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Veröffentlicht am 25.01.2024

Eine Geschichte mit Sogwirkung

Wir, wir, wir
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Leila, Britney, Jody, Hazel, Isabel und Christian sind dreizehn Jahre jung und gehören zusammen. Alle tun was Leila sagt, meistens. Ihre Väter sind weg, ihre Mütter einsam. Deswegen hängen sie immer zusammen ...

Leila, Britney, Jody, Hazel, Isabel und Christian sind dreizehn Jahre jung und gehören zusammen. Alle tun was Leila sagt, meistens. Ihre Väter sind weg, ihre Mütter einsam. Deswegen hängen sie immer zusammen ab. Keine von ihnen ist gern allein. Wenn sie ihre Mütter zum Heulen bringen wollen, benehmen sie sich wie Männer.

Wir waren clever. Wir lasen die Bibel, kannten alle Märchen und schauten Nachrichten. Von unseren Müttern hatten wir gelernt, uns nicht für dumm verkaufen zu lassen. Wir wussten, dass uns in dieser Welt nichts geschenkt wird. Wir wussten, dass Liebe Übung erfordert, und wir waren wild entschlossen, uns die Zeit zu nehmen. S. 32

Sie klauen ihren Müttern Wodka und betrinken sich, um nichts fühlen zu müssen. Das Trinken härtet sie ab, bringt sie zum Lachen, lässt das Wilde wieder aufflackern.

Zu sechst umkreisen sie Sammy aus der Oberstufe, wie die Erde die Sonne. Denn Sammy ist die Schönste, sie hat Stil und sie ist cool. Sie hängt immer mit Mia rum, das scheint ihr zu reichen. Die sechs fixieren die beiden, ahmen sie nach und bleiben doch voller Selbstzweifel, nicht gut genug zu sein. Durchschnitt. Dabei will jede von ihnen diejenige sein, die am meisten geliebt wird.

Wir sind hässlich. Doch das wussten wir schon. Wir sind ungewollt. Das wussten wir auch schon. Sie nannten uns Monster. S. 128

Sammy feiert ihren Geburtstag hinter der Mauer. Da, wo auch Mia wohnt. Die sechs sind auf die Ruine geklettert und schauen dem Treiben zu. Alle springen herum, bewerfen sich mit Wasserbomben, stecken sich die wabbeligen Kugeln in die BHs und rennen hintereinander her. Plötzlich steht Sammy auf dem Balkon, sie hat sich die langen Haare abrasiert, krass. Und dann verschwindet sie.

Fazit: Eieiei, was für eine Geschichte. Im prüden, moralischen, doppelzüngigen Amerika, glaubt eine Mädchenclique an den “American way of live”. Wenn du eine Frau bist, musst du entweder Schönsein, Tanzen, oder Singen können. Dann wirst du auf einer Castingshow entdeckt und gewinnst den Hauptpreis. Alle lieben und bewundern dich, man segnet dich mit Reichtum. Dann kommt man aus diesem Kaff raus und endet nicht, wie die Mutter. Die Autorin hat ein feines Gespür und eine besondere Beobachtungsgabe. Sie zeigt, wie narzisstisch und manipulativ die Mädchen, in dieser Umgebung geworden sind. Die Geschichte entwickelt einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Zwischenzeitlich verschwimmt die Wirklichkeit und es wirkt , wie in einem luziden Traum. Zum Ende hin, sind einzelne Kapitel, einem der Mädchen gewidmet und zeigt sie als erwachsene Frau, was aus ihr geworden ist und wie sie in der Rückschau, ihre Sicht darstellt. Das Ende war für mich, wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wünsche diesem gekonnten Debüt viele Leser.

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Veröffentlicht am 10.01.2024

Was für eine gelungene Geschichte

Das Leuchten in mir
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Emmas Mann Olivier ist leidenschaftlicher Auto-Händler. Er liebt sie alle, diese PS starken Spielzeuge. Er trinkt gerne Wein, philosophiert darüber und ist ganz verrückt nach guten Speisen. Emma liebt ...

Emmas Mann Olivier ist leidenschaftlicher Auto-Händler. Er liebt sie alle, diese PS starken Spielzeuge. Er trinkt gerne Wein, philosophiert darüber und ist ganz verrückt nach guten Speisen. Emma liebt ihre Familie, ihre beiden Töchter, die eine zart besaitet, die andere robuster und ihren Sohn. Mit Olivier genießt sie das Leben, sie zehren von dem, was sie sich aufgebaut haben.

