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Veröffentlicht am 30.10.2023

Gegen die Stigmatisierung der Einsamkeit

Die einsame Stadt
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Wie fühlt es sich an, wenn man der Liebe wegen die Koffer packt und sein vertrautes Leben aufgibt, um zukünftig in New York zu leben? Wenn man die Heimat verlassen hat, nur um dann festzustellen, dass ...

Wie fühlt es sich an, wenn man der Liebe wegen die Koffer packt und sein vertrautes Leben aufgibt, um zukünftig in New York zu leben? Wenn man die Heimat verlassen hat, nur um dann festzustellen, dass es mit diesem Partner nicht funktioniert? Wenn man zwar die Millionen Menschen der Metropole um sich herum hat, aber sich dennoch einsam und verlassen fühlt? Kapituliert man und setzt sich in den nächsten Flieger zurück, oder bietet man dieser Situation die Stirn?

Olivia Laing, die englische Journalistin und Autorin, wählt einen dritten Weg und verarbeitet ihr Gefühl der Einsamkeit und Isolation in „Die einsame Stadt. Vom Abenteuer des Alleinseins“, einem beeindruckenden Werk, gleichzeitig Memoir und geschliffener Blick auf Werk und Leben diverser Künstler, allen voran Edward Hopper, dessen Gemälde allesamt eine Abgeschnittenheit von der Außenwelt vermitteln, in der sie sich wiedererkennt.

Aber auch Andy Warhol, David Wjnarowicz und Henry Darger (plus Klaus Nomi, der allerdings eine Sonderrolle einnimmt) finden ihr Interesse. Und so taucht sie in deren Leben ein, studiert ihre Biografien und setzt sich mit ihrem künstlerischen Schaffen auseinander, bewegt sich kreuz und quer durch New York, schaut sich in Museen die Werke an und gräbt in Archiven nach Informationen. Die Übertragung des eigenen Problems auf das Leben dieser Künstler ermöglicht es Laing, einerseits auf Distanz zu gehen und andererseits eine lohnende Beschäftigung zu haben, die ihre Schaffensfreude anfacht und schließlich dafür sorgt, dass sie diese Stigmatisierung der Einsamkeit hinter sich lassen und das Alleinsein im urbanen Raum als bereichernde Erfahrung annehmen kann.

Ein sehr gelungenes Buch. Persönlich, tiefsinnig, interessant und informativ, speziell dann, wenn man sich für die genannten Künstler und deren Werk interessiert (umfangreiche Bibliografie am Ende des Buchs inklusive). Lesen!

Veröffentlicht am 28.10.2023

Von Liebe und Schuld

Der späte Ruhm der Mrs. Quinn
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Ich bin ein großer Fan der englischsprachigen Koch- und Backwettbewerbe, die bei den Streaming-Diensten zu sehen sind, da diese Produktionen bei weitem nicht so dümmlich Dialog lastig wie die deutschen ...

Ich bin ein großer Fan der englischsprachigen Koch- und Backwettbewerbe, die bei den Streaming-Diensten zu sehen sind, da diese Produktionen bei weitem nicht so dümmlich Dialog lastig wie die deutschen Produktionen bei den Privaten daherkommen. Von daher war mein Interesse gleich geweckt, als ich die Verlagsvorschau für Olivia Fords Debüt „Der späte Ruhm der Mrs Quinn“ entdeckt habe.

Jennifer Quinn und ihr Ehemann Bernard leben in einem kleinen englischen Dorf. Sie sind fast sechzig Jahre verheiratet und gemeinsam alt geworden. Bernard ist gesundheitlich leicht angeschlagen, sucht keine Herausforderungen mehr, er ist mit ihrem beschaulichen Leben zufrieden. Pantoffeln, die Zeitung, eine Tasse Earl Grey und dazu der leckere Kuchen, den seine Frau gebacken hat, so lässt es sich aushalten. Jenny hingegen fragt sich, ob das schon alles gewesen sein kann. Was wird sie hinterlassen wird, wenn das Leben zu Ende geht? Einmal noch möchte sie aus dem alltäglichen Trott ausbrechen, etwas nur für sich tun. Und so beschließt sie sich als Kandidatin für die Fernsehsendung „Das Backduell“ zu bewerbe. Bernard sagt sie davon nichts, er soll ja nicht das Gefühl haben, dass sie mit dem gemeinsamen Leben unzufrieden wäre. Und außerdem hat sie Angst davor, dass sie scheitert und/oder sich lächerlich macht.

