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Veröffentlicht am 22.09.2017

Lottogewinn = Glück?

Herrn Haiduks Laden der Wünsche
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Die lebensscheue, schweigsame Französin Alma hat sich in den Kopf gesetzt, den rechtmäßigen Besitzer einer verlorenen und von ihr gefundenen Lottoquittung zu finden, die zur Empfangnahme von 13 Millionen ...

Die lebensscheue, schweigsame Französin Alma hat sich in den Kopf gesetzt, den rechtmäßigen Besitzer einer verlorenen und von ihr gefundenen Lottoquittung zu finden, die zur Empfangnahme von 13 Millionen Euro berechtigt. Denn sie will prüfen, ob der Gewinner einen solch hohen Gewinn überhaupt verträgt und nicht etwa in sein Unglück rennt. Unterstützung erfährt sie durch den vor Jahrzehnten aus Algerien nach Berlin immigrierten Kioskbesitzer Herr Haiduk, der seinerseits Alma vor ausufernden Übergriffen vermeintlicher Gewinner schützen will. Es entwickelt sich ein interessantes Detektivspiel mit Zettelaushängen, In-die-Welt-setzen von Gerüchten und deren Revidierung, Interviews, in dessen Verlauf sich Kontakte zu Nachbarn, Bewohnern aus dem Viertel und dem weiteren Umkreis anbahnen, die alle ein Anrecht auf den Gewinn erheben. Jeden von ihnen umgibt eine spezielle Geschichte, warum er sein persönliches Glück in dem Supergewinn zu finden meint. Ob am Ende der wahre Gewinner sein Geld einkassieren kann?

Dieser Roman ist von ganz besonderer Art und wird allen gefallen, die anspruchsvolle Literatur mögen. Schon der Aufbau ist speziell. Die Geschichte vom Auffinden der Lottoquittung bis hin zur Beendigung der Suche des Gewinners hat nämlich bereits stattgefunden und wird von Herrn Haiduk in der Rückschau stückchenweise dem gescheiterten Schriftsteller Paul im idyllischen Hinterhof des Kiosks erzählt, der sie als Buch niederschreiben soll. Außerdem treibt Haiduk noch ein weiteres Motiv, das nicht verraten werden soll. Die Trennung zwischen der erzählten Geschichte und der Überblendung in die Gegenwart geschieht oft sehr abrupt, ohne optisch kenntlich gemacht zu sein, so dass es ein wenig Obacht beim Lesen bedarf. Die Romanfiguren sind alle sehr liebevoll beschrieben und knapp, aber aussagekräftig mit Schlagwörtern benannt, so dass man sich ein gutes Bild von ihnen machen kann. Da es ihrer ja doch eine Reihe gibt, helfen zur Unterscheidung gut die Namen, die Herr Haiduk ihnen gibt: der Junge Kettenraucher, die Ängstliche, die Falsche Witwe. Mit viel Liebe zum Detail und sehr bildhaft beschreibt der Autor die örtlichen Gegebenheiten – Herrn Haiduks winzigen Kiosk, die Geschäfte und den Friedhof in der Nachbarschaft. Sehr interessant ist es zu lesen, was die unterschiedlichen Menschen sich mit Hilfe des Gewinns vom Leben erhoffen.

Ein wirklich lesenswertes Buch.

Veröffentlicht am 07.09.2017

Was macht das Leben lebenswert?

Mensch, Rüdiger!
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Was bei Buchcovern leider nicht immer der Fall ist – hier passt es zur Geschichte wie die berühmte Faust aufs Auge: der Mann, der den Kopf in den Sand steckt und der die Vogel-Strauß-Politik verkörpernde ...

