Familiengeschichte mit aktueller Thematik
Ich muss zugeben, dass mich das Cover mit seinem schreienden Pink eher abgeschreckt hätte in einem Buchladen. Das wäre sehr schade gewesen, denn es ist ein sehr gelungenes, bewegendes und nachdenklich ...
Ich muss zugeben, dass mich das Cover mit seinem schreienden Pink eher abgeschreckt hätte in einem Buchladen. Das wäre sehr schade gewesen, denn es ist ein sehr gelungenes, bewegendes und nachdenklich machendes Buch. „Du hast mir nie erzählt“ ist die Geschichte einer Mutter und einer Tochter in verschiedenen Zeiten. Sook-Yin wird in den 60er Jahren von Hongkong nach London geschickt. Knapp 30 Jahre später reist ihre Tochter Lily von London nach Hongkong um mehr über das Leben ihrer verstorbenen Mutter herauszufinden. Die Lesenden begleiten abwechselnd Sook-Yin in ihrem Werdegang und Lily auf ihrer Suche nach der verstorbenen Mutter, an die sie sich nur wenig erinnern kann.
Sook-Yin, von ihrem unmöglichen Bruder weggeschickt, versucht in London Fuß zu fassen und ist häufig Rassismus ausgesetzt. Trotz aller Widrigkeiten, geht sie ihren Weg, ist engagiert, packt an und schafft es immer wieder, Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Am Anfang habe ich lange gebraucht, einzuordnen, warum sie alle für dumm halten (einschließlich ihr selbst) und sie dann aber z.B. so schnell Englisch lernt. Genauso ungerecht ist ihr Rausschmiss aus der Ausbildung, da sie offensichtlich alles kann und nur an der Prüfungssituation und der Sprache scheiterte.
Ihre Tochter Lily hatte in der Vergangenheit mit psychischen Problemen zu kämpfen. Als sie einen Brief aus Hongkong wegen einer Erbschaft erhält, nimmt sie das zum Anlass, mehr über ihre Mutter zu erfahren, über die ihr Vater und ihre ältere Schwester immer geschwiegen haben. Da sie viel asiatischer aussieht als ihre Schwester ist auch sie ihr Leben lang mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert. An ihrer Figur wird gezeigt, wie lange sich Traumata durch Familiengeheimnisse, Totschweigen und Ausgrenzung - oft bis in die nächste Generation - halten. Auch in Hongkong läuft es zunächst nicht so gut. Sie ist in beiden Kulturen die Außenseiterin, an beiden Orten die ungewollte Fremde.
Wiz Wharton schafft es mit ihrem angenehmen, aber eindringlichen Schreibstil sehr genau, die Gefühle der beiden Frauen und ihren Kampf gegen die äußeren Umstände zu vermitteln. Beim Lesen schwankte ich immer zwischen Mitleid und Respekt für die beiden sowie Kopfschütteln über die unmöglichen Familienmitglieder, die beiden das Leben einfach nur schwer machen. In den Text sind viele Vergleiche und kluge Beobachtungen eingeflossen, die die Lesenden zum Nachdenken animieren. Die Autorin hat ein gutes Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen und deren Beschreibung. Besonders die ambivalente Beziehung der Schwestern untereinander finde ich sehr gelungen dargestellt. Die Darstellungen des Rassismus legen nahe, dass die Autorin aus Erfahrung schreibt. Auch die Schilderungen zur Rückgabe Hongkongs an China sind sehr differenziert dargestellt, sodass ich einen guten Einblick gewonnen habe, wie es zu der Zeit gewesen sein könnte. Zudem erhalten die Lesenden Einblick in die hongkongische Kultur. Vielleicht hätte eine kurze Einleitung zum Chinesischen dem Buch gutgetan: wann und warum benutzt man ah-... z.B. Dadurch hatten viele Figuren mehrere Namen, was mich zunächst etwas verwirrte.
Es ist ein sehr gelungenes Buch mit einer aktuellen Thematik, obwohl es in der Vergangenheit spielt.