In einer Mittagspause geht sie in die Rue de Béthune, bleibt vor einem Restaurant stehen, überlegt und geht hinein. Sie setzt sich an den Thresen und bestellt einen Tee.

Plötzlich lacht er mit seinen Freunden. Ich höre sein Lachen nicht, weil er zu weit weg ist, ich sehe nur die aufscheinende Freude, die die Welt schöner macht, und eine unerwartete elektrische Ladung schießt in meinen Unterleib, verbrennt mich, öffnet mich; Kälte, Wind und alle Stürme, stürzen sich in meine unsichtbare, meine ungeahnte Schwachstelle. Alles in mir gerät in Panik. S. 20

Von diesem Tag an verbringt sie jede Mittagspause in diesem Restaurant.Sie beobachtet ihn, ihr Verlangen wächst, bis sie sich neben ihn setzt und ihn anspricht, erfährt, dass er Alexandre heißt, ebenso verheiratet und kinderlos ist.

Alexandre schleicht sich in ihre Nächte, lässt sie, neben Olivier, schlaflos innerlich brennen, bis sie das unvermeidbare wagt.

Fazit: Was für eine gelungene Geschichte. Die Stimmung zuerst prickelnd, erotisch und brisant und dann entsetzlich und traurig. Die Protagonistin ist überzeugend gezeichnet. Die Sprachbilder sind, vermutlich auch wegen der wunderbaren Übersetzung, gefühlvoll und leidenschaftlich. Ich mag, wie die Protagonistin ihr Leben analysiert, wie sie durch ihre Entscheidungen reift. Ihre Gedankengänge sind nachvollziehbar erzählt. Ich finde auch erstaunlich, dass der Autor, sich dermaßen gut in eine Frau hineinversetzen kann. Das zu können, ist große Empathie, es so zu schreiben, ist große Kunst. Chapeau.

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Veröffentlicht am 28.11.2023

Ganz große Erzählkunst

Marschlande
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Britta lebt jetzt mit ihren Kindern, Marscha und Ben und ihrem Mann Philipp in den Marschlanden, einem Bezirk in Hamburg Bergendorf. Sie liebt die Reetdachhäuser von denen sie umgeben sind, Philipp jedoch ...

Britta lebt jetzt mit ihren Kindern, Marscha und Ben und ihrem Mann Philipp in den Marschlanden, einem Bezirk in Hamburg Bergendorf. Sie liebt die Reetdachhäuser von denen sie umgeben sind, Philipp jedoch bevorzugte ein größeres Haus im Neubaugebiet, viel Beton, viele Fenster. Im Gegensatz zu Britta ist Philipp angekommen, sie glaubt noch etwas Zeit zu brauchen. Statt die restlichen Kartons auszupacken, streift sie durch die Gegend, versucht sich die Deichlandschaft zu erschließen.

Als sie mit Marscha schwanger war, verzichtete sie auf eine Karriere als erfolgreiche Geologin. Philipp arbeitete mehr und brachte ein gutes Einkommen nach Hause. Sicher, sie hatte sich schon etwas mehr Einsatz von ihm gewünscht, um auch einmal Freiräume für sich zu schaffen, es dann aber hingenommen, wie es war. Jetzt ist er so eingespannt, dass er ihr abends nicht mehr zuhört, fast beschleicht sie das Gefühl, dass er sich nicht mehr für sie interessiert.

Britta fühlt sich in ihrer Umgebung wie eine Fremde, bleibt nirgends zu lange stehen, versucht keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen, ein Gefühl beschleicht sie. Ein Gefühl, das sie kennt, als wäre es in ihre Genetik gebrannt. Sie liest den Namen eines Straßenschildes: Abelke Bleken – Straße und der Name geht ihr nicht mehr aus dem Sinn.

Britta forscht nach, was es mit dieser Frau auf sich hatte, die im fünfzehnten Jahrhundert hier lebte und entdeckt allerlei Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten. Während sie in die Geschichte Abelkes eindringt findet sie Parallelen zu ihrem jetzigen Leben und ihrem Dasein als Frau. Als ihre Tochter durch sexistische Stimmen ihrer neuen MitschülerInnen gemobbt wird schließt sich der Kreis des kaum Aushaltbaren.

