Geschichtenerzählen als Mittel des Überlebens
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Flüchtlinge aus u.a. Syrien, Irak, Afghanistan gewinnt das Buch an besonderer Aktualität und spricht vor allem all diejenigen an, die sich für die Geschichte Afghanistans ...
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Flüchtlinge aus u.a. Syrien, Irak, Afghanistan gewinnt das Buch an besonderer Aktualität und spricht vor allem all diejenigen an, die sich für die Geschichte Afghanistans in den 80er/90er Jahren unter dem weichenden Einfluss der Sowjets und den erstarkenden Taliban interessieren.
Das Schicksal ihrer Familie in dieser Zeit bereitet uns die ca. zwölfjährige Ich-Erzählerin Samar auf. Mit ihren Eltern und mehreren Geschwistern verlässt sie fluchtartig ihr Haus in Kabul, um bei den Großeltern in einem Bergdorf im unzugänglichen Hindukusch unterzukommen, wo sie die letzten glücklichen Jahre ihrer Kindheit verbringen darf. Dann wird die Familie nach dem Erstarken der Taliban und einem schlimmen Erdbeben auseinandergerissen und Samar begibt sich auf eine Odyssee in ein pakistanisches Auffanglager, dann nach Kabul und schließlich nach Tadschikistan, wo sie die Transsibirische Eisenbahn als blinder Passagier besteigt. Im Zug beginnt sie die Geschichte ihrer Familie niederzuschreiben, getreu ihrem Vornamen, denn Samar bedeutet Geschichtenerzählerin. Das Niederschreiben ihrer Erinnerungen gibt ihr Hoffnung und Mut durchzuhalten.
Angesiedelt ist die Geschichte auf mehreren zeitlichen Ebenen. Die Fahrt in der Transsibirischen Eisenbahn spielt in der Gegenwart. Von ihr wird auf die Vergangenheit zurückgeblendet. Die Zugfahrt hat eine ganz besondere Bedeutung, was der Leser aber erst nach geraumer Zeit erkennen kann. Nur so viel sei verraten – die Grenzen zwischen Realität und Fantasie werden flüssig. Aus Samars kindlicher Perspektive erzählt, lässt sich die Geschichte unschwer lesen, wenngleich es überhaupt nicht um leicht verdauliche Kost geht (Stichwort Gräueltaten der Taliban wie Steinigung einer vermeintlichen Ehebrecherin oder unmenschliche Zustände im Flüchtlingslager). Die gewählte kindliche Sichtweise lässt einen auch die verworrenen politischen Verhältnisse in Afghanistan mit seinen zahlreichen Gruppierungen verstehen, führt Samar doch schlicht und ihrem Verständnis entsprechend an sie heran. Eine Botschaft vermag das Buch hervorragend zu vermitteln: Alles ist möglich und es gibt Hoffnung, auch wenn alles ausweglos erscheint.
Das Buch bekommt von mir eine klare Leseempfehlung.