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Veröffentlicht am 06.12.2023

Hoffnung trotz Kollaps, geht das?

Der Wal und das Ende der Welt
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Zweieinhalb Jahre Pandemiegeschehen ließen mich die Lektüre dieses Buches vor mir herschieben. Kann und sollte man eine Geschichte, in der es zu einer tödlichen Grippepandemie, Krieg und Ölknappheit kommt, ...

Zweieinhalb Jahre Pandemiegeschehen ließen mich die Lektüre dieses Buches vor mir herschieben. Kann und sollte man eine Geschichte, in der es zu einer tödlichen Grippepandemie, Krieg und Ölknappheit kommt, wirklich lesen, während die Welt in genau diesen Endzeitszenarien gerade eben versinkt? Die Frage ist nicht global für alle Bücher, die diese Themen behandeln, zu klären. Für „Der Wal und das Ende der Welt“ jedoch kann ich sie für mich eindeutig beantworten: Ja! Es wäre sogar hilfreich gewesen dies schon viel früher zu tun. Aber warum?

John Ironmonger entwirft zwischen all den dystopischen Elementen seiner Geschichte ein zutiefst positives Menschenbild. Zu oft hören, sehen, lesen wir Szenarien, in denen vorhergesagt wird, dass der Mensch, wenn es hart auf hart kommen sollte, sich selbst am nächsten ist. Dass es zu Mord und Totschlag, Plünderungen, Vergewaltigungen usw. usf. kommen wird. In diesem Hoffnung gebenden Buch ist das anders. Die ein oder andere Komponente (Plünderung und Diebstahl) gibt es auch, aber nur am Rande und eher unerheblich. Hier geht es darum, wie ein Mann zusammen mit einer wohlgesinnten Dorfgemeinschaft es schafft, den Kollaps ausgelöst durch eine Kombination der oben genannten Szenarien zu überstehen. Wie man füreinander einstehen kann, ohne dass es innerhalb der Geschichte kitschig wirkt. Wie der Mensch zeigt, dass er letztendlich doch ein soziales Tier und gewillt ist, gemeinschaftlich eine Herausforderung zu bewältigen.

Geschickt webt Ironmonger dafür über zwei Figuren seines Ensembles Überlegungen aus der Philosophie sowie Religionswissenschaft zum Thema die Natur des Menschen in seinen Roman ein. Das wirkt niemals belehrend, sondern vielmehr wissenswert, wohldosiert und verständlich heruntergebrochen. Auch die entsprechenden herangezogenen wirtschaftswissenschaftlichen Überlegungen werden stets nachvollziehbar in die Geschichte eingebunden und erklärt. Sehr positiv hervorzuheben sind diesbezüglich die Anmerkungen des Autors im Appendix des Buches zu den Quellen, die mit weiteren wissenswerten Fakten angereichert sind.

Die Seiten dieses 480seitigen Romans fliegen nicht trotz sondern gerade aufgrund von interessanten Theorien, authentischer Menschlichkeit und knackig erzähltem Plot nur so dahin. Sprachlich ist der Text stets süffig und lesefreundlich gehalten. Rückblicke hin zu lebensgeschichtlichen Ereignissen des Hauptprotagonisten Joe sorgen für Abwechslung und ein vollständigeres Bild dieses Analysten aus London, welcher auf (gar nicht so wundersame Weise) am Strand eines kleinen Örtchens in Cornwall angeschwemmt wurde.

So viel darf zur Entwicklung der Geschichte verraten werden: Hier geht die Welt nicht in Verdammnis unter. Hier gibt es Hoffnung ob der Grundannahme eines Menschenbildes, welches Zusammenhalt deklamiert statt Vereinzelung und Egoismus. Und das ist etwas, was ich schon eher in dieser (aktuellen und wahrscheinlich leider nicht letzten) Pandemie gebraucht hätte. Übermäßig viele Dystopien hat der Mensch hervorgebracht. Es braucht auch mal, wenn nicht gleich eine eher unwahrscheinliche Utopie, dann doch ein Fünkchen Hoffnung.

