Nordirland zur Zeit der IRA
Da ich mir unter dem Titel "Übertretung" zunächst nichts vorstellen konnte, wäre ich an diesem Buch beinahe vorbeigegangen. Glücklicherweise habe ich doch einen Blick auf den Klappentext geworfen, der ...
Da ich mir unter dem Titel "Übertretung" zunächst nichts vorstellen konnte, wäre ich an diesem Buch beinahe vorbeigegangen. Glücklicherweise habe ich doch einen Blick auf den Klappentext geworfen, der mich aufgrund der Thematik des Nordirlandkonfliktes sehr ansprach.
Nordirland 1975: Die IRA und protestantische Milizen sorgen für Angst und Schrecken, Bombenanschläge und Attentate sind an der Tagesordnung. Cushla Lavery ist 24 Jahre alt, katholisch und Lehrerin an einer katholischen Grundschule in einem Vorort von Belfast. Der Schüler Davy aus einer ärmeren katholisch-protestantischen Mischfamilie, der in der Klasse gemobbt wird, ist ihr besonders ans Herz gewachsen, und sie unterstützt seine Familie in einer Notlage. Nach Schulschluss kümmert sich Cushla um ihre alkoholkranke Mutter Gina oder hilft ihrem Bruder Eamonn im Pub der Familie. Eines Abends kommt ein Mann in den Pub, zu dem sich Cushla sofort hingezogen fühlt, trotz des großen Altersunterschieds. Michael Agnew ist Protestant, Prozessanwalt und verheiratet, und Cushla beginnt mit ihm eine Affäre, die ihr Leben nachhaltig verändert.
Der Autorin Louise Kennedy gelingt es, die beklemmende Atmosphäre im Nordirland der 1970er Jahre eindrücklich und lebendig einzufangen. Bombenanschläge, Strassensperren und Polizeikontrollen gehören zum Alltag, die Konfessionszugehörigkeit prägt jeden Winkel des gesellschaftlichen und sozialen Lebens, und kleinste Abweichungen - ein unüberlegtes Wort, eine falsche Route auf dem Heimweg, Hilfsbereitschaft gegenüber den "falschen" Menschen - können lebensbedrohliche Folgen haben. Hierin (und auch durch den Originaltitel "Trespasses") erklärt sich auch der Titel - sichtbare wie unsichtbare Grenzüberschreitungen können fatal sein.
Der Roman zeigt, wie Cushla und ihr Umfeld inmitten des Terrors versuchen, ein normales Leben zu führen, und auch, wie sehr die ständige Bedrohungslage zur Normalität geworden ist. Besonders deutlich wird dies, wenn die Autorin die Unterrichtsstunden schildert, die mit den "Nachrichten" beginnen, und bei denen die 7jährigen Schüler und Schülerinnen ganz selbstverständlich über Attentate, Anschläge und militante Gruppierungen sprechen. Als Katholikin erlebt Cushla Schikanen durch die Polizei, wird Zeugin von Argwohn, Hass und Ausgrenzung und muss selbst immer wieder sowohl unverhohlene als auch unterschwellige verbale Provokationen erdulden.
Die Geschichte um Davy und seine Familie ist mir sehr nahegegangen, und ich habe mit ihnen richtig mitgelitten. Etwas zwiegespalten bin ich bezüglich der Beziehung zwischen Cushla und Michael, da mich der Altersunterschied von 30 Jahren doch sehr gestört und auch etwas abgestoßen hat. Michael blieb mir als Figur bis zum Schluß unsympathisch, und die Anziehung, die er auf Cushla ausübte, war mir unverständlich.
Ich habe durch den Roman einiges über die damalige Situation und das Lebensgefühl in Nordirland erfahren, und war fast traurig, als das Buch zuende war. Ich hätte über einige Figuren gerne noch mehr erfahren, doch auch der Schluß hat, so wie er ist, einen besonderen Reiz. Ein wirklich
tolles Debüt, das ich auf jeden Fall weiterempfehlen möchte.