Was bei Buchcovern leider nicht immer der Fall ist – hier passt es zur Geschichte wie die berühmte Faust aufs Auge: der Mann, der den Kopf in den Sand steckt und der die Vogel-Strauß-Politik verkörpernde gleichnamige Vogel (der bei drohender Gefahr angeblich seinen Kopf in den Sand steckt) stehen für die Protagonisten Rüdiger und Tom. Beide um die 40, der eine seinen Beruf hassender Lehrer mit völlig unscheinbarem Äußeren, der andere Bestsellerautor vor einem Jahrzehnt mit seitheriger Schreibblockade. Sie befinden sich in einer Sinnkrise und wollen ihrem Leben durch einen Sprung von einer Brücke ein Ende setzen. Eine zufällig vorbeikommende Ärztin hält sie ab und sie geben sich fünf Tage, um in dieser Zeit eine Liste mit Punkten abzuarbeiten, die das Leben lebenswert machen. Ob sie am Ende doch noch die Welt hinter sich lassen?
Das Buch ist eine wirklich lesenswerte Tragikomödie. Es gibt so viele Passagen, die einen schmunzeln, ja sogar laut auflachen lassen. Das Gelungene daran ist, dass der Humor eher subtil und unterschwellig vorhanden ist und sich nicht plump und abgedroschen Witz an Witz reiht. So manches Klischee wird bedient. In guter Erinnerung ist mir etwa, wie Rüdiger seine Frau an seinem Geburtstag in flagranti im Ehebett ertappt und erfahren muss, dass sein langjähriger Nebenbuhler regelmäßig den Geburtstagskuchen für ihn gebacken hat. In vielen Alltagssituationen können sich die Leser wiederfinden, z.B. bei Rüdigers Besuch eines Drogeriemarktes, in dem die Kassiererin nach der Payback-Karte fragt. So lustig die Geschichte auch ist, wohnt ihr dennoch auch ein nachdenklich stimmender Grundton bei. Immerhin dreht sie sich um das Thema der Erkrankung an Depressionen und den Willen zum Suizid. So offen wie damit umgegangen wird, wäre es schön, wenn das Buch einen kleinen Beitrag dazu leistet, Depressionen in unserer Gesellschaft weniger als bisher zu tabuisieren.

Veröffentlicht am 26.08.2017

Über die Rolle der Frauen im Krieg und die Bedeutung gemeinsamen Singens

Der Frauenchor von Chilbury
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Der mit 477 Seiten recht eindrucksvolle Debütroman der Autorin widmet sich rund sechs Monaten (März bis September) in der Anfangszeit des Zweiten Weltkriegs in England. Schauplatz ist ein kleines Dorf ...

Der mit 477 Seiten recht eindrucksvolle Debütroman der Autorin widmet sich rund sechs Monaten (März bis September) in der Anfangszeit des Zweiten Weltkriegs in England. Schauplatz ist ein kleines Dorf in der Grafschaft Kent, das zu dieser Zeit nur noch von Frauen, Kindern und wehrdienstuntauglichen Männern bewohnt wird. Einige der Dorfbewohnerinnen schildern abwechselnd in Tagebucheinträgen und Briefen, wie sich ihr Leben unter den sich ausbreitenden Kriegsgeschehnissen abspielt und verändert, ergänzt durch sporadische Anschläge am Gemeindesaal und Notizen anderer Romanfiguren. Die Frauen sind grundverschieden – als da wären die ängstliche und zurückhaltende verwitwete Krankenschwester Mrs. Tilling, die dreizehnjährige unglücklich verliebte Kitty mit dem Berufswunsch Sängerin, ihre ältere, ausschweifend lebende Schwester Venetia, die geldgierige Hebamme Mrs. Paltry. Alle finden sich zusammen in dem neu gegründeten Frauenchor des Dorfes, der – weil männerlos – zunächst misstrauisch beäugt wird. Das gemeinsame Singen gibt ihnen in den schweren Kriegstagen ein wenig Glück und Zuversicht und bewirkt bei jeder einzelnen Veränderungen, vor allem einen Gewinn an Selbstbewusstsein.

Das Buch besticht vor allem dadurch, dass es sich um keine epische Erzählung handelt, sondern um eine Aneinanderreihung von Tagebuchnotizen und Briefen, ohne dass ich es damit als Brief-/Tagebuchroman bezeichnen würde. Die jeweiligen Verfasser haben so unterschiedliche Schreibstile und Sichtweisen, dass es richtig Spaß macht, Eintrag um Eintrag zu lesen. Alle zusammen genommen ergeben ein recht ausführliches Bild von den ersten Kriegsmonaten und den Nöten der Zivilbevölkerung. Mrs. Tillings Ausführungen sind entsprechend ihrem Naturell eher ernst und bedächtig, die von Kitty romantisch und humorvoll. Recht lustig sind die Pannen der Hebamme und ihre Verballhornungen von Redewendungen (z.B. trampelnde statt trapsende Nachtigall). Eine besondere Bedeutung kommt einigen Liedern zu, die vom Frauenchor gesungen werden und nach Titel und Text benannt sind (z.B. All Creatures of Our God and King). Sie regen geradezu zum Mitsummen an.
Trotz des ernsten Kriegshintergrunds ein Buch, das sich angenehm lesen lässt und das ich wirklich empfehlen kann.

Veröffentlicht am 23.08.2017

Das Ende einer Freundschaft

Und es schmilzt
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Die Jugendlichen Eva, Pim und Laurens aus einem kleinen belgischen Dorf sind seit Kindestagen enge Freunde. Sie sehen sich als die drei Musketiere und gründen ihre Freundschaft auf das Motto „Einer für ...

