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Veröffentlicht am 20.12.2023

Fesselnder Roman

Aktion Phoenix
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MEINE MEINUNG
Mit „Aktion Phoenix“ hat der unter dem Pseudonym Christian Herzog schreibende deutsche Autor Ralf H. Dorweiler einen historischen Roman mit fesselnden Thrillerelementen vorgelegt, der uns ...

MEINE MEINUNG
Mit „Aktion Phoenix“ hat der unter dem Pseudonym Christian Herzog schreibende deutsche Autor Ralf H. Dorweiler einen historischen Roman mit fesselnden Thrillerelementen vorgelegt, der uns in Deutschlands dunkle Vergangenheit eintauchen lässt. Sehr anschaulich widmet sich der Autor der Thematik, wie es totalitären Staaten gelingt, ihre Bevölkerung mit Hilfe von Propaganda und Repressionen in ihrem Sinne zu beeinflussen und ideologisch zu prägen.
Die Handlung ist im Nazi-Deutschland des Jahres 1936 rund um die 11. Olympischen Spiele in Berlin angesiedelt und lässt uns an einem bewegenden und sehr lehrreichen Abschnitt deutscher Zeitgeschichte Anteil nehmen.
Herzog ist es hervorragend gelungen, eine Vielzahl historischer Fakten und Geschehnisse in die spannende fiktive Handlung einzuflechten und uns zugleich die perfiden Mechanismen aufzuzeigen, mit denen das skrupellose Nazi-Regime die unterschiedlichen Verhaltensweisen von Tätern, Mitläufern sowie auch Opfern steuern und manipulieren konnte.
Ausgangspunkt für seine Geschichte ist ein faszinierendes Gedankenspiel, das im Lichte des Größenwahns der NS-Regierung mit ihren willfährigen Handlangern durchaus glaubhaft scheint und sich in ähnlicher Weise hätte abspielen können. Äußerst spannend ist es daher, den Hintergründen der rätselhaften Aktionsgruppe Phoenix auf die Spur zu kommen.
Die vielschichtige, geschickt in den historischen Kontext eingebettete Handlung zieht uns rasch in ihren Bann.
In zahlreichen nebeneinander laufenden Handlungssträngen lernen wir nach und nach die unterschiedlichen Charaktere kennen, deren moralischer Kompass und Verhalten exemplarisch für viele Menschen während der Zeit der Nationalsozialisten stehen – vom schweigenden Mitläufer über den gewissenlosen Opportunisten bis hin zu den kleinen Helden, die sich trotz größter Gefahren gegen die Ideologie stellten und sich im Widerstand organisierten.
Im Mittelpunkt stehen drei fiktive Protagonisten, die alle in die schicksalhaften Ereignisse rund um die olympischen Eröffnungsspiele verwickelt sind und schließlich in höchste Gefahr geraten.
Gekonnt lässt uns Herzog ins Berlin 1936 eintauchen und zeichnet ein sehr stimmiges, authentisches Bild der damaligen Zeit. Während die Nazis sich bemühen, Deutschland der internationalen Öffentlichkeit als eine weltoffene Nation mit makellosem Image zu präsentieren und eine einzigartige Propaganda-Inszenierung der Olympischen Spiele planen, lässt er uns in verschiedenen Szenen auch einen schockierenden Blick hinter die herausgeputzten Fassaden werfen. Die eindrücklichen Darstellungen des damals üblichen Umgangston und allgemeinen Meinungsbilds sowie die damalige politische Stimmung in der Bevölkerung sind äußerst gelungen. Allgegenwärtig sind offener Judenhass und Rassismus, aber auch die permanente Überwachung und Bespitzelung der Bevölkerung lässt Misstrauen und ein Klima der Angst aufkommen. Doch SA-Schlägertrupps verkörpern die hässliche Fratze dieses totalitären Staats, denn auch die Systemtreuen sind vor Bedrohung und Erpressung nicht sicher.
Die Geschichte lebt neben den anschaulich dargestellten und gut recherchierten historischen Zusammenhängen vor allem von seinen vielschichtig und authentisch gezeichneten Figuren, in deren Gefühls- und Gedankenwelt man sich gut hineinversetzen kann.
Ob nun die junge Kunststudentin Anna Kollmann, die mit ihrer studentischen Widerstandsgruppe mit Plakat-Aktionen auf die Taten der Nazi-Diktatur aufmerksam machen will, der für die Propagandaabteilung arbeitende Hermann Schmidt, der der Nazi-Ideologie kritisch gegenübersteht, sich in die rebellische Anna verliebt wodurch sein Leben völlig aus den Fugen gerät, oder der unpolitische, gutherzige Oberkellner Georg Finkbeiner, der als Stewart im Zeppelin Hindenburg unversehens zwischen die Fronten gerät und einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur kommt – sie alle werden in ein in perfides Komplott hineingezogen, müssen schwierige Entscheidungen treffen und dem Unrechtsregime die Stirn bieten, um überleben zu können. Ein besonderes Highlight sind zudem die vielen historischen Persönlichkeiten wie Leni Riefenstahl, Goebbels oder sogar Hitler, die Gastauftritte haben und von Herzog sehr glaubwürdig darstellt werden.
Gekonnt lässt der Autor die Spannung immer weiter ansteigen, verdichtet die verschiedenen Handlungsstränge zunehmend und überrascht uns mit einem fulminanten und äußerst packenden Finale während der Olympia-Eröffnungsfeier. Auch wenn nicht alles bis in kleinste Detail aufgeklärt wird, so konnte mich die schlüssige Auflösung des perfiden Plans hinter der Aktion Phoenix sehr überzeugen. Abgerundet wird der tolle Roman durch ein interessantes Nachwort des Autors.

