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Veröffentlicht am 26.11.2023

Eine bewegende Geschichte

Der Magische Fisch
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Tiền ist ein schüchterner Junge, der seinen Eltern zuhause gerne Märchen vorliest. Vor allem für ihn und seine Mutter, die als junge Frau aus Vietnam flüchten musste, sind diese Geschichten eine Form der ...

Tiền ist ein schüchterner Junge, der seinen Eltern zuhause gerne Märchen vorliest. Vor allem für ihn und seine Mutter, die als junge Frau aus Vietnam flüchten musste, sind diese Geschichten eine Form der Kommunikation, die ihnen ermöglicht, ihre Gefühle auszudrüciken. In der Schule hat Tiền nur zwei Freunde: Claire und Julian. Als er sich in Julian verliebt, wird die Schulleitung darauf aufmerksam und droht, Tiềns Geheimnis auffliegen zu lassen. Wie soll aber er die Worte finden, um mit seiner Familie über alles zu sprechen?

„Der magische Fisch“ ist die erste Graphic Novel des auch als Trungles bekannten Comiczeichners und Illustrators Trung Le Nguyen. Die Geschichte besteht aus insgesamt drei Handlungssträngen: die Gegenwart, in der Tiền und seine Familie leben, die Vergangenheit, in welcher Mutter und Vater aus Vietnam fliehen sowie die drei Märchen, die Tiền vorliest. Besonders ist dabei, dass jeder dieser Stränge seine eigene Farbgebung und eigenen Zeichenstil hat. Die Märchen sind dunkelblau und eher verspielt, die Vergangenheit gelb und etwas reduzierter, die Gegenwart rot und eher realistisch. So ist auf einem Blick ersichtlich, in welcher Ebene wir uns gerade befinden.

Tiềns Homosexualität ist ein zentrales Element der Graphic Novel. Er selbst zweifelt nicht, sondern weiß sehr gut, wer er ist – nur die Reaktion seiner Umwelt bereitet ihm Sorgen. Die Schule reagiert überfordert und Tiền wird gezwungen, ein Gespräch mit einem Priester zu führen und schließlich wird auch die Mutter informiert – Szenen, die unglaublich wütend machen, weil einem Jungen so die Möglichkeit genommen wird, sich im eigenen Tempo und auf eine selbst gewählte Weise zu outen.

Die Beziehung zwischen Tiền und seiner Mutter wird davon bestimmt, dass sie eigentlich keine gemeinsame Sprache haben. Der Sohn ist mit Englisch aufgewachsen, die Mutter mit Vietnamesisch und so nutzen die beiden die Märchen, um über Dinge zu kommunizieren, für die sie einfach keine Worte haben. Diese Erzählungen sind es auch, die Tiềns Mutter erlauben werden, mit ihm über seine Identität zu sprechen. Was für eine bewegende Geschichte!

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Veröffentlicht am 15.11.2023

Sehr ruhiger Roman über Andersartigkeit und Familie

Das verborgene Leben der Farben
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Mios Familie betreibt ein Atelier für Hochzeitskimonos. Dort lernt sie von klein auf die Bedeutung von Details, doch bald fällt auf, dass sie Farben anders wahrnimmt. Für Mio ist etwas nicht nur „rot“, ...

Mios Familie betreibt ein Atelier für Hochzeitskimonos. Dort lernt sie von klein auf die Bedeutung von Details, doch bald fällt auf, dass sie Farben anders wahrnimmt. Für Mio ist etwas nicht nur „rot“, sondern hat viele, nuancierte Abstufungen. Während der Vater gelassen bleibt, reagiert die Mutter ungewohnt heftig auf diese Seite ihrer Tochter. Mio fühlt sich isoliert und unverstanden, bis sie als Erwachsene in dem Laden für Farbpigmente, in dem sie arbeitet, Aoi kennenlernt. Der ist stets positiv gestimmt und das, obwohl seine Familie ein Bestattungsinstitut führt. Beide fühlen sich zueinander hingezogen, doch die Begegnung der beiden ist keinesfalls Schicksal.

„Das verborgene Leben der Farben“ ist der zweite Roman der italienischen Autorin Laura Imai Messina, die mit ihrem japanischen Mann und zwei Kindern in Tokio lebt. Zuvor erschien bereits „Die Telefonzelle am Ende der Welt“ über den Tsunami von 2011, welches ich sehr mochte. Beide Romane wurden von Judith Schwaab übersetzt. Erzählt wird die Geschichte von einem allwissenden Erzähler, der abwechselnd Mio und Aoi folgt und sie immer wieder zueinander in Beziehung bringt. Dabei springt er von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, so dass sich nach und nach das große Ganze der Handlung zusammensetzt.