In jeder Zeile dieses Romans fühlt man die große Empathie, die Olivia Ford diesen Menschen entgegenbringt. Man sieht die alte Dame vor sich, die in der Küche vor sich hin werkelt, man spürt die Zweifel, die sie hat, als sie sich fragt, ob ihre Bewerbung nicht allzu optimistisch war und man merkt ihr die leise Besorgnis an, als Bernard von der Diagnose seines Arztes erzählt. Sie kann sich nicht vorstellen, allein zurückzubleiben, falls er je vor ihr sterben sollte. Gedanken, die jede/r schon einmal hatte, der in einer langen Beziehung lebt. Es ist das Backen, das ihr in diesen dunklen Stunden Ablenkung und Trost bietet.

Die Autorin beschreibt nicht nur sehr anschaulich den Wettbewerb, sondern auch Jennys Gedanken, die sich in ruhigen Stunden anschleichen, wenn sie Bilanz zieht. Dabei bleibt Ford in ihren Beschreibungen warmherzig, vermeidet Kitsch und erzählt nicht nur von einer großen Liebe, sondern auch von Nichtgesagten und Schuldgefühlen, die sich über die Jahrzehnte aufgetürmt haben. Aber so wie ihre Protagonistin allmählich durch ihre Erfolge, aber auch durch die Rückschläge an Stärke gewinnt, findet sie auch im Privaten schlussendlich den Mut, reinen Tisch zu machen.

Ein rundum gelungener Wohlfühl-Roman mit einem liebenswerten Personen-Ensemble, bestens geeignet für trübe Herbsttage, das nebenbei noch wertvolle Anregungen für ambitionierte Hobbybäckerinnen bietet.

Veröffentlicht am 25.10.2023

Inside Social Media

Unfollow Stella
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Patsy Logan, die sympathische deutsch-irische Kommissarin, kenne ich schon seit ihrer Zeit beim Münchner LKA, als sie noch davon ausging, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Aber sie ...

Patsy Logan, die sympathische deutsch-irische Kommissarin, kenne ich schon seit ihrer Zeit beim Münchner LKA, als sie noch davon ausging, den nächsten Schritt auf der Karriereleiter zu machen. Aber sie hatte nicht mit ihrem hinterhältigen Kollegen Stani gerechnet, der ihr nicht nur die Stelle des Dezernatsleiters vor der Nase wegschnappte, sondern auch noch dafür verantwortlich ist, dass man sie für eine einjährige „Bildungskarenz“ in Dublin aus dem Verkehr gezogen hat.

Kurze Zusammenfassung des Status Quo: die Karriere auf Eis, die Ehe vor dem Aus, der Kinderwunsch erledigt. Ist Patsy deshalb angezählt? Mitnichten, und deshalb zögert sie auch nicht als Sam Feurstein, Polizeiattaché der österreichischen Botschaft, sie kontaktiert. Er benötigt ihre professionelle Unterstützung im Vermisstenfall Stella Schatz, beschäftigt in einer Content-Agentur und seit kurzem spurlos verschwunden. Noch haben Sam und Patsy keine Vorstellung davon, was sie erwartet, als sie im Zuge ihrer Nachforschungen in die Untiefen der Sozialen Medien eintauchen und in derem widerlichen Schlamm wühlen müssen…

Dass sowohl Patsy Logan als auch Ellen Dunne wesentlich mehr zu bieten haben, als wir in den ersten beiden Bänden lesen konnten, war für mich seit Band 1 offensichtlich. Honoriert wurde das mit dem Glauser-Preis 2023 für „Boom Town Blues“ (Band 3 der Reihe).