Deshalb und aufgrund der oben genannten Punkte, gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für diesen Roman, der zwar positiv angelegt ist, aber keine naive Happy-Go-Lucky-Geschichte darstellt und damit an massiv Glaubhaftigkeit gewinnt.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Eine literarische Science-Fiction-Geschichte mit unerwartetem Verlauf

Der Mann, der vom Himmel fiel
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„Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten ...

„Der Mann, der vom Himmel fiel“ ist mindestens bezogen auf die Verfilmung mit David Bowie aus dem Jahre 1976 vielen ein Begriff. Dass die Buchvorlage bereits aus dem Jahre 1963 und vom nun wiederentdeckten Autor Walter Tevis („Das Damengambit“) stammt ist weniger bekannt.

Der zweite Roman Tevis’ demonstriert bereits sein herausragendes Können als Romanautor für anspruchsvolle aber trotzdem zugängliche Literatur. So ist es ein Genuss diesen Science-Fiction-Roman mit Niveau zu lesen. Oder sollte ich besser sagen, „zu inhalieren“? Denn das passiert, wenn man beginnt den vorliegenden Roman zu lesen. Man wird mit nur wenigen Sätzen, die ebenso der Beginn einer Kurzgeschichte sein könnten, in die Geschichte um den Antheaner mit dem irdischen Namen Thomas Jerome Newton gesogen. Anthea ist eine Welt innerhalb unseres Sonnensystems, welche durch ihre Bewohner ähnlich zugrunde gewirtschaftet wurde, wie es der Erde durch uns Menschen bevorsteht. T.J. Newton will nun nach seiner Ankunft in 1985 auf der Erde innerhalb weniger Jahre durch Nutzung verschiedenster Wirtschaftsmechanismen – vor allem dem Patentrecht, durch mitgebrachte Theorien zu außerirdischen Technologien – das nötige Kapitel erlangen, um ein Raumschiff zur Rettung seiner Spezies zu bauen.

Wir begleiten nun diesen Außerirdischen, der sich gar nicht so stark aber doch merklich von den Menschen unterscheidet, bei seinen Vorhaben auf der Erde, bekommen einen Einblick in die Frustration, die mit der Entfernung zur eigenen Heimat einhergeht und ebenso mit der Erkenntnis, dass die Menschen keinen Deut besser als die Antheaner sind und gerade dabei ihre Erde mithilfe von atomaren Waffen zu zerstören. So vieles, was Walter Tevis in 1963 für das fast nicht mehr bewohnbare Anthea vorhergesagt hat, ist mittlerweile in unserer Realität der Erde im Jahre 2022 wahr geworden. Wäre dieses Buch eine Erstveröffentlichung dieses Jahres, könnte er wahrscheinlich nicht mehr so schocken, wie es ihm mit Blick auf sein Entstehungsjahr gelingt. Ein weiteres Beispiel wie Literatur im Allgemeinen und Science-Fiction im Speziellen unsere Zukunft zu antizipieren vermag. Ich sage nur: „Solarzellen in der Wüste“ (Seite 69).

Aber auch unabhängig von den prophetischen Qualitäten dieses Romans, ist er einfach ein großartiges literarisches wie auch unterhaltsames Werk. So ist die Sprache von Tevis stets mitreißend und kurzweilig. Man fiebert mit den Protagonisten mit und ist, ob der Blockbuster-Qualitäten des Stoffs überrascht bezüglich des unerwarteten, nicht vorhersehbaren Verlaufs der Geschichte. Die Figuren wirken äußerst authentisch. Denn gerade Außerirdische wurden und werden viel zu oft im Sci-Fi-Genre wenig differenziert dargestellt. T.J. Newton hingegen ist ein facettenreicher Charakter, der mir sich selbst und der Welt ringt.