Eines vorweg: Wer actionreiche Romane mag, wird hier nicht fündig. „Das verborgene Leben der Farben“ ist ein sehr ruhiger Roman, in dem sich vieles in Gesprächen und Beschreibungen abspielt. Die Autorin schafft immer wieder Kontraste und das nicht nur zwischen Farben, sondern auch verschiedenen Handlungselementen, Hochzeit und Tod sind dabei die offensichtlichsten, aber auch die unterschiedliche Farbwahrnehmung von Mio und Aoi. (Dass Aoi übersetzt „blau“ bedeutet, ist sicherlich auch kein Zufall.)

Nach und nach wird offenbart, warum sich die Pfade von Mio und Aoi überhaupt gekreuzt haben und eine einfach Liebesgeschichte entwickelt sich zu einem Roman über Andersartigkeit, die Bedeutung von Familie und den Platz in der Welt, den jede*r von uns sucht. Ja, es passiert nicht viel in diesem Roman – für mich war das aber genau richtig.

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Veröffentlicht am 08.11.2023

Toller Mix aus Realität und Fiktion

Der Cocktailmörderclub
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Haushälterin Phyllida Bright ist vollauf beschäftigt. Im Nachbarort steht das „Mord Festival“ an, bei dem die beste Kurzgeschichte prämiert und anschließend veröffentlicht werden soll. Die Jury, der berühmte ...

Haushälterin Phyllida Bright ist vollauf beschäftigt. Im Nachbarort steht das „Mord Festival“ an, bei dem die beste Kurzgeschichte prämiert und anschließend veröffentlicht werden soll. Die Jury, der berühmte Detection Club, ist zu Gast auf Mallowan Hall, dem Haus der berühmten Kriminalschriftstellerin Agatha Christie. Doch dann wird beim Cocktail-Empfang einer der Wettbewerbsteilnehmer vergiftet und Phyllida muss wieder ermitteln. Sollte eigentlich der unausstehliche Alastair Whittlesby das Opfer sein? Der ist nämlich fest überzeugt, als Gewinner aus dem Wettbewerb hervorzugehen.

„Der Cocktailmörderclub“ ist der zweite Band der Reihe um Agatha Christies Haushälterin, aus der Feder von Colleen Cambridge. Erzählt wird die meiste Zeit aus der Perspektive der Protagonistin in der dritten Person und der Vergangenheitsform. Hin und wieder nehmen wir jedoch auch einen anderen Blickwinkel ein, wenn eine wichtige Szene geschildert wird, in der Phyllida nicht anwesend ist. Besonders interessant ist hier der Mix aus real existierenden Personen - wie Agatha Christie, ihr Mann Max Mallowan und die Mitglieder des Detection Clubs (G.K. Chesterton, Dorothy L.Sayers, Anthony Berkeley) – und einem ansonsten fiktiven Kosmos.

Bereits mit dem ersten Todesfall spielt die Autorin auf Agatha Christies Roman „Nikotin“ an und dieses und andere „Easter Eggs“ machen die ganze Reihe zu einem großen Vergnügen für Christie-Fans. Aber auch ohne Kenntnis ihres Lebens und ihrer Werke ist das Buch ein spannender Krimi, der mit einer Vielzahl von Verdächtigen, Motiven und überraschenden Wendungen herrlich zum Mitraten einlädt.

Wirklich getragen wird „Der Cocktailmörderclub“ aber von seinen Figuren. Zum Beispiel erhält der grummelige Butler Dobble, Phyllidas erklärter Erzfeind, nun mehr Tiefe und auch Chauffeur Bradford darf in diesem Band mehr an der Ermittlungen teilhaben. Die Dialoge zwischen ihm und Phyllida, die eine leidenschaftliche Hass-Liebe widerspiegeln, sind einfach wunderbar und machen die Reihe für mich zu etwas Besonderem. Daher freue ich mich schon darauf, meine liebsten Charaktere in weiteren Bänden besser kennen zu lernen.

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  • Spannung
Veröffentlicht am 27.10.2023

Eine bemerkenswerte Sammlung

Wirres Haar
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In Deutschland wird japanische Lyrik am ehesten mit den dreizeiligen Haikus verbunden, die sich thematisch mit der Natur befassen. Weniger bekannt sind die Tankas, kurze reimlose Gedichte im Umfang von ...

In Deutschland wird japanische Lyrik am ehesten mit den dreizeiligen Haikus verbunden, die sich thematisch mit der Natur befassen. Weniger bekannt sind die Tankas, kurze reimlose Gedichte im Umfang von 31 Moren - wobei im Japanischen jede More einem Schriftzeichen entspricht und sich somit von dem unterscheidet, was wir unter einer Silbe verstehen. Dabei beschwört das Tanka stets einen bestimmten Augenblick und fängt ihn für die Ewigkeit ein.

