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Veröffentlicht am 06.12.2023

Dieses Buch wird nicht entfernt

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Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen ...

Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs entnehmen. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses Buch keinesfalls aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.

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Veröffentlicht am 30.11.2023

You made a Fool of Death

Du bist so schön, sogar der Tod erblasst
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Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich ...

Bisher kenne ich von Akwaeke Emezi nur den Debütroman "Süßwasser", welcher sowohl inhaltlich als auch stilistisch nur schwer zu lesen, dennoch sehr gehaltvoll war. Ja, fast durchkämpfen musste ich mich damals durch die Lektüre. Das war bei "Du bist so schön, sogar der Tod erblasst" (im englischsprachigen Original "You made a Fool of Death with your Beauty") komplett anders. Emezi scheint sich hier ganz und gar in die Unterhaltungsliteratur begeben zu haben, denn nun liest es sich eingängig und scheinbar auch recht oberflächlich.

Es geht um eine junge Frau, Ende Zwanzig, die vor fünf Jahren bei einem gemeinsam erlebten Autounfall ihren Ehemann verloren hat. Die Trauer hat sich in ihr Dasein und auch ihre Arbeit als Künstlerin eingebrannt und nun geht sie die ersten Schritte und öffnet sich wieder (sexuellen) Beziehungen. Davon ist auch der Beginn des Romans geprägt. Wir bekommen einige Sexszenen zu lesen, die aber erst einmal nur dem Stillen der körperlichen Lust der Protagonistin Feyi dienen. Mit Nasir könnte es mehr werden, weshalb sie zunächst enthaltsam bleibt und ihn als gute Freundin in seine Heimat auf eine nicht näher bezeichnete karibische Insel begleitet, um an einer Gruppenausstellung von Künstler:innen der afrikanischen Diaspora teilzunehmen. Schon beim ersten Blick, den sie auf Nasirs Vater Alim wirft erwecken lang verschüttete Gefühle, umso mehr als sie erkennt, dass er einen ähnlichen Verlust wie sie in seinem Leben zu verkraften hatte. Ein Mechanismus beginnt sich in Gang zu setzen, der zu viel Leid aber potentiell auch zu viel Liebe führen kann.

Mir hat der Roman von Emezi unter der Prämisse, dass es sich um eine leicht zugänglich angelegte Geschichte um Trauer, Trauerbewältigung und neue Liebe handelt, sehr gut gefallen. Mit farbenprächtigen Bildern erzählt Emezi von dem Heraustreten aus der grauen Zeit der Trauer in eine neue (Gefühls-)Welt. Hier wird das Thema Trauer einmal von einer neuen Seite beleuchtet und literarisch umgesetzt. So findet das Voranschreiten im Trauerprozess sein Äquivalent in der immer reichhaltiger werdenden Umgebung und dem Leuchten der Figuren. Das karibische Setting weiß Emezi detailliert zu beschreiben, sodass vor dem inneren Auge eine ganz neue Welt auftut, in welche man selbst eintauchen möchte. Ebenso nutzt sie den gustatorischen Sinn, um das Aufblühen von Feyi zu beschreiben, ist doch Alim ein Sternekoch, der sein Können immer wieder unter Beweis stellt. Weiterhin wird die Beschreibung der Installationen Feyis genutzt, um Trauerarbeit darzustellen. Und letztlich gefällt mir einfach am Roman, dass er ganz selbstverständlich in einer Schwarzen gehobenen Klasse spielt. Dieser Roman braucht keine weißen Menschen, um sich zu verorten, auch wenn die beste Freundin von Feyi an einer Stelle ihr ins Gewissen redet, das Ausstellungsangebot durch Beziehungen zu nutzen, wie es genügend weiße Menschen der Kunstwelt jeden Tag tun. Es ist angenehm endlich eine Geschichte zu lesen, die in der Welt von Schwarzen Reichen und Schönen spielt.

Insgesamt konnte mich der Roman von Akwaeke Emezi abholen und in diese wunderschöne. karibische Welt mitnehmen. Nicht nur optisch und gustatorisch sondern auch emotional. "Nur" vier Sterne gibt es für den Roman, weil ich von Emezi einfach literarisch etwas Anspruchsvolleres erwartet hatte und sie stilistisch keine Sprünge in dem vorliegenden Roman macht. Emezi kann das eigentlich, wollte hier aber scheinbar einen eingängigeren Roman schreiben. Egal, mir hat es gefallen.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.10.2023

Porzellanpuppe

All die Frauen, die das hier überleben
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Die ukrainische Autorin Natalja Tschajkowska hat ihren Roman im Original „Porzellanpuppe“ genannt, denn dies ist nicht nur einer der wenigen Besitztümer, den Marta mit in die überstürzte Ehe mit Maksym ...