Diese ungewöhnliche Geschichte und das Können Walter Tevis’ lässt hoffen, dass der Verlag in den nächsten Jahren weitere Werke des Autors neu übersetzen lässt und diese wiederveröffentlicht. Es ist eine helle Freude Tevis und sein Werk (wieder) zu entdecken. Ein zeitloses Buch, was nicht nur Science-Fiction-Fans sondern durchaus einem breitem Publikum gefallen und die Augen öffnen wird. Eine klare Leseempfehlung meinerseits für diesen modernen Klassiker!

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Veröffentlicht am 12.11.2023

Magischer Realismus in Belfast

Firestarter
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Vieles hätte ich von diesem Roman erwartet, aber nicht das, was ich letztlich bekommen habe. Sehr positiv wurde ich überrascht von den unerwarteten Inhalten des Romans der nordirischen Autorin Jan Carson.

Immer ...

Vieles hätte ich von diesem Roman erwartet, aber nicht das, was ich letztlich bekommen habe. Sehr positiv wurde ich überrascht von den unerwarteten Inhalten des Romans der nordirischen Autorin Jan Carson.

Immer am 12. Juli eines Jahres feiern die Protestanten Nordirlands den historischen Sieg WilhelmIII. über Jakob II. Als Sieg der Protestanten über die Katholiken. Immer wieder ist es in der Vergangenheit bei den Märschen der Mitglieder des sogenannten Oranier-Ordens zu Ausschreitungen mit Katholiken und der Polizei gekommen. So auch im Roman von Jan Carson, welcher in 2014 spielt. Dort sorgt ein maskierter Unruhestifter mit Online-Videos dafür, dass schon Wochen vor dem 12. Juli die ersten Gebäude brennen. Er nennt sich der „Firestarter“, spielt im Hintergrund seiner Videos den gleichnamigen, wohl bekanntesten Song von The Prodigy ab und lässt die Gewalt immer mehr ansteigen. Sammy vermutet, dass sein Sohn hinter den Videos steckt. Zeigte der doch schon sein gesamtes Leben lang psychopathische Verhaltensweisen. Sammy, um die 50 Jahre alt, war als Jugendlicher in den 1980ern selbst einer der aggressiven Unruhestifter in Belfast. Hinzu kommt noch die Geschichte von Jonathan, welcher erst vor wenigen Wochen Vater geworden ist und ebenso mit der Gefahr, welche potentiell von seiner Tochter ausgeht, hadert.

Carson überrascht in ihrem Roman mit ganz unerwarteten Wendungen. So ist der vorliegende Roman keiner, der den Nordirlandkonflikt historisch aufarbeiten oder erklären will, er spielt ganz einfach in Belfast und hier gehören die ständigen Unruhen und die terroristischen Akte einfach zum Alltag der Menschen dazu. So beschreibt sie die „Vorbereitungen“ auf den 12. Juli mit lakonischer Art und lässt dabei immer wieder trockenen Humor durchblitzen. So wird man vielleicht, wenn man in diesem krisengebeutelten Landstrich aufgewachsen ist und nun selbst in Belfast lebt. Gerade im ersten Teil des Romans bekommen wir also einige Alltagseindrücke beschrieben. Alles andere als alltäglich sind die eingeschobenen Kapitel in Kursivdruck, die die Schicksale von ganz ungewöhnlichen Kindern mit angeborenen, übernatürlichen Fähigkeiten beschreiben. Diese Kinder leben unter den Menschen und müssen mit ihren ganz eigenen Problemen kämpfen. Jonathans Tochter scheint auch eine dieser Kinder zu sein, ist ihre Mutter doch eine Sirene gewesen. Ein weibliches Fabelwesen, welches durch ihren betörenden Gesang Männer anlockt, um sie zu töten. Die Mutter lockte jedoch Jonathan an, nicht um ihn zu töten, sondern um sich fortzupflanzen. Nun steht Jonathan mit seiner neugeborenen Tochter allein da und muss mit jedem ihrer Entwicklungsschritte befürchten, dass sie beginnt zu sprechen und damit die Bevölkerung Belfasts in Lebensgefahr bringen wird.

