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Veröffentlicht am 19.04.2024

Meerliebe

Was das Meer verspricht
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Landflucht gibt es auch auf Inseln, und so ist Vidas Bruder Zander nur einer von vielen, die nach dem Abitur die kleine norddeutsche Insel hinter sich lassen und sich ein Leben in der Stadt aufbauen. Vida ...

Landflucht gibt es auch auf Inseln, und so ist Vidas Bruder Zander nur einer von vielen, die nach dem Abitur die kleine norddeutsche Insel hinter sich lassen und sich ein Leben in der Stadt aufbauen. Vida stattdessen bleibt mit ihren Eltern zurück, ihre Rolle ist mit dem Fortgang des Bruders geklärt - irgendwer muss immerhin den kleinen Laden übernehmen. Nicht nur, weil es ohnehin schon kaum mehr Bewohner gibt und der Laden einen wichtigen Versorgungspunkt darstellt, sondern auch, weil die Arbeit der Eltern fortgeführt werden soll. Das war von Anfang an klar für Vida, nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, ihre Zukunft zu hinterfragen; wäre da nicht eines Tages Marie aufgetaucht, denn einsame Orte mögen zwar viele Menschen vertreiben, ziehen andere jedoch wie magisch an.

Und Magie und Marie scheinen überhaupt nah zusammenzuhängen, was nicht nur an dem merkwürdigen Meerjungfrauenkostüm liegt, mit dem Marie zum Entsetzen der Inselbewohner (die keine 10 Seepferdchen ins Wasser bekommen würden) selbst im Winter das Meer unsicher macht; sie übt außerdem schon bald eine merkwürdige Faszination auf Vida aus. Vida, die gute, brave, niemals aufbegehrende, niemals hinterfragende Vida, die mit einem Mal erahnt, dass es da vielleicht doch noch mehr gibt als das ihr vorherbestimmte Inselleben an der Seite ihres Verlobten Jannis. So schnell sich ihre Gefühle für Marie vertiefen, so rasant steuert die Beziehung der beiden jungen Frauen jedoch auch schon auf ihr Ende zu.

Von Anfang an ist klar, dass Vida und Marie keine gemeinsame Zukunft haben können, lässt sich doch häufig eine gewisse Bitterkeit und Melancholie aus Vidas rückblickender Erzählung herauslesen. Trotzdem kommt schnell Spannung auf und es fällt leicht, sich mitziehen zu lassen von Blöchls einfühlsamem Schreibstil. Man fühlt sich Vida nah, deren Leben innerhalb der nichtmal 300 Seiten mehr als einmal aus den Fugen gerät. Ihr Verliebtsein, die Leidenschaft, das Glück, der Schmerz - all das ist wunderbar nahbar beschrieben und lässt Vidas Entwicklung gespannt verfolgen. Ein sehr schöner Roman!

Veröffentlicht am 13.04.2024

Familiendramen

Sommerhaus am See
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Ach ja, lockerleichte Sommerlektüre! ...Oder? Nein, eher weniger.
Nicht nur, dass Familientreffen selten Entspannung bedeuten und Lisa und Richard bei ihren Söhnen für Unmut sorgen, weil sie vorhaben, ...

Ach ja, lockerleichte Sommerlektüre! ...Oder? Nein, eher weniger.
Nicht nur, dass Familientreffen selten Entspannung bedeuten und Lisa und Richard bei ihren Söhnen für Unmut sorgen, weil sie vorhaben, das alte Sommerhaus zu verkaufen und sich stattdessen am Meer zur Ruhe zu setzen; direkt am ersten Tag ertrinkt auch noch ein kleiner Junge im See und trübt damit die Aussicht auf ein paar schöne Tage endgültig. Und als würde das alles noch nicht reichen, offenbart sich nach und nach, wie wacklig dieses ganze Gebilde eines heilen Familienlebens ist, das Lisa und Richard, Thad und Michael und deren Partnerinnen Jake und Diane hier für ein paar Tage aufrechterhalten wollen. Denn jeder einzelne von ihnen hat irgendetwas vor irgendwem zu verbergen, aber das wird mit jeder Minute schwieriger, die sie gemeinsam im Sommerhaus und in der näheren Umgebung verbringen - die Luft knistert vor Anspannung, die Nerven aller liegen blank.