FAZIT
Ein fesselnder und nachdenklich stimmender Roman mit gelungenem Zeitkolorit, der mich sehr gut unterhalten hat. Sehr lesenswert!

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Veröffentlicht am 17.12.2023

Bewegender, sehr stimmungsvoller Roman

Florence Butterfield und die Nachtschwalbe
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MEINE MEINUNG

„𝐅𝐥𝐨𝐫𝐞𝐧𝐜𝐞 𝐁𝐮𝐭𝐭𝐞𝐫𝐟𝐢𝐞𝐥𝐝 𝐮𝐧𝐝 𝐝𝐢𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭𝐬𝐜𝐡𝐰𝐚𝐥𝐛𝐞“ von der britischen Autorin Susan Fletcher ist ein faszinierender Roman mit einer fesselnden Geschichte voller Überraschungen und bewegender Rückblicke.

Auch ...

MEINE MEINUNG

„𝐅𝐥𝐨𝐫𝐞𝐧𝐜𝐞 𝐁𝐮𝐭𝐭𝐞𝐫𝐟𝐢𝐞𝐥𝐝 𝐮𝐧𝐝 𝐝𝐢𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭𝐬𝐜𝐡𝐰𝐚𝐥𝐛𝐞“ von der britischen Autorin Susan Fletcher ist ein faszinierender Roman mit einer fesselnden Geschichte voller Überraschungen und bewegender Rückblicke.

Auch wenn es sich hierbei - anders als zunächst von mir angenommen - nicht um einen englischen Wohlfühlkrimi handelt, konnte mich der sehr atmosphärische Roman rund um die sympathische Protagonistin Florence Butterfield berühren und mit seinem wundervoll idyllischen Landhaus-Setting gut unterhalten.

Im Mittelpunkt der warmherzig erzählten Geschichte steht die 87-jährige Florrie, die seit einiger Zeit ihren Lebensabend in der beschaulichen Seniorenresidenz Babbington Hall verbringt und nach einer Beinamputation an den Rollstuhl gefesselt ist. Als sie eines Nachts mitbekommt, wie die Heimleiterin Renata aus ihrem Fenster stürzt, ist sie davon überzeugt, dass es sich nicht um einen Suizidversuch handelt. Trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigung beginnt sie gemeinsam mit dem liebenswerten Mitbewohner Stanhope Jones diskrete Nachforschungen zu den Hintergründen anzustellen. Immerhin ist ihnen bald klar, dass unter ihnen ein potentieller Mörder weilen könnte. Nur gut, dass sich Florrie als gewitzte Miss Marple der Seniorenresidenz bei den Ermittlungen auf ihr untrügliches Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen verlassen kann. Die eigentliche Krimihandlung, die es durchaus in sich hat, entwickelt sich sehr gemächlich und spielt sich insgesamt leider eher im Hintergrund ab. Die aus Florries Perspektive erzählten Ereignisse werden, wie es so häufig bei älteren Damen vorkommt, immer wieder von abschweifenden Gedanken, detailverliebten Betrachtungen und eingestreuten Rückblicken auf ihr eigenes bewegtes Leben unterbrochen. So erfahren wir nach und nach unterhaltsame Anekdoten über ihre abenteuerlichen Reisen und erhalten ausführliche Einblicke in ihre ereignisreiche Vergangenheit, die von einem dunklen Geheimnis, das ihr weiteres Leben nachhaltig prägte, überschattet ist.

