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Veröffentlicht am 19.06.2024

Mobbing auf Japanisch

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
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In der japanischen Gesellschaft hat die Gruppenkultur einen hohen Stellenwert. Mitglieder einer Gruppe teilen eine Meinung und halten sich an die Regeln. Wer davon abweicht, wird ausgeschlossen. Hilfe ...

In der japanischen Gesellschaft hat die Gruppenkultur einen hohen Stellenwert. Mitglieder einer Gruppe teilen eine Meinung und halten sich an die Regeln. Wer davon abweicht, wird ausgeschlossen. Hilfe von anderen Gruppenmitgliedern ist nicht zu erwarten, um nicht selbst ausgeschlossen zu werden. Dieses Phänomen ist als Mobbing auch bei uns bekannt, in Japan ist es aber in einer viel stärkeren Form vertreten und treibt jährlich zahlreiche Kinder und Jugendliche in den Selbstmord.


In exakt dieser Situation befindet sich Tsukuru Tazaki, als er in den Sommerferien seines zweiten Studienjahrs in seine Heimatstadt zurückkehrt und sich seine vier engsten Freund*innen von ihm abwenden. Ohne Vorwarnung brechen sie jeden Kontakt zu ihm ab und ein halbes Jahr lang ist der verzweifelte Tazaki dem Selbstmord nahe. Er überwindet die Krise ohne je zu erfahren, was das Verhalten der anderen ausgelöst hat. Als er 16 Jahre später seiner Freundin Sara von diesem Vorfall erzählt, besteht sie darauf, dass Tsukuru der Sache auf den Grund gehen solle, denn dieser Ausschluss stecke immer noch in ihm.


Das Grundgerüst der Geschichte ist schnell erzählt, aber es passiert so viel mehr - auch vieles, das man gar nicht einordnen kann. Und das hat es mir mit meinem ersten Murakami schwer gemacht. Die Alltagskultur in Japan mit ihren vielen möglichen Fallstricken ist mir nicht bekannt und die japanische Literatur mit ihren Eigenheiten ebenso wenig. Ich habe mir ganz viele Stellen mit Post-its markiert, die mir bedeutsam erschienen, aber wenig davon ist irgendwie aufgelöst worden. Es wird unheimlich viel nicht auserzählt und das betrifft auch ganz zentrale Fragen der Geschichte. Das läßt natürlich auf der anderen Seite viel persönlichen Interpretationsraum, aber es hat mich nicht "glücklich" gemacht. Ich kann verstehen, dass der Autor mit seinen Büchern, die philosophische Fragen aufwerfen, kafkaeske Elemente und oft surrealistische Parallel- oder Traumwelten enthalten, ein treues Publikum hat. Zudem ist seine Sprache sehr leicht zu lesen, sie ist weder hochgestochen noch kompliziert. Ich musste mir jedoch in der Sekundärliteratur anlesen, dass Murakami zunächst begann, seine Romane auf Englisch zu schreiben, was er nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, und dann ins Japanische zurückübersetzt hat. So ist sein ganz besonderer, reduzierter Schreibstil entstanden. Mir kamen die Dialoge zum Beispiel sehr hölzern und frei von Gefühlen vor, so würde hier niemand sprechen. Ob das aber gerade den extrem höflichen Umgangston in Japan abbildet, kann ich auch nicht beurteilen.


Nicht nur ich tue mich damit schwer, Murakami zu verstehen, auch die Literaturkritikelite ist sich uneinig und versucht oft, den japanischen Erfolgsautor an westlichen Literaturwerten zu messen, was scheitern muss. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Weggang von Frau Löffler aus dem Literarischen Quartett aufgrund der Besprechung eines Murakami-Romans.


Letztlich kann ich nur empfehlen, einen Selbstversuch zu starten und einfach ein Buch des Autors zu lesen, sich aber gleichzeitig ein wenig mit der japanischen Literatur insgesamt zu beschäftigen. Geschichten werden in Japan anders erzählt, das sollte man wissen. Man muss und kann nicht alles mögen und ich meine, man darf auch einen Erfolgsautor "auslassen".

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Veröffentlicht am 01.04.2024

Harry Hole kämpft sich aus dem Alkoholnebel

Blutmond (Ein Harry-Hole-Krimi 13)
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Mit Blutmond bin ich erstmals in die Welt von Harry Hole abgetaucht. Da hat mich ein ganz schön abgewrackter Polizist erwartet, dessen erklärtes Ziel es ist, sich zu Tode zu trinken und das nicht irgendwo ...