Carson schlüsselt durch die beiden Vaterfiguren, Sammy und Jonathan, auf, wie konfliktbeladen Vaterschaft ganz grundsätzlich, aber auch im Speziellen sein kann, wenn sich das eigene Kind als potentielle Gefahr für die Allgemeinheit herausstellt. Wie damit umgehen? Was tun als Vater, der sowohl das Beste für die Allgemeinheit aber auch für das eigenen Kind erreichen möchte? Wir folgen den beiden Protagonisten mithilfe von ganz unterschiedlichen Erzählperspektiven, die manchmal eine Ich-Perspektive sein kann, manchmal aber auch auktorial, wenn der Alltag der Bevölkerung in Belfast beschrieben wird. Letztlich fokussieren wir immer stärker auf die beiden Einzelschicksale und den entsprechenden Weg, den die Väter als Umgang mit der belastenden Situation für sich wählen. Das ist geschickt gemacht und überrascht einfach immer wieder.

Letztlich konnte mich das Ende von Sammys Erzählstrang nicht gänzlich überzeugen. Zu unplausibel erscheinen hier die Geschehnisse im Finale. Trotzdem ist der vorliegende Roman für mich die Überraschung des Jahres. Somit bekommt „Firestarter“ eine klare Leseempfehlung von mir für alle, die etwas Unerwartetes lesen möchten und gleichzeitig schon ein paar Vorkenntnisse zum Nordirlandkonflikt mitbringen, denn man sollte nicht erwarten, hier alle Zusammenhänge noch einmal erklärt zu bekommen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 29.09.2023

Eindrückliches Debüt der Nobelpreisträgerin

Sehr blaue Augen
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Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende ...

Aktuell erscheint im Rowohlt Verlag eine von Tanja Handels ins Deutsche überführte Neuübersetzung von Toni Morrisons Debütroman „The Bluest Eye“ aus dem Jahre 1970. Vervollständigt wird die vorliegende Ausgabe durch ein Vorwort der Autorin selbst aus dem Jahre 2008 sowie ein Nachwort der afrodeutschen Buchautorin, Journalistin und Podcasterin Alice Hasters.

Morrison erschafft in ihrem Roman eine kleine Welt in einem Ort an den Großen Seen gelegen (also nicht den Südstaaten!) um das Jahr 1940 herum. In dieser Welt kommen eigentlich kaum weiße Menschen vor, trotzdem strotzt hier alles vor Rassismus. Denn wie wir eindrücklich nach der Lektüre von Morrisons Roman wissen: Es braucht nicht unbedingt die physische Anwesenheit von Weißen, um das Joch des Rassismus auf eine Schwarze Gemeinde wirken zu lassen.

Die kleine Pecola Breedlove führt als Elf- bzw. Zwölfjährige ein Leben in Elend und Armut, ohne viel Liebe von ihren Eltern zu erfahren und gleichzeitig als Außenseiterin in dieser Gemeinde zu gelten. Über vier Jahreszeiten beginnend mit dem Herbst hinweg begleiten wir nun Pecola aus verschiedenen Erzählperspektiven heraus. Eine davon ist Claudia, die mit ihrer Schwester Frieda Wegbegleiterin von Pecola ist und uns bereits auf den ersten Seiten eine harte Wahrheit mitteilt, der wir uns bis zum Ende des Buches mit all seinen Ursachen und Auswirkungen annähern werden: Pecola wird ein Kind von ihrem Vater bekommen. Gleichzeitig ist Pecola diejenige, die sich mehr als alles andere wunderschöne blaue Augen wünscht. Sie gilt in der Gemeinde als hässlich, die blauen Augen, wie bei dem Kinderstar Shirley Temple, sollen Erlösung bringen. Klar ist, hier hängen die Erfahrungen der Vorfahren Pecolas mit ihrem schlimmen Schicksal ebenso zusammen wie mit ihrem Wunsch, blaue Augen zu bekommen.