Die ukrainische Autorin Natalja Tschajkowska hat ihren Roman im Original „Porzellanpuppe“ genannt, denn dies ist nicht nur einer der wenigen Besitztümer, den Marta mit in die überstürzte Ehe mit Maksym mitbringt, sondern steht auch für sie selbst, die zunehmend der häuslichen Gewalt ihres Ehemanns ausgesetzt ist und wie eine Porzellanpuppe zu zerbrechen droht.

Tschajkowska geht in ihrem tonnenschweren Roman gleich zu Beginn einen Schritt auf ihre Leser:innen zu, indem sie mit dem Ende beginnt. Wir nehmen in der Ich-Perspektive von Marta an der Beerdigung ihres verstorbenen Mannes in 2021 teil. Schon hier erfahren wir mindestens zwei Dinge: Erstens waren die letzten fünf Jahre von Martas Eheleben ein einziges Martyrium unter dem gewalttätigen Tyrann Maksym. Und zweitens wissen wir aber gleich: Sie hat es überstanden und er ist nun tot und keine Bedrohung mehr. Wie es zu all dem gekommen ist, erkunden wir nun gemeinsam mit Marta ganz von Anfang an, als sie 2016 Maksym kennen- allerdings nicht lieben lernt, und ihn doch heiratet. Was zunächst noch mit kleineren Wutausbrüchen beginnt, entwickelt sich schnell zu einer lebensbedrohlichen Situation für Marta, die es lange, zu lange, in dieser Beziehung aushält und erst spät beginnt einen Ausweg zu suchen aus diesem physischen wie auch psychischen Gefängnis.

Ein muss gesagt sein: Dieser Roman ist wirklich ganz schwer verdaulich und auch nur schwer zu verkraften. Das liegt meines Erachtens nicht nur an der grundsätzlich scheußlichen Thematik der häuslichen Gewalt, sondern auch an der Erzählperspektive, die die Autorin hier gewählt hat. Da wir stets in der Ich-Perspektive von Marta bleiben, treten deren schrecklichen Erlebnisse ganz nah an uns Lesende heran. Da sie sich, wie so unglaublich viele andere betroffene Frauen, in einem Teufelskreis befindet, aus welchem sie lange Zeit keinen Ausweg für sich findet, können sich die 365 Seiten dieses Buches wie eine schier endlose Qual anfühlen. Das muss man aushalten können. Ich konnte es nur durch Leseunterbrechungen.

Die Tatsache, dass der Roman von Tschajkowska genau das bei einer Leserin auslösen kann, zeigt das Können der Autorin. Sie entwirft ein über weite Strecken psychologisch stimmiges Bild einer Frau, die es zunächst nicht schafft aus ihrem eigenen, inneren Gefängnis auszubrechen, bevor sie auch nur eine Chance hat, aus dem äußeren Gefängnis der Ehe mit psychischer, physischer und sexualisierter Gewalt auszubrechen. Komplett Außenstehende tendieren häufig zu schnell dazu zu denken: „Warum geht verlässt sie ihn nicht einfach?“, wenn sie die Geschichten von Betroffenen hören. So einfach ist das aber sehr häufig nicht und Tschajkowska verdeutlicht dies sehr gut in ihrem Roman.

Leider gab es für mich eine Stelle zum Ende des Romans hin, indem die Autorin ihre Protagonistin tatsächlich sehr blauäugig (und hier sind nicht die Hämatome um ihre Augen herum gemeint!) agieren lässt. Das passte an dieser Stelle nicht mehr zum inneren Entwicklungsstand der Protagonistin und ließ sie dumm wirken. Das ist etwas, was ich niemals über Betroffene von häuslicher Gewalt denken möchte, dass sie dumm seien. Denn dies entspräche dem Vorurteil, dass sie „zu dumm sind“, um sich endgültig zu trennen. Aber danach fängt die Autorin die Romanhandlung wieder ab und wirft zum Schluss noch einmal wichtige moralische Fragen zu dem Thema auf, mit welchen Mitteln sich eine Gepeinigte aus den Fesseln einer solch schlimmen Situation lösen kann und darf.

Meines Erachtens handelt es sich hierbei um einen äußerst wertvollen Roman, der aufgrund seiner intensiven Erzählperspektive ganz ungefiltert das Thema beleuchtet.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Die Weißen können schlafen, die Schwarzen müssen dienen

Der Schlafwagendiener
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Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, ...