Mit Blutmond bin ich erstmals in die Welt von Harry Hole abgetaucht. Da hat mich ein ganz schön abgewrackter Polizist erwartet, dessen erklärtes Ziel es ist, sich zu Tode zu trinken und das nicht irgendwo in Norwegen, sondern in LA. Dort rutscht er in eine Situation hinein, in der es um Leben und Tod und fast eine Million Dollar geht. (Das war insgesamt ein bisschen drüber ...) Diese Begebenheit ist aber notwendig, damit er sich als Privatermittler für einen unter Mordverdacht stehenden Millionär in Oslo anheuern läßt, der mittels Harry seine Unschuld beweisen möchte. Das ist erstmal die Ausgangssituation.

Natürlich erfährt man während der Handlung auch einiges über die vorherigen Fälle, anders geht es auch nicht. Allerdings sind dies oft entscheidende Informationen, daher ist es wohl ratsam, die Serie von Beginn an zu verfolgen bzw. nicht erst so spät einzusteigen. Dennoch kann der Roman ohne weiteres für sich alleine gelesen werden, dann weiß man eben wer in Band 12 stirbt und wer der Täter ist.

Gefallen hat mir die Gruppe, die Harry um sich scharrt, um seine Ermittlungen zu betreiben. Da ist vom Drogendealer bis zum Todkranken alles dabei, die Teamtreffen werden im Krankenzimmer abgehalten. Das habe ich bisher auch noch nicht gelesen. Die Krimihandlung an sich war vielleicht etwas sehr gestreckt (immerhin 542 Seiten), hatte aber durchaus spannende Momente. Es besteht natürlich Zeitdruck bei der Mördersuche und es gibt einige falsche Fährten. Das reicht für mich aber nicht, um die vorherigen Bände auch zu lesen. Für eingefleischte Harry Hole-Fans, die den Charakter schon lange begleiten, dürfte es aber ein ziemlicher Leckerbissen gewesen sein, weil Harry nun wieder besser in Form und zurück in Oslo ist. Zudem endet der Band mit einem Cliffhanger, der schon Interesse für den nächsten Teil zu wecken vermag.

Jo Nesbø scheint übrigens kein Freund des Edvard-Munch-Museums in Oslo zu sein, das kommt nämlich an zwei Stellen im Buch ziemlich schlecht weg: "Wir nennen es Tschernobyl. Nicht vielen Architekten gelingt es, einen ganzen Stadtteil mit einem einzigen Gebäude zu zerstören, aber der hier hat das geschafft, das muss man ihm lassen." (S. 232) BTW das Gebäude möchte ich auch nicht vor der Haustür haben wollen.

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Veröffentlicht am 12.01.2024

Ein Cowboy im viktorianischen London

Die Frau in der Themse
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William Pinkerton, Sohn des berühmten Gründers der Pinkerton Detektei, sucht 1885 in London nach der Betrügerin Charlotte Reckitt. Gleichzeitig ist Adam Foole auf dem Weg zu ihr, beide verbindet eine gemeinsame ...

William Pinkerton, Sohn des berühmten Gründers der Pinkerton Detektei, sucht 1885 in London nach der Betrügerin Charlotte Reckitt. Gleichzeitig ist Adam Foole auf dem Weg zu ihr, beide verbindet eine gemeinsame kriminelle Vergangenheit. Da findet man einen abgetrennten Frauenkopf in der Themse und die Jagd nach dem Mörder beginnt.

Der Klappentext hörte sich so spannend an und der Roman versprach mit 900 Seiten einen opulenten und eleganten Krimi. Leider hat mich das Buch, das viel eher historischer Roman und Vater-Sohn-Geschichte ist, aber enttäuscht, es war stellenweise doch sehr zäh. Die Konfrontation des aus den USA stammenden und bürgerkriegserfahrenen Pinkerton mit den Herren von Scotland Yard ist lesenswert, ebenso wie die Episoden aus dem Bürgerkrieg oder die aus der Londoner Unterwelt. Diese Passagen habe ich nahezu atemlos gelesen. Der Autor scheut kein Blut und keinen Dreck. Vielfach wurde bemängelt, dass die Geschichte von den zahlreichen Rückblenden arg zerstückelt wird. Das ist sicherlich richtig, aber die Rückblicke sind auch wichtig, um die Charaktere zu verstehen. Schritt um Schritt kommen wir ihnen näher. Allerdings ist das alles einfach viel zu viel und die Geschichte verläuft sich in Einzelheiten und Details. Verschiedene Lebensläufe werden akribisch ausgeleuchtet und zersetzen und lähmen die Handlung irgendwie. Etwa als wenn man von Hamburg nach München fährt und der Zug macht ständig einen Umweg über Berlin. Der Autor hat es verstanden, die jeweilige Atmosphäre sehr gut darzustellen, man ist als Leser jeweils mitten im Geschehen, aber die Figuren sind mir nicht nahe gekommen. Die Kernhandlung war mir dann auch trotz der 900 Seiten zu dünn. Am Ende habe ich mich gefragt, ob das wirklich alles war.

