Schlaflos von Montreal nach Vancouver
Unermüdlich hört man beim Lesen die Räder des Zuges rollen von Montreal nach Vancouver. Unermüdlich schuftet auch Baxter Tag und Nacht als Schlafwagendiener. So wie der Zug nur kurz Halt macht, sind auch ...
Unermüdlich hört man beim Lesen die Räder des Zuges rollen von Montreal nach Vancouver. Unermüdlich schuftet auch Baxter Tag und Nacht als Schlafwagendiener. So wie der Zug nur kurz Halt macht, sind auch ihm nur kurze Pausen gegönnt, die nicht ausreichen, um den permanenten Schlafmangel wettzumachen, der ihm mit jedem Kilometer mehr Halluzinationen beschert. Doch er muss wach sein, ständig auf der Hut sein, denn ein Verstoß gegen die Dienstvorschriften könnten seinen Traum vom Zahnmedizinstudium zerstören. Und die Vorschriften sind nicht nur streng, sondern auch oft widersinnig.
»Verhalte dich im Zug wie ein Automat auf dem Rummelplatz … Setz dieses besondere Lächeln auf, je breiter, desto besser, drück auf den Knopf, schalt es ein, aber gib nicht den Onkel Tom. Nicht grinsen. Singe, tanze, mache Zaubertricks, wenn sie dich darum bitten. Vielleicht auch noch was anderes, falls es genug Geld bringt.« S.214
1929 – Baxter hat 967 Dollar gespart von dem kläglichen Trinkgeld, das er auf seinen Fahrten bekommen hat. Doch man kann es den anspruchsvollen, nörgeligen Passagieren kaum Recht machen. Egal wie unsichtbar er sich macht, die fehlenden 101 Dollar zu bekommen, ist unrealistischer als wegen ein paar haarsträubende Beschwerden den Job zu verlieren. Und die wohlhabenden Fahrgäste schikanieren ihn, wo sie nur können. Dann findet er eine Postkarte, auf der zwei Männer in einer eindeutigen Pose zu sehen sind, doch statt sie wegzuschmeißen, wirft er in den schlaflosen Nächten immer wieder einen sehnsüchtigen Blick darauf. Zu allem Überfluss versperrt eine Schlammlawine die Gleise, sicher wird man sich auch dafür über Baxter beschweren und er kann sein Studium vergessen.
Mayrs gut recherchierter historischer Roman wird aus der Perspektive eines Schwarzen, schwulen Mannes erzählt, dem Rassismus und Homophobie entgegenschlägt, der nicht nur die ständigen Erniedrigungen weglächeln muss, sondern von Hunger und Schlafmangel geplagt wird.
Dazu bevölkert Mayr den Zug mit allerlei skurrilen Figuren, deren schmutzige Geheimnisse nach und nach ans Licht kommen. Die ihn mit ihren teils absurden Wünschen immer wieder aus seiner Unsichtbarkeit locken und zur Gefahr für sein Strafpunktekonto werden. Um sich zu schützen, baut er eine Distanz zu ihnen auf, indem er ihnen Namen wie Papier und Pappe, Mango oder Spinne gibt. So verpackt Mayr ein schweres Thema hinter tragisch komischen Szenen, die dem ganzen Roman eine gewisse Leichtigkeit verschaffen. Dennoch verliert man als Leser nie aus den Augen, dass Baxter seine eigenen Bedürfnisse ständig zurückstellt, ob nun sexuell oder nach Schlaf und Essen. Gerade der Schlafmangel ist ein zentrales Thema, das sich mit der Zeit zuspitzt, in Halluzinationen gipfelt, sodass man als Leser*in quasi mit ihm leidet.
Ich hatte das Gefühl, als sei der Zug über die Jahre zu Baxters Escape-Room geworden, dem er kaum entkommen kann, während die Weißen um ihn herum ein- und aussteigen und er immer wieder zurückbleibt. In meinen Augen großartig gemacht von Mayr, sowohl stilistisch als auch metaphorisch mit einer dichten, teils karikativen Atmosphäre.
Persönlich berührt mich das immer sehr tief, wenn es um Diskriminierung und Rassismus geht, auch dieses Buch sticht immer wieder in meine empfindlichen Stellen, fühlte sich aber mit seiner leichten Art nicht so schwer und belastend an, wie ich zu Beginn dachte. Ein wunderbarer, bildreicher Roman mit einem charmanten, außergewöhnlichen Protagonisten, den ich sehr gern auf der Zugfahrt begleitet habe.