Es reichte eine Frau zu sein, ein Mädchen, das reichte schon, um in Gefahr zu sein, eine Zielscheibe zu sein, erst recht, wenn man sich vorwagte, mit etwas herausragte, aus der Rolle fiel, die falschen Wege betrat oder zur falschen Zeit. S. 166

Fazit: Wow, was für eine Geschichte, geistreich, kreativ und so gut recherchiert. Jarka Kubsova hat eine Botschaft. Sie vermittelt uns, was ich auch so oft gespürt habe, was es heißt eine Frau zu sein. Es ist als wäre unsere Amygdala (Sitz der Angst unterhalb der Hypophyse) epigenetisch vergrößert, was uns zu vermehrter Angst, Sorge und Vorsicht bringt. Allein wegen unserem Geschlecht, sind wir manigfaltigen Gefahren ausgesetzt. Wenn dann noch patriarchales Machtdenken oder strukturelle Ungerechtigkeiten hinzukommen, werden wir aus der Bahn geworfen.

Die Technik der Autorin ist große Erzählkunst. Jedes Kapitel wird zu einem Cliffhanger, sie widmet ein Kapitel Britta und unserer Gegenwart, im nächsten schaut sie in Abelkes Vergangenheit. Sie lässt sich Zeit diese Geschichten zu erzählen, mich jedoch nicht ungeduldig zappelnd zurück, sondern hält mir einen interessanten anderen Erzählstrang hin, den ich dankbar annehme. Selten hat mich ein Buch, durch seine bildhafte Sprache so sehr bewegt, wie Marschlande. Danke, Jarka Kubsova, dass ich etwas so mitreißendes, schönes lesen durfte. Chapeau.

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Veröffentlicht am 09.11.2023

Digitaler Fußabdruck

Zeiten der Langeweile
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Die Ich-Erzählerin Mila Meyring, 34 Jahre, promovierte Kulturwissenschaftlerin wünscht sich ein Real Life Reset.

Als mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht ...

Die Ich-Erzählerin Mila Meyring, 34 Jahre, promovierte Kulturwissenschaftlerin wünscht sich ein Real Life Reset.

Als mein Bruder nach meinen Beweggründen fragte, sagte ich, ich wolle online nicht mehr gesehen werden, Leute nicht mehr online sehen, mich nicht mehr darüber abfucken, warum Nicki mein Selfie nicht geliked hatte, jemand ein Buch publizierte, heiratete, ein Kind bekam, auf die Malediven flog oder darüber, dass ich meine Skin-Care-Routine nicht einhielt. S. 13

Trotz Tinder, Okcupid und Co. hat Mila sich schon länger nicht mehr daten lassen, seit Nicki und sie nicht mehr zusammen sind. Ihre Accounts bei Facebook, Instagram und TicTok hat sie längst gelöscht. Sie entwickelt die Angst in einem digitalen Inferno gelyncht zu werden. Ebenso hat sie Angst die Kontrolle zu verlieren, in ihrer Real Time Life Balance zu kurz zu kommen und auch das Urteil anderer fürchtet sie zunehmend. Nach und nach schaltet Mila alles ab, was sie beeinflussen könnte. Das Fenster zur Welt schließt sich. Es erstaunt sie, dass sie scheinbar nicht vermisst wird. Einzig zu vier Menschen hält sie noch Kontakt. Sie schreiben sich SMS, oder Email, um sich zu verabreden, telefonieren aber selten.

Ein wenig verunsichert ist Mila schon, dass sie von Putin und der Ukraine kaum etwas mitbekommt, Einen atomaren Krieg kann sie sich vorstellen. Die Anbieter von Satellitenfernsehen hat sie gekündigt, einen Blick in den viralen Äther erlaubt sie sich nur noch selten. Die Erhöhung der Nebenkosten lässt sie schier verzweifeln, denn sie hat ihren Job gekündigt, weil die ihr Mitarbeiterinnenprofil ins Netz gestellt haben.

