die Gespräche münden in weiteren Kontakten, die dem Suchenden detaillierte Einblicke in das Lagerleben, das überdimensionierte Projekt Riese im Eulengebirge teils auf wissenschaftlich recherchierende Weise teils auf skurrile Weise gewähren.

Bei der Begegnung mit den sogenannten Schatzsuchern gärte in mir die Fragestellung, ob die stolze Präsentation der in den Tunneln von Riese gefundenen Nazigegenstände eine gewisse kulthafte Verehrung derselben darstellt. Das passte für mich so überhaupt nicht zur offenen Kommunikation der Schatzsucher mit Menachem, dem jüdischen Nachfahren. In Kombination mit den verschwundenen Lagern, die seinerzeit zu Groß-Rosen gehörten, entsteht ein seltsamer Eindruck in Richtung Erinnerungsverweigerung gegenüber den Opfern. Fragwürdig war für mich insbesondere die unbefangene Spaßaktion des Schätzesuchens an von Qual und Tod besudelten Orten. Doch was scheinbar fakt ist, muss nicht unbedingt gleichzeitig auch wahr sein. Mit dieser Argumentation hatte ich zunächst maximale Schwierigkeiten. Der Autor setzt sich jedoch dermaßen intensiv mit dieser ethisch moralischen Fragestellung auseinander, das ich inzwischen auch einem anderen Blickwinkel folgen kann. Positiv zu bewerten ist darüberhinaus die schon fast solidarische Hilfestellung der Schatzsucher, die auch Menachems Recherchen beflügeln, ihm Erkenntnisse bringen, die zu Beginn seiner Mission nicht erwartet werden konnten.

Kajzer ist ein schweres Buch, nicht weil es schwer verständlich oder nachvollziehbar ist, sondern weil es die Lesenden zur Auseinandersetzung mit der Schoa zwingt, und zwar über das Leiden und der Ansage: Das darf nie wieder passieren!, hinaus. Der Autor diskutiert mit uns unser heutiges Verhalten in diesem Kontext, das Schweigen und das fehlende Fragen, welches das Schweigen brechen könnte und vieles mehr. Man muss es beim Lesen nur wahrnehmen wollen. Das Buch kratzt am eigenen Gewissen, unabhängig davon, für wie aufgeklärt man sich bisher gehalten hat. Das ist nicht angenehm.

Trotzdem bin ich mehr als nur zufrieden mit der Lektüre. Ich schätze jeden Anstoß zu Reflexion. Leicht kritisch ist lediglich das ein oder andere ausufernde Abschweifen zu betrachten. Obwohl auch diese Exkursionen interessante philosophische Passagen für mich darstellten, so behinderten sie letztlich doch meinen Lesefluss. Hier hätte ich mir weniger Ausführlichkeit gewünscht.

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Veröffentlicht am 30.09.2023

Raus aus dem Irrenhaus oder ein Buch mutiert zum Lästerfreund

Ich arbeite in einem Irrenhaus
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Martin Wehrle ist Karrierecoach, Experte für Unternehmensführung sowie Unternehmenskultur und er weiß wohl, dass es den Insassen eines Irrenhauses namens „Meine Firma“ schwer fällt, sich mit ihrer Situation ...

Martin Wehrle ist Karrierecoach, Experte für Unternehmensführung sowie Unternehmenskultur und er weiß wohl, dass es den Insassen eines Irrenhauses namens „Meine Firma“ schwer fällt, sich mit ihrer Situation zu beschäftigen. In lockerem Sprachstil, mit einer Prise Humor versehen, hilft der Autor den Betroffenen über die eigene Hemmschwelle, motiviert sie zu manchem Selbsttest und Experiment.

Der Autor konfrontiert die Leser*innen mit zahlreichen Unternehmenssituationen, in denen die Schwächen von Personal Recruiting, Führung und Zusammenarbeit auf dem Silbertablett serviert werden. Das ganze ist verbunden mit einer herrlichen Situationskomik, so dass sich ein Dauerschmunzeln nicht verhindern lässt. Doch Vorsicht, denn eigentlich ist die Thematik ganz schön ernst.

Letztendlich lässt sich das Buch auf zweierlei Weisen lesen. Begibt man sich vollends in den Lachmodus, wird man sich in einem lästernden Zwiegespräch mit dem Autor wiederfinden. Es wird sich gemeinsam ergötzt an eigenem und fremdem Leid, es entsteht ein Verbundensein mit den Leidgenossen, Lethargie des Nicht-Ändern-Könnens macht sich breit. Wem diese Zwangsjacke nicht passt, der kann sich die Mängel im „eigenen“ Unternehmen, also bei seinem Arbeitgeber, bewusst machen. Auf Basis von aufgezeigten Wirkmechanismen lassen sich Denk- und Handlungsalternativen ausprobieren, mit ein bisschen Übung vielleicht sogar verfestigen. Es gibt nämlich jede Menge Tipps, aus dem Irrenhaus auszubrechen.

Mir hat das Brennglas auf meine eigene Situation sehr gut gefallen. Die eingeschobenen Aufgaben und Tests habe ich fast schon gern erledigt. Die Erkenntnisse daraus haben für mich mehr Tiefe erzeugt als die reine Lektüre. Wer eine wissenschaftlich perfekte Abhandlung erwartet, wird vermutlich enttäuscht sein, wer sich allerdings populärwissenschaftlich mit den Unzulänglichkeiten in Unternehmen beschäftigen will, dem sei diese Abhandlung empfohlen.

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