Dank des einfühlsamen Erzählstils der Autorin und den schönen bildhaften Beschreibungen wird man rasch in das wundervoll atmosphärische Setting von Babbington Hall und Florries faszinierendes, erfülltes Leben hineingezogen.

Die zahlreichen lebendig gezeichneten Charaktere, die mit ihren netten Eigenarten, kleinen Hintergrundgeschichten und Geheimnissen für jede Menge Abwechslung und Unterhaltung sorgen, sind der Autorin sehr gelungen.

Die liebenswerte Protagonistin Florence Butterfield ist natürlich ein besonderes Highlight. Mit ihr hat die Autorin einen interessanten und sehr vielschichtigen Charakter geschaffen, über deren bewegte Lebensgeschichte mit sechs Männern und etlichen herben Enttäuschungen man immer mehr Details erfährt, so dass man ihr schließlich immer näher kommt. Die weltoffene, clevere und sehr couragierte ältere Dame voller Lebensenergie konnte mich mit ihren ausschweifenden Geschichten über ihr Leben und lang gehütete Geheimnisse trotz einiger Längen für sich einnehmen, doch insbesondere ihre gewitzten Ermittlungen, die zum Ende hin richtig an Fahrt aufnehmen und in einem packenden Showdown gipfeln, konnten mich bestens unterhalten. Am Ende erfahren wir neben der schlüssigen Aufklärung des Falls auch die tragischen Hintergründe zu Florries traurigem Geheimnis, das mich sehr berührt hat.


FAZIT

Ein fesselnd und warmherzig erzählter Roman über eine faszinierende Heldin und ihre bewegende Lebensgeschichte - mit einem schönen Schuss Cosy Crime, stimmungsvoller Atmosphäre und wundervollem Landhaus-Setting.

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Veröffentlicht am 28.11.2023

Bewegende Familiengeschichte

Aenne und ihre Brüder
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MEINE MEINUNG
In seinem beeindruckenden Debüt „Aenne und ihre Brüder“ hat sich der deutsche Sportmoderator und Talkmaster Reinhold Beckmann seiner tragischen und sehr bewegenden Familiengeschichte angenommen.
Nachdem ...