Die wahre Qualität der Autorin zeigt sich nämlich dann, wenn sie in ihren Kriminalromanen gesellschaftlich relevante Themen behandelt. In „Unfollow Stella“ ist das nicht nur die Realität jenseits der Katzenbilder von Social Media, sondern auch das Geschäftsgebaren der Multinationals, allen voran die Big Player unter den IT-Firmen, die in der Dubliner Steueroase seit Jahrzehnten ihre Profite ohne Rücksicht auf das Wohlergehen ihrer Angestellten maximieren.

Vergessen wir nicht Patsy Logan, die sympathische Protagonistin mit ihrer lässigen Art und lockeren Zunge, in Ermittlungen aber absolut fokussiert auf den Fall. Eine, die sich immer wieder durch ihr spontanes Handeln in Situationen hineinmanövriert, aus denen sie nicht ohne Blessuren herauskommt. Und damit meine ich nicht nur aufgeschürfte Knie und blaue Flecken.

Außerdem gibt es noch immer einen ungeklärten Handlungsstrang, nämlich den Verbleib von Patsys Vater, die Ungewissheit über sein Schicksal. Vor vielen Jahren ist er von heute auf morgen spurlos verschwunden, hat angeblich den Tod in der rauen Irischen See gesucht. Ob dem tatsächlich so ist, werden wir hoffentlich bald in der Fortsetzung der Reihe erfahren. Ich warte gespannt darauf und hoffe inständig, dass Patsy Logan nicht nach Deutschland zurückkehrt, sondern sich dazu entschließt, ihren Lebensmittelpunkt nach Dublin zu verlagern.

So oder so, für mich war „Unfollow Stella“ (btw ein etwas seltsamer Titel) ein Highlight in der Masse der Herbst-Neuerscheinungen. Bitte mehr davon!

Veröffentlicht am 18.10.2023

Unterhaltsamer Kriminalroman

Der Botaniker
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Einmal mehr muss man sich über die seltsame Veröffentlichungspraxis der deutschen Verlage wundern, denn M. W. Cravens „Der Botaniker“ ist bereits Band 5 der 2019 mit dem CWA Gold Dagger ausgezeichneten ...

Einmal mehr muss man sich über die seltsame Veröffentlichungspraxis der deutschen Verlage wundern, denn M. W. Cravens „Der Botaniker“ ist bereits Band 5 der 2019 mit dem CWA Gold Dagger ausgezeichneten Reihe mit Detective Sergeant Washington Poe und seiner Partnerin Tilly Bradshaw. Und es wäre in der Tat schade, wenn man uns die anderen Bände vorenthielte.

Worum geht es? Die Frage lässt sich leicht beantworten. Das Team um DS Poe bekommt es mit einer Mordserie zu tun, in der der Täter den zukünftigen Opfern Gedichte und Trockenblumen zusendet, weshalb er in der Berichterstattung der Presse als Botaniker bezeichnet wird (Fall 1). Die Öffentlichkeit beklatscht seine Taten, hat mit den Opfern wenig Mitleid, waren es doch allesamt zwielichtige Unsympathen, die in der Vergangenheit vor allem durch ihr abstoßendes Verhalten auffielen.

Die Reihe lebt von dem Zusammenspiel des Teams um DS Poe, den knorrigen Zyniker, der für die Serious Crime Analysis Section arbeitet, einer Unterabteilung innerhalb der britischen National Crime Agency, die die schwierigen Fälle auf den Tisch bekommt. Unterstützt wird er von Tilly Bradshaw, einer hochbegabten externen Analystin, die aber außerhalb ihrer Arbeit kaum in der Lage ist, den Alltag zu meistern. Dann wäre da noch die in diesem Band unter Mordverdacht stehende, scharfzüngige Pathologin Estelle Doyle, deren Unschuld es zu beweisen gilt (Fall 2). Nicht zu vergessen DI Stephanie Flynn, die Chefin im Ring. Und keine/r dieser Vier schleppt ein unbewältigtes Trauma mit sich herum.