In ihrem leicht fragmentarisch aufgebauten Roman, ein Aufbau, der übrigens später die Autorin selbst gestört hat an ihrem Debüt, nähert sie sich mithilfe von vielen Deutungsebenen einem afro-feministischen Thema an. Wie wirkt sich der von den Weißen im Rahmen der Kolonisierung und des Sklavenhandels implementierte und noch Jahrhunderte bis zum heutigen Tage aufrechterhaltene Rassismus auf die betroffenen Schwarzen Menschen aus. Dabei geht sie ganz stark in die Tiefe und schlüsselt auf, wie Selbsthass auf die eigene Erscheinung genauso entsteht wie auch Colorismus. Unter Colorismus versteht man die Diskriminierung aufgrund unterschiedlich dunkler Hautnuancen, welcher innerhalb der Schwarzen Gemeinde vorhanden ist. Sehr dunkle Hautfarbe wird dabei als hässlich und damit negativ konnotiert, während hellere Hauttöne erstrebenswert erscheinen und eher präferiert werden. Gleichzeitig arbeitet die Autorin stichhaltig heraus, inwiefern die Frauen im Gegensatz zu den Männern ganz besonders diskriminiert werden.

Dies ist eine Abwärtsspirale, die einmal in Gang gesetzt bis hinunter auf die psychologische Mikroebene schwerst Versehrte zurücklässt. Im vorliegenden Fall stellt Pecola exemplarisch diese Person dar, die der Maschinerie zum Opfer fällt und auf schlimmste Art und Weise bezahlen muss für etwas, was dieses unschuldige Kind definitiv nicht verbrochen hat.

Wie Morrison sowohl versteckt durch viele Andeutungen, Metaphern und manchmal auch erschreckend direkte Formulierungen diesen Roman soziologisch wie auch psychologisch absolut stimmig erschafft, zeugt bereits von dem Talent und Ehrgeiz, der sie später zum Nobelpreis führen wird. Manche Formulierungen wirkten – zumindest in der aktuellen Übersetzung, wie dies im Original aussieht, kann ich nicht beurteilen – ab und an etwas sperrig. Der Einstieg in den Roman fiel mir zunächst nicht ganz leicht, aber mit zunehmender Seitenzahl entwickelte er einen massiven Sog. Es gibt so viel hier in den Zeilen und zwischen den Zeilen zu entdecken, was sicherlich mithilfe eines Austauschs mit anderen Leser:innen besser zu zutage gefördert werden kann, als in der Einzellektüre.

Somit bekommt die Autorin für ihren meisterhaften Debütroman und der Verlag mit seiner ausführlichen Neuauflage von mir aufgerundet die volle Punktzahl. Eine wirklich dringend zu empfehlende Lektüre zum Thema Rassismus und seine Folgen bis in die Tiefen der Psyche der Betroffenen.

4,5/5 Sterne

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Veröffentlicht am 17.09.2023

Das Gaunermanifest

Die Regeln des Spiels
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Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits ...

Mit „Crook Manifesto“ (dt. Titel „Die Regeln des Spiels“) legt Colson Whitehead nach „Harlem Shuffle“ den zweiten Teil seiner „Harlem Trilogy“ vor. Somit begegnen wir hier erneut Ray Carney, den wir bereits aus dem Vorgängerroman kennen, ebenso wie andere Figuren, die man schon damals lieben oder hassen gelernt hat. Carney, der sich einige Jahre ganz ohne krumme Geschäfte allein auf sein Möbelgeschäft konzentriert hat, kommt in den 1970ern an und mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts wird er auch wieder in die Kriminalität gezogen. Der Auslöser passt zum amüsant-lakonischen Schreibstil Whiteheads: Seine Tochter möchte der The Jackson Five live sehen, die Tickets sind heiß begehrt und schon längst ausverkauft, also muss sich Carney an alte, halbseidene Kontakte wenden, um an die Tickets zu kommen. Dies setzt eine Spirale der Gewalt in Gang, die wir in drei Buchabschnitten mit dem bereits aus „Harlem Shuffle“ bekannten zwei bis drei Jahressprüngen nun miterleben.