Poissant gelingt es meisterhaft, unter der glänzenden Oberfläche wie beiläufig immer wieder dunkle Schatten auftauchen zu lassen. Erst noch als Macken und Eigenheiten getarnt offenbaren sich so nach und nach die Abgründe der einzelnen Figuren, während die Risse in ihrem Heile-Welt-am-See-Konstrukt immer tiefer werden. Alkoholprobleme, Drogen, heimliche und nicht ganz so heimliche Affären, tote Kinder und solche, die noch unterwegs sind - hier kommt so einiges ans Licht, das bisher gut verborgen geglaubt war. Keine der sechs Figuren kommt ohne ihr eigenes, persönliches Drama daher. Ob ihr soziales Gefüge gerade deshalb realistisch ist oder ob das nicht schon fast ein bisschen zu viel des Guten ist, lässt sich schwer sagen; es sorgt auf jeden Fall für einiges Tempo und viel mehr Tiefgang als erwartet. Die mit jedem Kapitel wechselnden Perspektiven, die alle Figuren zu Wort kommen lassen, sind erfrischend, verhindern jedoch zugleich, dass man einer bestimmten der Figuren näher kommt als den anderen. Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung gehen hier eng miteinander einher, der Fokus liegt trotz Innensicht nicht auf einer bestimmten Person, sondern ihrem Umgang und Leben miteinander - und das gelingt wirklich gut.

Veröffentlicht am 02.04.2024

Obsession und Manipulation

Geordnete Verhältnisse
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Philipps Leben dreht sich vor allem um eines: Ihn selbst. Als Kind hatte er es nicht leicht, die Mutter alkoholkrank, der Vater weg, und dann auch noch diese Sache mit dem Einnässen; seinen Weg musste ...

Philipps Leben dreht sich vor allem um eines: Ihn selbst. Als Kind hatte er es nicht leicht, die Mutter alkoholkrank, der Vater weg, und dann auch noch diese Sache mit dem Einnässen; seinen Weg musste Philipp immer alleine finden. Menschen mag er nicht besonders, die sind zu laut, zu unordentlich. Er hat Geld, und das hat er sich hart verdient, er kann sowas eben. Andere haben sich ihm anzupassen, immerhin weiß er es wirklich besser als sie und will ihnen nur helfen - das wird auch Faina irgendwann schon noch merken! Faina, die wie Philipp rote Haare hat, Faina, die in ihrer Kindheit mit den Eltern zugezogen ist. Sie ist jüdisch-ukrainischer Herkunft, damals wie heute stets knapp bei Kasse und lange Jahre Philipps beste Freundin gewesen.
Ihre Einsamkeit, ihr Anders-Sein hat die beiden in der Schulzeit zusammengeschweißt, denn Philipp wollte unbedingt einen echten, einen besten, oder überhaupt erstmal einen Freund, und als dann eines Tages Faina auftauchte, war klar: Sie ist es. Und es war ganz schön harte Arbeit für Philipp, aus Faina den Menschen zu machen, der sie heute ist! Allein, ihr die deutsche Sprache beizubringen und wie man sich hier verhält, was man hier einfach nicht macht. Er hat sie cool gemacht, das war ziemlich eindeutig sein Verdienst. Und wie dankt sie ihm das? Indem sie einfach verschwindet, dabei war dieser Streit so schlimm doch jetzt wirklich nicht. Aber sie wird schon wieder angekrochen kommen, ganz sicher. Wie könnte sie auch nicht?