Ein historischer (Kriminal-)Roman, der stellenweise zu fesseln vermag und eine großartige Atmosphäre vermittelt. Er war mir aber um einiges zu lang, zu ausschweifend und daher zu zäh.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Fleischlose Rebellin

Die Vegetarierin
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Yong-Hye, eine junge Südkoreanerin, isst plötzlich kein Fleisch mehr. Ihr Ehemann und ihre Familie reagieren mit völligem Unverständnis. Was soll das? Die zuvor unauffällige und angepasste Frau wird zum ...

Yong-Hye, eine junge Südkoreanerin, isst plötzlich kein Fleisch mehr. Ihr Ehemann und ihre Familie reagieren mit völligem Unverständnis. Was soll das? Die zuvor unauffällige und angepasste Frau wird zum Störfaktor in ihrer Umgebung. Yong-Hye wird immer dünner und für ihren Mann immer unattraktiver, verstehen kann er sie ohnehin nicht. In ihrem Schwager weckt sie jedoch Begierden.

Mit ihrer Weigerung Fleisch zu sich zu nehmen, wird Yong-Hye zur Rebellin, bis zur letzten Konsequenz. Einzig ihre Schwester versteht sie und das auch erst am Ende des Romans. Für mich eine eher verstörende Leseerfahrung. Gefallen hat mir, dass sich Yong-Hye quasi zur Pflanze entwickelt und mit ihrem Vegetarismus eine Gesellschaftskritik betreibt, indem sie aus ihrer Angepasstheit heraustritt. Das schmale Büchlein mit gerade einmal 190 Seiten ist, auch wegen des Schreibstils, schnell gelesen, lässt einen aber mit Fragen zurück.

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Veröffentlicht am 13.11.2023

Extrem und verstörend

Das Seidenraupenzimmer
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Ich weiß gar nicht, was ich erwartet hatte, aber dies nicht. Das verspielte Cover und der Klappentext lassen eher an eine romantische Liebesgeschichte denken und der Beginn ließ mich ganz - aber nur ganz ...

Ich weiß gar nicht, was ich erwartet hatte, aber dies nicht. Das verspielte Cover und der Klappentext lassen eher an eine romantische Liebesgeschichte denken und der Beginn ließ mich ganz - aber nur ganz kurz - an eine Art japanische Version von "Der Sommer, als ich schön wurde" denken.

Yuki ist eine Außenseiterin, obwohl sie es allen nur recht machen will. Sie verbündet sich in den Sommerferien auf dem Land mit ihrem Cousin Yu, in dem sie einen Vertrauten findet, der ihre Fantasien nicht nur teilt, sondern auch beflügelt. Ihr Stofftier Pyut, eine weiße Maus, ist ein Abgesandter des Planeten Pohapipinpopopia und Yuki selbst ein Magical Girl mit einer verzauberten Puderdose und einem Zauberstab. Als Yuki zehn oder elf Jahre alt ist, "heiraten" die beiden auf dem Friedhof und wollen sich lieben, bis ein Raumschiff kommt und Yu abholt. Im nächsten Sommer ist alles anders. Yuki wurde das Opfer eines Missbrauchs. Ihre Fantasien weiten sich aus und sie möchte unbedingt mit Yu intim werden. Die beiden werden von der Familie überrascht. Erst als Yuki 34 Jahre alt ist, sieht sie Yu wieder.

Zunächst fand ich die Geschichte faszinierend, wie sich ein Mädchen in eine Fantasiewelt flüchtet, um den strengen und ungerechten Eltern und ihrer älteren Schwester zu entkommen. Deutlich wird eine Kritik an der japanischen Gesellschaft geübt. Nicht von ungefähr fürchtet sich Yuki vor der "Fabrik", vor der Gehirnwäsche und der Reduktion auf die Produktion von Nachkommen, die wieder als Arbeiter:innen in die Fabrik gehen. Der Missbrauch nimmt einen großen Teil der Geschichte ein und unterstreicht Yukis Hilflosigkeit. Im zweiten Teil wird die Handlung jedoch extrem verstörend und zieht gleichzeitig die Verbindung zum Titel. Es erfolgt eine Einkapselung und eine Verpuppung im Haus auf dem Land, die mich ratlos zurückgelassen hat. Die extreme, mitunter brutale Handlung wird durch die kindliche Sprache der Ich-Erzählerin Yuki ad absurdum geführt, erscheint in Yukis Augen völlig normal. Ein Roman, der sicherlich die Gemüter bewegt und die Leserschaft spaltet.

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