Die Jugendlichen Eva, Pim und Laurens aus einem kleinen belgischen Dorf sind seit Kindestagen enge Freunde. Sie sehen sich als die drei Musketiere und gründen ihre Freundschaft auf das Motto „Einer für alle, alle für einen“. Die Sommerferien des Jahres, in dem sie vierzehn sind, verändern alles. Wenige Monate zuvor ist Pims Bruder verstorben. Bei ihm selbst und Laurens gewinnt das sexuelle Interesse die Oberhand über die bisherigen kindlichen Spiele. Sie denken sich ein perfides Spiel aus, in dem Eva eine tragende Rolle zukommt.
Schonungslos ist das Buch, berührt sehr. Es gliedert sich im Wesentlichen in drei zeitliche Abschnitte. In der Gegenwart, im Jahr 2015, wird ein Tag in den Mittelpunkt gerückt, an dem die Ich-Erzählerin Eva zu einer Gedenkfeier für Pims Bruder eingeladen ist. Beinahe im Viertelstundentakt wird dieser Tag beleuchtet. In den ausführlichen Rückschauen wird immer wieder auf den verhängnisvollen Sommer dreizehn Jahre zuvor sowie auf die zurückliegende Grundschulzeit der drei Freunde geblickt. Auf diese Weise kommt ganz allmählich zu Tage, in welch problematischen Familienverhältnissen Eva aufgewachsen ist – die Eltern suizidale Alkoholiker, die kleine Schwester aufgrund verschiedener Obsessionen psychisch krank. Von der Dorfidylle, die die Geschichte lange herüberbringt, bleibt rein gar nichts übrig. Als mittlerem Kind fällt Eva in ihrer Familie die Rolle der starken Tochter zu, die alles zusammenhält. Umso mehr ist man dann erschlagen zu lesen, dass Eva an den früheren Ereignissen zerbrochen ist und damit in ganz spezieller Weise umzugehen beabsichtigt. Ein Eisblock wird hierbei eine wichtige Rolle einnehmen, wie er es auch schon dreizehn Jahre zuvor bei dem Spiel der Jugendlichen getan hat. Buchtitel und die erhabenen Buchstaben auf dem Cover, die gefrorenes Eis darstellen, sind einfach nur treffend.
Wem es nichts ausmacht, schonungslos mit Gewalt- und Sexszenen unter Jugendlichen konfrontiert zu werden, wird das Buch wie ich mögen.

Veröffentlicht am 18.08.2017

Über Kindsmord und Klassengesellschaft

Dann schlaf auch du
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Roman oder Thriller? Die Einordnung des Buches in ein Genre ist nicht eindeutig, weshalb es aber eine breite Leserschaft faszinieren wird. Anfang und Ende deuten auf einen Thriller – eine „Nounou“, wie ...

Roman oder Thriller? Die Einordnung des Buches in ein Genre ist nicht eindeutig, weshalb es aber eine breite Leserschaft faszinieren wird. Anfang und Ende deuten auf einen Thriller – eine „Nounou“, wie die Kinderfrau in französischen Familien genannt wird, ermordet die von ihr gehüteten zwei Kinder ihrer Arbeitgeber, die untersuchende Kommissarin führt akribische Ermittlungen. Die Spannung zu erfahren, wie es zu der furchtbaren Tat Louises gekommen ist, bleibt durchweg aufrechterhalten. Im Fokus und auf einen (tragischen) Roman hindeutend steht aber auch das Thema Klassengesellschaft/-gegensätze. Louise entstammt einer bildungsfernen Schicht, bekam früh ein ungewolltes Kind, führte bis zur Witwenschaft eine lieblose Ehe, hat für die Schulden ihres Mannes aufzukommen, ist nicht in der Lage, sich mit Behörden u.ä. auseinanderzusetzen. Ihre Arbeitgeber hingegen sind erfolgreich als Musikproduzent bzw. Rechtsanwältin. Vor allem Myriam entspricht dem Bild einer typischen französischen Frau – Karriere im Beruf, ermöglicht durch die Stütze einer im Hintergrund wirkenden Tagesmutter. An Louises minderer sozialer Herkunft stören sie sich zusehends, würden sie, die doch eigentlich unentbehrlich für sie ist, sogar gerne wieder loswerden. In chronologischer Folge werden die Monate von Louises Tätigkeit als Nounou geschildert, unterbrochen durch kurze Einschübe dritter Personen, die Kontakt zu ihr hatten und vielleicht ein Puzzleteil bei der Suche nach dem Tatmotiv liefern. Auf jeden Fall wird der Leser in die Lage gesetzt, sich ein umfassendes Bild von der Täterin und ihrem möglichen Motiv zu machen.

Das Buch ist wirklich lesenswert und wurde zu Recht im letzten Jahr mit dem Prix Goncourt, einem renommierten französischen Literaturpreis für das beste erzählerische Werk des Jahres in französischer Sprache, ausgezeichnet.