MEINE MEINUNG
In seinem beeindruckenden Debüt „Aenne und ihre Brüder“ hat sich der deutsche Sportmoderator und Talkmaster Reinhold Beckmann seiner tragischen und sehr bewegenden Familiengeschichte angenommen.
Nachdem er sich bereits 2021 mit seiner Band in dem Song „Vier Brüder“ dem Schicksal seiner vier Onkel mütterlicherseits gewidmet hatte, die alle den Zweiten Weltkrieg nicht überlebten, geht er in seinem sorgsam recherchierten Buch eingehender auf die traurige Geschichte seiner eigenen Familie ein, die zugleich stellvertretend für viele Familien, ihre zerstörten Hoffnungen und bitteren Verluste durch die Auswirkungen des grauenvollen Kriegs steht. Beckmann ist ein berührendes Zeitzeugnis und sehr lesenswertes Buch gelungen, das mich mit seinen Schilderungen bewegt und sehr nachdenklich zurückgelassen hat.
Ausgehend von seinen intensiven Gesprächen mit seiner Mütter Aenne und mit Zeitzeugen aus deren Heimatort Wellingholzhausen in Niedersachsen sowie Recherchen in Archiven ist es dem Autor gelungen eine höchst fesselnde und aussagekräftige Geschichte zu erzählen. Im Mittelpunkt stehen die lebendigen Erinnerungen von Beckmanns Mutter Aenne, die ein hartes und vor herben Verlusten geprägtes Leben führte und dennoch mit bewundernswertem Willen an ihren Träumen und Hoffnungen festhielt. Neben einigen schwarz-weiß Fotografien blieben ihr als einzige Erinnerungsstücke an die vier Brüder Franz, Hans, Alfons und Willi nur etwa 100 in Sütterlin verfasste Feldpostbriefe, die sie sorgsam in einem Schuhkarton aufbewahrte und das Andenken an ihre geliebten Brüder all die Jahre stets liebevoll bewahrte. Gekonnt lässt Beckmann schrittweise anhand der Überlieferungen seiner Mutter und den Inhalten der Briefe die Historie um seine vier Onkel aufleben. So erhalten wir nicht nur lebendige, sehr persönliche Einblicke in den Lebensalltag von Aenne und ihrer Familie, sondern haben dank sorgsam eingearbeiteter historischer Hintergrundinformationen auch Anteil an den politischen Entwicklungen in Nazi-Deutschland. Anschaulich und glaubwürdig fängt er die damaligen Atmosphäre auf dem Dorf ein, schildert den dörflichen Alltag, geht ausführlich auf die Rolle der katholischen Kirche ein und macht den schleichenden Wandel durch die Diktatur in den Köpfen der Menschen deutlich. Von den einst streng gläubigen Menschen in jener erzkatholischen Region erleben wir hautnah den rapiden Wandel hin zur glühenden Nazibegeisterung der Bevölkerung in nur wenigen Jahren mit inklusive der Indoktrinierung der Jugend durch die Schule. Feinfühlig arbeitet Beckmann die unterschiedlichen Charaktere seiner Onkel sowie ihre persönlichen Einstellungen zum Leben und Krieg heraus und lässt die jungen Männer, die keine Nazis waren und sich doch von dem damaligen Zeitgeist haben einspannen lassen, für uns lebendig werden. Gekonnt veranschaulicht er in verschiedenen Episoden sehr nachvollziehbar und vielschichtig die unterschiedliche Entwicklung ihrer Figuren und ihr individuelles Handeln. Aufgebrochen mit einer gewissen Zuversicht und Abenteuerlust, lassen die grausamen Realitäten des Kriegs ihre Stimmung zusehends sinken. Auch wenn natürlich die Inhalte der Feldpostbriefe wegen der Zensur die Realität nicht offen thematisieren, enthalten sie oftmals doch erstaunlich ungeschönte Passagen, die von den Schrecken des nicht enden wollenden Kriegs an der Ostfront, der Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Soldaten in den Schützengräben zeugen. Beklemmend ist es über ihre Gedanken und Einschätzungen angesichts des ständigen Sterbens um sie herum zu lesen, ihrer Verzweiflung, Leere und Einsamkeit sowie ihrer permanenten Angst vor dem Vergessenwerden. Ergänzend zu den Briefauszügen finden sich geografische Zuordnungen der Kriegsschauplätze sowie „Feldberichte“ von ehemaligen Truppenangehörigen, die mehr Aufschluss über die Standorte, Truppenbewegungen geben und ermöglichen das Schicksal der Onkel zu rekonstruieren. Aus Sicht von Aenne erfahren wir aber auch über ihre übergroßen Sorgen um ihre Brüder im Krieg. Gerade der briefliche Kontakt mit ihren Liebenden Zuhause spendet ihnen so viel Kraft und Zuversicht und lässt ihr oft so ungewisses Schicksal und traumatische Erlebnisse besser ertragen. Sehr einfühlsam wird aufgezeigt, was der grausame Krieg mit den Menschen macht - für die Hinterbliebenen sind viele Leerstellen und Unsicherheiten geblieben und eine unendliche Traurigkeit über so viel vergeudetes Leben, doch ist es beeindruckend, wie aktiv das Andenken der vier im Krieg gefallenen Brüder in der Familie gewahrt wurde.

Abgerundet wird das Buch durch zahlreiche im Mittelteil eingefügte Fotografien von Aenne und ihrer Familie sowie eine Zusammenstellung von Briefen und Feldpostkarten im Original auf den Vorsatzseiten.
Im interessanten Nachwort des Romans finden sich zudem weitere Erläuterungen und Erklärungen zu Beckmanns Familiengeschichte und seinen Onkeln sowie im Anhang einen kurzen Überblick über die verwendeten Quellen und Literatur.

FAZIT
Ein sehr bewegendes Buch über eine tragische Familiengeschichte und ein sehr lesenswertes Zeitzeugnis!

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Veröffentlicht am 16.11.2023

Außergewöhnlicher Roman

Weil da war etwas im Wasser
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MEINE MEINUNG
Mit seinem Debüt „Weil da war etwas im Wasser“ ist dem deutschen Autor Luca Kieser ein außergewöhnlicher, tiefgründiger Roman gelungen, der es zu Recht auf die auf die Longlist des Deutschen ...

