Mörderische Geschichte im Graphischen Viertel
Die Bibliothek im NebelDer Autor Kai Meyer beschreibt in „Die Bibliothek im Nebel“, erschienen bei Knaur, die Geschichte in großen Zeitabständen. Die 11-jährige Liette findet zurückgelassene Koffer, ein verschlossenes Buch und ...
Der Autor Kai Meyer beschreibt in „Die Bibliothek im Nebel“, erschienen bei Knaur, die Geschichte in großen Zeitabständen. Die 11-jährige Liette findet zurückgelassene Koffer, ein verschlossenes Buch und eine Mondsteinkette der Kalinins auf dem Dachboden des Hotels ihres Onkels an der Côte d’Azur, dann entdeckt sie die verlassene Villa der Eisenhuths ganz in der Nähe des Hotels. Dort gibt es diese geheimnisvolle Bibliothek. Liette will zeitlebens mehr darüber erfahren, auch weil sie die benachbarte Villa samt Bibliothek kaufen will. Sie bringt als erwachsene Frau den Ganoven Thomas Jansen dazu, mit ihr das Rätsel der Erben der Villa entschlüsseln zu wollen. Ich habe atemlos die Figuren begleitet. Ich kann mir alles gut vorstellen und mich in die Situationen sehr gut hineinversetzen. Je mehr ich lese, desto mehr fügen sich die Puzzleteile zusammen und neue Fragen drängen sich auf.
Der junge Bibliothekar Artur Kalinin erzählt als Ich-Erzähler davon, dass seine Cousine Ofeliya verschleppt und seine Tante und sein Onkel vermutlich getötet worden sind. Sie sind seine Familie, die ihn nach dem Tod seiner leiblichen Mutter aufgenommen haben. Es sind gefährliche Zeiten in St. Petersburg, während der Revolution. Nur mit der Hilfe seines Freundes Spiridon kann er mit ein paar Habseligkeiten und einem Manuskript auf ein Schiff entkommen und will seiner großen Liebe, der Malerin Mara, über die Ostsee nach Leipzig folgen, die allerdings einem anderen versprochen ist. Einem der Eisenhuth-Söhne. Die Eisenhuths aus Leipzig sind ebenfalls eine reiche Verlegerfamilie und haben ihre Urlaube wie die Kalinins an der französischen Mittelmeerküste verbracht. Arturs Ziel ist also das Graphische Viertel in Leipzig, von dem ihm Mara vorgeschwärmt hat. Aber es herrschen in Deutschland Krieg und Hunger.
Die raffiniert erzählte Geschichte in der Geschichte ist ein gut recherchiertes Zeitporträt und zugleich eine Hommage an die Buchdruckkunst - Heyms bedrückende Schattengedichte über den Untergang „Umbra vitae“ erschienen nicht 1917 bei Eisenhuths, sondern 1912 bei Rowohlt, aber in Leipzig. Die hochspannende und auch abgründige Geschichte folgt Liette und Thomas bei ihrer Recherche, die sie in die eine oder andere Gegend führt. Was oder wer ist der Schatten? Was will dieser vertuschen bzw. verhindern, das die beiden herausfinden können? Warum ist es nach so langer Zeit noch wichtig, Spuren zu verwischen? Das Buch ist eine unwiderstehliche Mischung aus Liebesroman, historischem Roman und abgründigem Krimi.
Alle möglichen Figuren wirken geheimnisvoll, wenn nicht gefährlich. Artur kommt mir vor, wie der arglose Neffe in Arsen und Spitzenhäubchen, der entdecken muss, dass seine geliebte Familie auf die eine oder andere Weise aus Mördern besteht. Ehrlich gesagt waren es dann doch zu viele Leichen für mich. Aber das ist sicher Geschmackssache. Alles in allem ein Buch, das einen bis zum Schluss stark fesselt und atemlos nach dem Ende fiebern lässt. Im letzten Kapitel tritt noch einmal Grigori auf, den Leser womöglich aus Meyers vorherigem Buch „Die Bücher, der Junge und die Nacht“ kennen, am Ende kehrt man mit ihm ins heute historische Graphische Viertel zurück. Es beginnt damit schon die nächste Geschichte. Es schließt sich ein Kreislauf der unendlichen Geschichten und Märchen, die in der Buchstadt übersetzt, gesetzt, gedruckt, gebunden und verkauft wurden.