Suzette Mayr, eine kanadische Autorin mit deutschen und afro-karibischen Wurzeln, greift im vorliegenden Roman ein in Vergessenheit geratenes Themenfeld auf. Sie setzt den Schwarzen Schlafwagendiener Baxter, der für den Großteil des Romans einen Zug von Montreal nach Vancouver im Jahre 1929 betreut, ins Zentrum ihrer Geschichte. Dieser muss nicht nur mit dem Rassismus der Passagiere und Vorgesetzten klarkommen, sondern auch seine Homosexualität verheimlichen, die ihn damals mindestens ins Gefängnis gebracht hätte. Wir folgen nun diesem Zug auf seiner vier Tage (plus) Tour quer durch Kanada und erleben auf eindrückliche Weise, wie menschenunwürdig Baxter und seine anderen Schlafwagendienerkollegen behandelt werden.

Mit Baxter hat die Autorin eine äußerst interessante Figur geschaffen. Er arbeitet schon seit vielen Jahren als Schlafwagenfahrer, das alles aber nur, um sich die Fortführung seines Zahnmedizinstudiums leisten zu können. Neben seinem Faible für Zahnstellungen und dentalen Erkrankungen ist er außerdem ein großer Science-Fiction-Fan und steckt stets die Nase in ein entsprechendes Buch. Aber diese beiden Eigenarten stellen natürlich keine Gefahr für ihn dar. Im Gegensatz dazu existiert jedoch eine ständige Bedrohung durch den massiven Rassismus und die Homophobie der damaligen Zeit. Mayr rückt nicht nur diese beiden Formen der Unterdrückung ins Zentrum ihrer Geschichte, auch Klassismus und die fehlenden Rechte der Arbeiterklasse werden aufgegriffen. Alles hängt hier ohne Frage miteinander zusammen und scheint Baxter zu zerstören.

Die Autorin entwirft sprachlich gekonnt verschiedenste Passagiercharaktere, die scheinbar alle nur ihre eigenen Befindlichkeiten im Blick haben und auf sehr hohem Niveau über jede Kleinigkeit im Zug und in der Gesellschaft zum Meckern ansetzen. So schreibt sie auf Seite 46-47:

„Die Leute richten sich auf den weichen Matratzen ihrer Kojen ein, mitsamt ihren Koffern und Schachteln, ihren Hüten, Nachthemden und Morgenröcken, ihren überflüssigen Ansichten und den unerschöpflichen Bedürfnissen und Scheinbedürfnissen der Gutsituierten:…“

Während zu Beginn dieses Konglomerat aus Gutsituierten noch wie ein hochnäsiger Einheitsbrei wirkt, zeichnen sich vor allem zum Ende hin feine Differenzierungen zwischen den Fahrgästen ab, die einem nicht sämtliche Hoffnungen auf das Gute im Menschen verlieren lassen. Im absoluten Kontrast zum Leben auf der Seite der Bedienten im Zug und in der Gesellschaft steht das der Diener. Diese leben, stellvertretend dargestellt durch Baxter, am Existenzminimum, können sich kaum das Essen in der Angestelltenkantine leisten und arbeiten sich um ihre physische wie auch psychische Gesundheit, bekommen sie doch kaum Schlaf und Nahrung, sind ständig auf den Beinen. So entwickeln sich bei Baxter zunehmend Ausfallerscheinungen im Sinne von zum Beispiel kaum noch von der Realität zu unterscheidende Halluzinationen.

Wie lang so ein mehrtägiger Arbeitseinsatz, eingeschlossen in einem Zug, mit der ständigen Angst sogenannte Strafpunkte durch angebliches Fehlverhalten zu sammeln und letztlich entlassen zu werden, vermittelt Mayr passend durch ihren Schreibstil. Man hält das unablässige Klingeln nach dem „George“ (alle Schwarzen Diener erhielten den Namen George und wurden nicht bei ihrem richtigen Namen genannt), die nervenden Wünsche, Sonderbarkeiten und Typen der Passagiere kaum aus, hat das Gefühl der Zug und die Geschichte komme kaum voran, bis es dann doch endlich erlösend weitergeht. Zeitweise erscheinen 240 Buchseiten unendlich lang, aber das ist meines Erachtens literarisch so gewollt und erfüllt damit eine Funktion, nämlich die wichtige des „Show, don‘t tell“.

Trotzdem erzählt uns Mayr natürlich sehr viel mit ihrem Roman und weck dadurch nicht nur ein Bewusstsein für die vielen Wege der Unterdrückung von Minderheiten sondern auch für ein historisches Detail, welches sonst fast vergessen wäre, nämlich die „10 000 Black Men Named George“ (nach einem Filmtitel von Regisseur Robert Townsend), die Schwarzen Diener einer weißen Oberschicht. Übrigens ist der Filmtitel nur eine von sehr vielen Literatur- bzw. Quellenhinweisen, die die Autorin ihrem Buch angehängt hat. Neben der großartigen Recherchearbeit der Autorin sollte außerdem noch die ebenso großatige Übersetzungsleistung von Anne Emmert gewürdigt werden, die den Text von Mayr gekonnt ins Deutsche gebracht hat.

Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für dieses Buch mit einem selten beleuchteten Setting.

4/5 Sterne

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Veröffentlicht am 24.07.2023

Eine Hochstaplerin betrügt die Schönen und Reichen

Die Einladung
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Der englische Originaltitel von Emma Clines Roman „Die Einladung“ ist eigentlich „The Guest“. Meines Erachtens passt dieser Titel dann doch besser als die deutsche Auswahl. Warum? Weil es hier um eine ...

Der englische Originaltitel von Emma Clines Roman „Die Einladung“ ist eigentlich „The Guest“. Meines Erachtens passt dieser Titel dann doch besser als die deutsche Auswahl. Warum? Weil es hier um eine 22jährige, ehemalige Escort-Dame und Hochstaplerin handelt, die sich im Laufe des Romans eine Woche lang durch die High-Society-Strandhäuser in den Hamptons lügt und betrügt. Sie macht sich selbst zum ungebetenen „Gast“, bekommt mitunter nicht einmal eine „Einladung“.

Aufgrund von Drogenkonsum und entstandenen Schulden ist die junge Alex nämlich gerade nicht gern gesehen in „der Stadt“, in New York. Ihr auf den Fersen: der On-Off-Ex-Freund Dom, ein ungemütlicher Geselle, der das Geld wiederhaben möchte, welches sie nach dem letzten Techtelmechtel hat mitgehen lassen. Nun hat sie sich auf eine neue Masche eingestellt. Statt als Escort-Dame von bessergestellten Männer gebucht zu werden, flirtet sie sich an Simon in einer Bar ran. Dieser ist im Kunstmarkt tätig und nimmt sie als seine „Aushänge“-Freundin mit in seine Villa in den Hamptons. Nach einer Meinungsverschiedenheit wird sie von ihm allerdings eine Woche vor seiner großen Labor-Day-Festivität rausgeworfen und feiert, mogelt, vögelt sich nun bis zum großen Tag der von ihr geplanten Versöhnung durch die Villen der Schönen und Reichen.

Emma Cline hat einen mitreißenden Schreibstil, sodass man von ihr eingelullt wird, den Betrügereien der Antiheldin Alex auf Schritt und Tritt zu folgen. Zum einen ist man schockiert von ihrer Kaltschnäuzigkeit, wenn sie sich jegliche Vorteile verschafft und diese Menschen skrupellos ausnutzt, zum anderen freut man sich aber auch ein kleines bisschen darüber, dass diese schamlos reichen Menschen ebenso schamlos abgezockt werden. Denn eins beherrscht Cline perfekt, das Darstellen des klaffenden Unterschieds zwischen arm und reich, zwischen Ober- und Unterschicht. Über den Luxus, den sich die Bewohner der Sommerhäuser leisten, schwebt immer auch das Wissen, wie hart das Leben für einen Großteil der Gesellschaft meistens ist. Immer wieder tauchen Bedienstete auf, die legal dort arbeiten, sich aber ebenso verstellen müssen wie Alex. Alex ist zwar eine Betrügerin, was nicht zur feinen englischen Art gehört, aber sie hat eben auch selbst keine Wohnung mehr, steht vor dem Nichts sollte sie nach New York zurückkehren müssen, hat all ihr Hab und Gut in einer Reisetasche dabei, und selbst dieses besteht fast ausschließlich aus den Kleidungsstücken, die Simon ihr gekauft hat.

Des Weiteren schafft es Cline darzustellen, wie sich diese weibliche Figur Alex in die Köpfe anderer Menschen eingräbt, wie sie in ihrer Zeit als Escort-Dame gelernt hat, sich hundertprozentig auf die Wünsche und Bedürfnisse anderer Menschen einzustellen und sie damit gefügig zu machen. Die tatsächliche Persönlichkeit von Alex verliert sich hinter ihrer Scharade vollkommen. Nie kann man sich beim Lesen des Romans in irgendeiner Weise sicher sein, wie die „wahre“ Alex denkt und fühlt. Vielleicht gibt es sie schon gar nicht mehr hinter den unzähligen Fassaden.

Das Ende des Romans empfand ich zunächst als zu uneindeutig, zu wenig abschließend bis mir klargeworden ist, dass alles nicht anders hätte kommen können. Man kann Alex‘ Geschichte nicht einfach abschließen, denn für sie geht es ja immer irgendwie weiter. Das sollte man nach den vorangegangenen 300 Seiten begriffen haben.

Insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen und ich würde ihn Leser:innen empfehlen, die Antiheld:innen aushalten und sich von einer Begegnung zur nächsten treiben lassen können, ohne immer alles auserzählt zu bekommen. Hier ist eindeutig der Weg das Ziel und es ist interessant dieser Hochstaplerin auf ihrem Weg zu folgen.

4/5 Sterne

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