MEINE MEINUNG
Mit seinem Debüt „Weil da war etwas im Wasser“ ist dem deutschen Autor Luca Kieser ein außergewöhnlicher, tiefgründiger Roman gelungen, der es zu Recht auf die auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat.
Der Autor hat sich eine höchst originelle, anspruchsvolle Geschichte aus genial miteinander verwobenen Einzelfragmenten ausgedacht, die uns in unglaublich viele Themenkomplexe eintauchen lässt. Hierbei sinniert er in einem faszinierenden thematischen Rundumschlag beispielsweise über Raubbau an den Ressourcen unseres Planeten, Ökologie, Umweltschutz und Nachhaltigkeit über Geopolitik und Glasfaserkabeln in der Tiefsee, bis hin zu Scham, häuslicher Gewalt und transgenerationalen Traumata.
Kieser nimmt uns mit auf eine abenteuerliche, vielschichtig angelegte Reise, die uns nicht nur in die Untiefen der Ozeane sondern auch weit zurück in Vergangenheit führt.
Schon zu Beginn begegnen wir einer sehr ungewöhnlichen Hauptfigur in Gestalt eines weiblichen Riesenkalmars, jener rätselhaften, sagenumwobenen Oktopus-Art und furchterregenden Kreatur in den Tiefen der Weltmeere. Kieser verleiht jedem seiner Fangarme nicht nur einen spezifischen Namen, eine ganz eigene Persönlichkeit sondern auch eine individuelle Erzählstimme. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln erzählen diese recht ungleichen Tentakel ihre Geschichte über ihr Schicksal, die Welt und verschiedene Menschen, und verstricken sich dabei bisweilen in einen unterhaltsamen Wettkampf, wer nun den Faden weiter aufnehmen darf. Ihre Erzählungen werden zudem ergänzt durch kleine aufschlussreiche Exkurse über den Oktopus und dessen Rezeption in Film und Literatur. So begegnen wir schließlich in eingeschobenen Episoden neben historischen Persönlichkeiten wie dem berühmten Schriftsteller Jules Verne, dem für Disney arbeitenden Spezialeffektkünstler Bob Mattey oder dem Autor von „Der weiße Hai“ Peter Benchley auch der jungen Praktikantin Sanja auf dem Krill-Trawler, der rätselhaften Schiffsingenieurin Dagmar in der Antarktis oder einem jungen Autoren mit ihren unterschiedlichen Hintergrundgeschichten.
Kunstvoll eingeflochten in die Erzählungen wird nach und nach die weitverzweigte Familiengeschichte der Sanchez nachgezeichnet. Beginnend mit dem Seefahrer Hernan Sanz Sanchez, der im 19. Jahrhundert eine traumatische Begegnung mit einem Riesenkalmar hatte, erfahren wir mehr über die Lebensgeschichten und Schicksale seiner Nachfahren bis in die Gegenwart.
Kiesers beweist mit seiner hochkomplexen Geschichte viel Freude am Experimentieren und große Kreativität. Die unterschiedlichen Erzählstränge werden nicht chronologisch erzählt, immer wieder unterbrochen und bisweilen später aufgegriffen, so dass sie im Gesamtkontext erst einen Sinn ergeben. Auch wenn mich einige wenige Episoden etwas ratlos zurückgelassen haben, so sind die meisten Handlungsfäden großartig miteinander vernetzt und fügen sich schließlich sehr stimmig zusammen.
Der permanente Wechsel der Erzählperspektiven macht die faszinierende Lektüre zwar sehr anspruchsvoll aber doch sehr lohnend und ist durch die interessanten Verweise und gut recherchierten Einblicke höchst lehrreich.
Gerne hätte ich noch mehr von den eindrücklichen, atmosphärisch dichten Beschreibungen der faszinierenden Unterwasserwelt am Meeresgrund gelesen, die mich anfangs in den Bann gezogen hatten. Hervorragend hat mir Kiesers Idee gefallen, uns unterschiedliche, sehr innovative Lesarten der Geschichte austesten zu lassen, indem wir den von den Tentakeln unterbreiteten Vorschlägen in den Fußnoten zu folgen. So kann man ihren Empfehlungen folgen und zu späteren Kapitel springen oder auch einige Passagen erneut lesen, was einem erstaunlich neue Einblicke und Erkenntnisse beschert.

FAZIT
Ein außergewöhnlich erzählter, origineller und vielschichtiger Roman, dessen anspruchsvolle Lektüre mich sehr fasziniert und zum Nachdenken angeregt hat.

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Veröffentlicht am 28.10.2023

Berührende Familiengeschichte

Bei euch ist es immer so unheimlich still
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MEINE MEINUNG
Nach ihrem bemerkenswerten Debütroman „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ hat die deutschen Autorin Alena Schröder mit „Bei euch ist es immer so unheimlich still“ einen ...