Mit Faina und Philipp prallen zwei Welten aufeinander. Was zunächst noch als Freundschaft durchgehen könnte, spitzt sich im Laufe der Jahre zu einem Konflikt zu, der eskaliert, als Faina irgendwann beginnt ihr eigenes Leben zu leben. Längst ist sie nicht mehr auf Philipps Hilfe angewiesen - oder will es zumindest nicht mehr sein. Denn als sie sich zielsicher in einen Sumpf aus Schulden manövriert hat, wird ihr klar, dass ihr da nur eine Person wieder hinaushelfen kann: Philipp. Als er sie höhnisch grinsend tatsächlich wieder aufnimmt, ist von außen klar ersichtlich, was Faina selbst nicht sieht: Seiner Kontrolle, seinen Manipulationen entkommt sie nicht.

Lana Lux' Roman hat es in sich. Immer schneller wird man hineingezogen in die Spirale aus toxischer Männlichkeit und häuslicher Gewalt, sieht anders als die Protagonistin, dass das alles kaum ein gutes Ende nehmen kann - und liest die letzten Kapitel dennoch atemlos. Während sich Philipps Obsession immer weiter manifestiert, würde man Faina am liebsten schütteln, ihr sagen: Renn weg!, ist als Leser*in aber genauso machtlos wie Faina und so viele andere Frauen mit ihr. Die thematische Schwere, die atmosphörische Dichte, das sprachliche Geschick - "Geordnete Verhältnisse" ist ein Pageturner, der erschreckt und mitnimmt. Große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 23.03.2024

Eine Suche

ruh
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Eigentlich heißt "ruh" Seele, aber die Assoziation "Ruhe" passt genauso gut zu diesem Roman. Nicht, weil nichts passiert oder es langweilig wäre, im Gegenteil, Cemals Leben und sein ganzes Inneres sind ...

Eigentlich heißt "ruh" Seele, aber die Assoziation "Ruhe" passt genauso gut zu diesem Roman. Nicht, weil nichts passiert oder es langweilig wäre, im Gegenteil, Cemals Leben und sein ganzes Inneres sind von Unruhe und Rastlosigkeit geprägt. Trotzdem erfasst einen beim Lesen diese typische Ruhe, die einen in die Geschichte eintauchen und alles rundherum vergessen lässt.

Die ersten 8 Lebensjahre ist Cemal bei seinen Großeltern in einem kleinen Dorf in der Südtürkei aufgewachsen. Dann plötzlich der Umzug nach Deutschland, eine neue Sprache, neue Kultur, seine eigene Familie, die ihm fremd ist. Heute ist Cemal Ende 30 und unterrichtet Deutsch an einer Grundschule, seine kleine Tochter Ekin ist alles für ihn. Er arrangiert sein Leben zwischen ihr und Georg, mit dem er seit einer Weile eine Affäre hat. Doch nun will Georg die nächsten Schritte gehen, und Cemal hat Angst davor, ihn in sein Leben mit Ekin zu lassen. Außerdem träumt er seit kurzem von seiner verstorbenen Urgroßmutter Süveyde, die er nie gekannt hat und die ihm nach und nach die Welt ihrer Jugend zeigt und ihn mitnimmt an all die Orte, die ihm aus seiner eigenen Kindheit noch so vertraut sind. Neben dem manchmal mehr und manchmal weniger unterschwelligen Rassismus sind nun auch die Träume Süveydes Teil von Cemals Alltag, in dem er versucht, endlich einen Weg hinaus aus seiner anerzogenen Sprachlosigkeit zu finden. Die Suche nach seinen Wurzeln und nach Beständigkeit und gleichzeitig die Angst und Unfähigkeit, irgendwo länger zu verharren, sind Dinge, die Cemal umtreiben.

Der Roman reißt mit. Die recht kurzen Kapitel, die dazu verleiten, ständig "nur noch eins!" mehr zu lesen, die Sprache, die Thematik, all das packt und man bekommt kaum mit, in welcher Geschwindigkeit man durch die Seiten fliegt. Cemals Geschichte macht wütend und frustriert, ist aber zugleich von riesiger Verletzlichkeit und Zartheit geprägt. Eine große Leseempfehlung für diesen schönen, feinfühligen Roman!