Sympathische Protagonisten, trockene, humorvolle Dialoge, zwei raffiniert konstruierte Locked-Room-Fällen mit überraschenden Wendungen, eine rasch voranschreitende Handlung, ein fesselnder, cleverer Kriminalroman, der ohne Einschränkung unterhält.

Veröffentlicht am 15.10.2023

Von einer, die den Tod ungeduldig macht

Wie Sterben geht
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Wie bereits in „Operation Rubikon“ und „Ritchie Girl“ legt Andreas Pflüger mit „Wie sterben geht“ einen spannenden Politthriller vor, dessen komplexe Handlung eng mit realen Vorkommnissen der internationalen ...

Wie bereits in „Operation Rubikon“ und „Ritchie Girl“ legt Andreas Pflüger mit „Wie sterben geht“ einen spannenden Politthriller vor, dessen komplexe Handlung eng mit realen Vorkommnissen der internationalen Politik verwoben ist. Und einmal mehr steht mit Nina Winter nach Sophie Wolf, Jenny Aaron und Paula Bloom eine beeindruckende Frauenfigur im Mittelpunkt (übrigens werden sowohl Jenny als auch Sophie in einem Nebensatz kurz erwähnt).

Hier also Nina Winter, nach einem Zwischenstopp im Kulturreferat des Auswärtigen Amtes vom BND als Analystin angeworben. Eine Langstreckenläuferin, die gewohnt ist, über die Schmerzgrenze zu gehen und von Rem Kukura, dem russischen Top-Agenten des BND, Deckname Pilger, als Führungsoffizier angefordert wird. Nina, die in Moskau zwischen die Mühlsteine der Geheimdienste gerät und mehr als einmal dem Tod ins Auge blickt, in Augenblicken der Gefahr über sich hinauswächst, um diejenigen, die ihr am Herzen liegen zu beschützen.

Die Weltlage ist angespannt, hinter den Kulissen bringen sich die Kalten Krieger in Stellung. Nichts Neues im Osten und Westen. Schmutzigen Spielchen sind an der Tagesordnung. Opfer? Zählen nicht. CIA, KGB, HVA. Und mittendrin der BND.

Berlin, 1983. Der Anfang ist das Ende. Fast. Als die Glienicker Brücke in die Luft, scheint es, als wären alle ihre Anstrengungen vergebens gewesen. Bleibt die Frage, wer und warum ist dafür verantwortlich. Um diese Frage zu beantworten, ist eine Reise in die Vergangenheit unumgänglich. Und so begleiten wir Nina auf ihrem Weg zurück zu den Anfängen. Beobachten ihre Ausbildung durch Thräne (neben Nina meine Lieblingsfigur), folgen ihr nach Moskau, bewegen uns auf Schüttelstrecken und Reinigungsschleusen durch die dunklen Gassen der russischen Hauptstadt auf dem Weg zu Treffpunkten und toten Briefkästen. Immer auf der Hut und bereit, den Berserkergang zu gehen. Koste es, was es wolle. Und wenn es das eigene Leben ist.

„Wie Sterben geht“ ist ein actionreicher Spionagethriller der Superlative, in dem einfach alles stimmt: Sprachlich auf höchstem Niveau, wobei der trockene Humor des Autors immer wieder für leises Schmunzeln sorgt. Hervorragend geplottet, hier merkt man den langjährigen Drehbuchautor und Filmliebhaber. Sehr gut recherchiert und mit realistischem Zeitkolorit durch die Verbindung von Zeitgeschichte und Fiktion, aber auch der beiläufigen Erwähnung von Musik und Filmen. Bitte mehr davon!