MEINE MEINUNG
Nach ihrem bemerkenswerten Debütroman „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ hat die deutschen Autorin Alena Schröder mit „Bei euch ist es immer so unheimlich still“ einen überzeugenden Fortsetzungsroman vorgelegt, in dem wir erneut einigen Protagonisten des ersten Bandes begegnen und diese unter einem neuen Blickwinkel kennenlernen.
Da es hierbei eher um ein Prequel handelt, lässt sich der Roman problemlos auch ohne Vorkenntnisse lesen.
Es ist eine großartig konzipierte, einfühlsam erzählte und berührende Familiengeschichte, in der wir mehr über die familiären Hintergründe und komplexen Verwicklungen rund um die Familie Borowski erfahren sowie deren sorgsam gehütete Geheimnisse.
Im Mittelpunkt der auf drei Zeitebenen angelegten Geschichte stehen zwei faszinierende Frauen der Familie Evelyn und Silvia und deren Lebensgeschichten.
Neben der im Jahre 1989 angesiedelten Rahmenhandlung wechselt die Geschichte zwischen den 1950er Jahren direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs und den 1970er Jahren in der Schwäbischen Provinz.
Die sich abwechselnden, auf unterschiedlichen Zeitebenen angesiedelten Erzählstränge haben mich bald in ihren Bann gezogen. Äußerst spannend ist es, in die unterschiedlichen Zeiten einzutauchen und aus den verschiedenen Perspektiven mehr über das Leben der Protagonistinnen zu erfahren.
Einfühlsam und mit angenehmer Leichtigkeit zeichnet die Autorin in den Rückblicken bedeutsame Lebensstationen ihrer Figuren aus der Vergangenheit nach und zeigt zugleich die vielfältigen Hintergründe für die schwierige Beziehung zwischen Mutter und Tochter auf. So lernen wir sie mit ihren Hoffnungen, Sehnsüchten und Träumen kennen, erfahren aber auch von ihren Ängsten, folgenschweren Entscheidungen und dunklen Geheimnissen, die bis in die Gegenwart nachwirken und ihre Persönlichkeiten nachhaltig prägten. Gekonnt arbeitet die Autorin heraus, wie nachhaltig die emotionale Kälte der Mutter, das Nichtansprechen von Problemen und die fatale Sprachlosigkeit innerhalb der Familie das Verhältnis zur Tochter beschädigt haben und schließlich zur völligen Entfremdung führten.
Zudem beleuchtet sie Themen wie traditionelle Rollenbilder, Selbstverwirklichung, Mutterschaft und Mutterrolle sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie im Lichte der jeweiligen gesellschaftlichen Leitbilder. Einfühlsam setzt sich sie auch mit dem fragilen Verhältnis zwischen Mutter und Tochter auseinander und fängt äußerst stimmig die komplexen Dynamiken ihrer subtilen Kommunikation und ihre schrittweisen Annäherungsbemühungen ein.
Alena Schröder hat mit den Hauptfiguren Evelyn und Silvia sehr beeindruckende, vielschichtige Frauen-Figuren geschaffen, die mit ihren Eigenheiten, Stärken und Verletzlichkeiten sehr lebensnah und lebendig wirken. Sie versteht es, uns im Laufe der Handlung ihr Innenleben, ihre schwierigen Persönlichkeiten und charakterliche Entwicklungen glaubhaft und psychologisch stimmig näherzubringen, so dass ich mich recht gut in sie hineinversetzen konnte.
Geschickt verdichtet die Autorin die fesselnden Erzählstränge mit vielen berührenden Momenten immer weiter und versteht es, uns mit einigen unvorhersehbaren Wendungen und äußerst schockierenden Enthüllungen völlig zu überraschen.

ZUM HÖRBUCH
Mit Schauspielerin und Sprecherin Elisabeth Günther wurde eine gute Besetzung für das Hörbuch gefunden. Sie liest den Roman sehr abwechslungsreich und lebendig, so dass man schnell ins Geschehen eintauchen kann. Mit ihrer angenehmen, ausdrucksvollen Stimme nimmt uns sie mit auf eine mitreißende und bewegende Zeitreise. Überzeugend schlüpft sie in die Rollen der einzelnen Charaktere und versteht es hervorragend, sie mit ihrer einfühlsamen, variantenreichen Stimme zum Leben zu erwecken und ihnen besondere Tiefe zu verleihen.

FAZIT
Ein fesselnder und einfühlsam erzählter Roman mit einer berührenden Familiengeschichte und wundervoll komplexen Charakteren.

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