Mila versucht ihre digitalen Fußabdrücke zu löschen und stresst sich dabei zunehmend. Ihre Befürchtungen nehmen schizoide Züge an und führen zu irrationalen Vermeidungsstrategien. Sie steigert sich rein, alles dreht sich nur noch um sie, Selbstbezogenheit breitet sich aus. Die Kontrolle, die sie glaubte im viralen Dasein zu verlieren, verliert sie jetzt offline über sich selbst, ihren Körper, ihren Geist. Mila wird zum einsamen mentalen Wrack.

Fazit: Eine intelligent geschriebene Geschichte über unsere digitale Gegenwart, mit erfrischenden Abstechern in die Popkultur Berlins, in der Mila aufgewachsen ist.

Ich kam mir vor wie die Protagonistin eines Drop-out-Channels oder das verhüllte Gesicht eines NosurfPRStunts. S 170

Der Roman ist in drei Teile gegliedert, wärend derer, Milas Obsession sich der Welt zu entziehen sich steigert. Die Wahrnehmung der Protagonistin hat mich mitgerissen. Milas Selbstbezogenheit war zwischenzeitlich nervig, aber das liegt eher daran, dass ich das von mir selbst kenne und tut der Intention der Geschichte keinen Abbruch.

Der Haupttenor der Geschichte war für mich: “Sobald du dich dafür interessierst was andere über dich denken, fangen deine Probleme an.”

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Veröffentlicht am 06.11.2023

Ein großartiges Debüt

Die kleinen Lügen der Ivy Lin
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Ivy ist in einem kleinen Ort Chinas geboren, ihre Eltern sind arm. Sie immigrieren nach Amerika, weil sie sich dort bessere Chancen ausmahlen. Ivy ist zwei Jahre, als sie zu ihrer Großmutter Meifeng kommt. ...

Ivy ist in einem kleinen Ort Chinas geboren, ihre Eltern sind arm. Sie immigrieren nach Amerika, weil sie sich dort bessere Chancen ausmahlen. Ivy ist zwei Jahre, als sie zu ihrer Großmutter Meifeng kommt. Meifeng ist eine robuste, herzliche Frau, die Ivy in den nächsten drei Jahren alles beibringt, was ein kleines Mädchen braucht. Dann jedoch wird Ivy in ein Flugzeug gesetzt, das sie zu ihren Eltern nach Massachusets bringt.

Die Eltern sind zwei unterkühlte Menschen. Mütterliche Wärme erfährt Ivy einzig, wenn Gäste zugegen sind. Ivys Mutter hat rigide Vorstellungen vom Leben. Ihre Tochter soll Ärztin werden, was Fleiß, Disziplin und Ehrgeiz voraussetzt, doch Ivy kann die Erwartungen der Mutter nicht erfüllen, sie hat nicht das nötige Durchhaltevermögen und ändert schnell ihre Meinungen.

Ivy ist zwölf als sie anfängt zu stehlen. Sie braucht Tampons, Rasierklingen und ein Tagebuch, lauter Dinge, um die sie ihre Eltern nicht zu bemühen braucht. Sie beneidet ihre Mitschülerinnen, mit den langen blonden Haaren und der makellosen weißen Haut. Aus Wut auf ihre Mutter verschenkt Ivy ihre Jungfräulichkeit an den kleinkriminellen Roux aus der Nachbarschaft.

Sie verliert Roux aus den Augen, als sie mit ihren Eltern nach New Jersey zieht und verliebt sich unsterblich in Gideon, einen Mitschüler am College. Zur Strafe wird sie in den Ferien nach China zu ihren Verwandten geschickt und verliert Gideon aus den Augen. Aber das Feuer entfacht zwölf Jahre später aus Neue.

Fazit: Ich mag die Geschichte sehr, auch weil ich mich auf fast 500 Seiten nicht eine Sekunde gelangweilt habe. Ich bekomme neben einer spannenden Geschichte, die sich überraschend entwickelt, einen Einblick in die chinesische Mentalität. Ivys Eltern, die aus einem totalitären, kommunistischen System kommen und gelernt haben, sich durch Fleiß und Anpassungsfähigkeit empor zu arbeiten und versuchen ihre Kinder mitzuziehen. Und ich bekomme einen Einblick in die Oberflächlichkeit der amerikanischen Upper class. Es ist der Debütroman von Susie Yang und ich empfehle ihn gerne weiter.

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