Für die vorliegende Sammlung „Wirres Haar“ wählte die Lyrikerin und Essayistin Yosano Akiko aus etwa 650 ihrer Tankas genau 399 aus und unterteilte sie in insgesamt sechs Abschnitte. Die einzelnen Gedichte sind in dieser Ausgabe nummeriert und geben neben der deutschen Übersetzung auch die japanischen Schriftzeichen sowie die Umschrift in lateinische Buchstaben (rōmaji) an, was einen großen Mehrwert für diejenigen bieten dürfte, welche das Japanische beherrschen. Der Titel des Buches spielt auf eine gewisse innere Unruhe und ein Gefühlschaos an, denn zum Zeitpunkt der Entstehung im Jahr 1900/1901 trugen Frauen in der Regel ihre Haare hochgebunden oder hochgesteckt.

Generell ist die Sammlung eine Mischung aus tatsächlichen Erlebnissen und fiktiven Begegnungen, was nicht immer klar zu trennen ist. Es ist jedoch bekannt, dass der dritte Abschnitt „Weiße Lilie“ sich auf Yamakawa Tomiko bezieht, eine Freundin der Dichterin, mit der sie kurzzeitig auch um die Liebe zu ihrem späteren Ehemann Yosano Tekkan konkurrierte. Für ihn verließ Yosano Akiko überstürzt ihr Elternhaus – eine Erfahrung, welche sie wiederum im Abschnitt „Zwanzigjährige Gemahlin“ verarbeitet. Weitere Themen der Sammlung sind die Jahreszeiten, Farben und Blüten sowie Religion.

Im exzellenten Nachwort liefert Übersetzer und Herausgeber Eduard Klopfenstein neben biografischen Angaben auch eine kurze Chronik sowie ein Nachwort zur Sammlung, in dem er näher auf Aufbau und Inhalt eingeht. Yosano Akiko war eine faszinierende, unangepasste Frau, die sich neben ihrer Lyrik auch für die Gleichstellung von Frauen einsetzte. Ihre Essays liegen unter dem Titel „Männer und Frauen“ ebenfalls bei Manesse vor.

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Veröffentlicht am 15.10.2023

Ein zarter Roman über die Erwartungen an Frauen

Eine kurze Begegnung
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Mizuki lebt in Tokio, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dennoch will es ihr nicht recht gelingen, sich an die perfekten Ehefrauen um sie herum anzupassen, die schockiert sind, wenn sie ihr Kind tatsächlich ...

Mizuki lebt in Tokio, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dennoch will es ihr nicht recht gelingen, sich an die perfekten Ehefrauen um sie herum anzupassen, die schockiert sind, wenn sie ihr Kind tatsächlich ein paar Minuten zu spät aus dem Kindergarten abholt oder erwähnt, sich einen Bikini kaufen zu wollen. Ehemann Tatsu arbeitet viel zu viel und wenn er zuhause ist, beschäftigt er sich lieber mit seinem Handy als mit ihr. Als Mizuki dann eines Tages in einem Café Kiyoshi begegnet, muss sie sich fragen, was sie eigentlich vom Leben erwartet.

„Eine kurze Begegnung“ ist der Debütroman der Journalistin und Reiseschriftstellerin Emily Itami, die selbst in Tokyo aufwuchs und inzwischen in London lebt. Erzählt wird die Handlung aus Mizukis Perspektive in der Ich- und Gegenwartsform, was dem Ganzen eine gewisse Unmittelbarkeit verleiht und uns ihr Gefühlschaos besser nachvollziehen lässt. Die Geschichte geht dabei jedoch weit über eine klassische heimliche Affäre hinaus.

In ihrer Jugend verbrachte Mizuki ein Jahr in den USA – eine Erfahrung, die sie nachhaltig beeinflusst hat. Als sie zurückkommt, wird sie von allen als seltsam und fremd gefunden und kann sich nicht mehr recht in den japanischen Lebensstil einfügen. Ihre Ehe mit Tatsu und die Geburt der beiden Kinder scheint wie ein Versuch, nicht immer nur eine Außenseiterin zu bleiben. Da ergibt es auch Sinn, dass sie es inzwischen zum Beruf gemacht hat, Ausländern, die in Japan leben, die Eingewöhnung zu erleichtern.

Die Beziehung zu Kiyoshi wird unglaublich zart und geschmackvoll beschrieben. Zwischen den beiden geht es nicht einfach nur um schnellen Sex oder Bestätigung des eigenen Egos. Mizuki fühlt sich endlich wieder als Mensch gesehen, verbringt unbeschwerte Tage und führt tiefgehende Gespräche. Sie zeigt Kiyoshi die Orte ihrer Kindheit und er beginnt, sie auch in seine beruflichen Projekte mit einzubinden. Dennoch wissen beide, dass ihre gemeinsame Zeit erst einmal nur geborgt ist – doch wäre ihre Beziehung noch genauso, wenn Mizuki sich von ihrem Mann trennt? Will sie das überhaupt? Ein toller Roman über die Erwartungen an Frauen.

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