Veröffentlicht am 01.12.2023

Trubel im kleinsten Staat des Deutschen Reiches

Unsereins
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Die "Buddenbrooks" mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten - das ermöglicht Mahlke in ihrem Roman, der zwischen 1890 und 1906 in Lübeck (im Roman stets nur als "der kleinste Staat des Deutschen ...


Die "Buddenbrooks" mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachten - das ermöglicht Mahlke in ihrem Roman, der zwischen 1890 und 1906 in Lübeck (im Roman stets nur als "der kleinste Staat des Deutschen Reiches" bezeichnet) angesiedelt ist, Entstehungszeit und -ort von Manns Roman. Und, ja, auch er selbst wird porträtiert, tritt auf als Tommy "der Pfau" Mann, vielversprechender Schüler, beobachtet durch die Augen seines Mitschülers Georg. Dieser wiederum kann nicht verstehen, was an der Zukunft als Kaufmann so toll sein soll, und fühlt sich selbst kaum aufgenommen in dieser für ihn neuen Stadt.

Doch Mahlkes Roman bietet viel mehr als nur die Nacherzählung eines Klassikers von der anderen Seite, denn es herrscht geschäftiges Treiben im kleinsten Staat des Deutschen Reiches; jede*r hat hier etwas zu erzählen. Da wären zum einen zwei Familien, die Schillings und die kinderreichen Lindhorsts, zum anderen deren Bedienstete und Bekannte; nicht immer ist es leicht, zwischen all diesen Namen und Perspektiven die Orientierung zu behalten, wobei einige - etwa Ratsdiener Isenhagen - für mich auch deutlich herausgestochen haben.

Es ist ein komplexes Sittenbild, das Panorama einer Stadt, das Mahlke hier in ihrem Roman zeichnet. Persönliche Sorgen stehen neben familiären Uneinigkeiten und politischen Wendungen, Schüler neben Senatoren und Hausmädchen (und Bäckermeister Bannow, der gar kein Bäcker ist). Und obwohl es da so viel zu entdecken gibt in Mahlkes Worten, ist stets auch all das besonders präsent, was nicht explizit erzählt wird, was nur zwischen den Zeilen steht oder sich hinter dem ungezwungen mitschwingenden, lockeren Humor verbirgt.
Vieles erschließt sich erst im Nachhinein, und man braucht ein gewisses Durchhaltevermögen, um hier dranzubleiben; beziehungsweise eher den Willen, das Geflecht an Figuren und Handlungen zu durchdringen, denn "durchhalten" ist eigentlich das falsche Wort - dafür liest sich der Roman viel zu spannend. Aber aufmerksam lesen sollte man schon, wenn man die Feinheiten der zwischenmenschlichen Beziehungen und politischen Anspielungen mitbekommen möchte, die Mahlke in ihrem Roman versteckt.

"Unsereins" ist für mich ein Roman, der wirklich Spaß macht. Ja, er ist komplex und manchmal auch etwas verwirrend durch die vielen Figuren und Perspektiven. Aber ich mag Romane, in denen auf diese Weise viel los ist, in denen man plötzlich zu einer anderen Figur springt und sich denkt "Ah, die wieder!" und dann gespannt darauf ist, wie der entsprechende Handlungsstrang weitergeht, bevor man dann zur nächsten springt. Natürlich mag man dabei immer die ein oder andere Figur etwas mehr oder weniger, aber für mich ist es das Gesamtbild, das sich daraus ergibt, das das große Ganze ausmacht.
"Unsereins" ist ein Roman, der sich beim Lesen sehr lebendig anfühlt, in dem immer etwas los ist und der die unterschiedlichen Figuren durch alle Gemütslagen begleitet (und dabei auch nicht an Tiefe vermissen lässt). Auch, wenn sich am Ende nicht alles klärt, ist der Roman für mich vollständig und ich habe sehr unterhaltsame Lesestunden damit verbracht. Mag ich!