Wie schon erwähnt, glänzt auch dieser Roman von Colson Whitehead mit einem großartigen Schreibstil zwischen amüsant-lakonisch, soziologisch-beobachtend und klug-knallharten Feststellungen. Sofort schafft es der Autor uns in das New York, oder spezieller das Harlem, der 1970er Jahre hineinzusaugen. Die Atmosphäre aus dem Versuch der Menschen zum sozialen Aufstieg und der zunehmenden Verwahrlosung des Viertels wird von Zeile eins an greifbar. Während die einen sich durch Korruption und die anderen mithilfe von Brandstiftung und Versicherungsbetrug die Taschen voll schlagen, verarmt die Masse und lebt in heruntergekommenen Häusern mit der ständigen Angst vor Drogen, Kriminalität, dem Abbrennen des eigenen Wohnblocks und der willkürlichen Polizeigewalt. Dazwischen befindet sich Ray Carney und sein väterlicher Freund Pepper. Carney sticht wie schon bekannt durch seine treffsicheren Beobachtungen zur Möbelauswahl an einem Ort des Verbrechens hervor; Pepper durch seine stoische Ruhe und gleichzeitig explosiv auftretende Gewalt. Beide Figuren wachsen der Leserschaft während des Romans richtig ans Herz, man ist voller Empathie, wenn nicht gar Sympathie, für die beiden. Denn Whitehead schafft es, dass niemand eindimensional „gut“ oder „böse“ dargestellt wird. Alle Figuren bewegen sich im Graubereich. Es wird nichts beschönigt und trotzdem merkt man den Figuren ihre Menschlichkeit an. Dies hat der Autor zur wahren Perfektion gebracht.

Inhaltlich erfahren wir unglaublich viel über die Zusammenhänge von städtebaulicher Entwicklung, Korruption,Fehlplanungen und schlechtem Handling durch die gewählten Volksvertreter. So wird ein Stadtviertel der Minderheiten, ebenso wie Teile Brooklyns und der Bronx, abgehängt, vernachlässigt und geht ganz nach dem „Broken Window“-Prinzip den Bach runter. Aber auch ganz dem Buchtitel (sowohl dem Original- als auch dem deutschen Titel) nach geht es darum, mit welchen Regeln das Spiel der Ganoven gespielt wird. So heißt es auf Seite 221:

„Man hatte eine Hierarchie des Verbrechens, des moralisch Akzeptablen und Nichtakzeptablen, ein Gaunermanifest, und wer sich an einen weniger strengen Kodex hielt, war eine Kakerlake. Ein Nichts.“

Und das Prinzip der Kriminalität auf höherer Ebene wird auf Seite 316 kurz und umso eindringlicher festgehalten:

„Nicht auszurottende Bestechung, wie die nicht auszurottende Brandstiftung. Ist es erst einmal in Gang gekommen, hört es nicht mehr auf.“

Fast alle meine Kritikpunkte am Aufbau des Romans haben sich in Luft aufgelöst als ich erfuhr, dass dieser zu einer Trilogie gehört und ein Abschluss der Reihe erst mit dem nächsten Roman von Whitehead zu erwarten ist. Die einzige, minimale Kritik an diesem ansonsten wirklich wie vom Autor gewohnt meisterhaft geschriebenen Roman: Ab und an gibt es kleine Längen im Text. Der Autor zeigt hier die Angewohnheit, häufig recht weit auszuholen und ausufernd zu berichten, wenn er eine Nebenfigur oder ein Szenario mithilfe von Rückblicken beschreibt. Das hat dann letztlich meist alles eine Funktion, trotzdem muss man sich da ein bisschen durchhangeln.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl ist zu Beginn noch an der ein oder anderen Stelle etwas holprig, in der Gesamtheit aber durchaus gelungen.

Somit kann ich die Lektüre des Romans definitiv empfehlen. Es ist allerdings ratsam zunächst „Harlem Shuffle“ zu lesen, da sehr viele Figuren aus diesem Vorgängerroman hier wieder auftauchen und manche Vorgänge als bekannt vorausgesetzt und nur noch einmal kurz umrissen werden.

4,5/5 Sterne

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