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Veröffentlicht am 13.12.2023

Die (nicht ganz) unerschütterliche Wahrheit der Zeugen Jehovas

Kein Teil der Welt
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Die Autorin Stefanie de Velasco wagt sich an eine Thematik, die vielen sicherlich zu heiß wäre, um darüber kritisch zu schreiben: Das Aufwachsen in der Weltuntergangssekte der Zeugen Jehovas. Für sie ist ...

Die Autorin Stefanie de Velasco wagt sich an eine Thematik, die vielen sicherlich zu heiß wäre, um darüber kritisch zu schreiben: Das Aufwachsen in der Weltuntergangssekte der Zeugen Jehovas. Für sie ist dieses Thema jedoch sehr nah, denn sie selbst lebte bis zum Alter von 15 Jahren in der Gemeinschaft und verließ diese dann im Jugendalter.

Dass de Velasco weiß, wovon sie schreibt, merkt man diesem Buch deutlich an. Mithilfe der Lebensgeschichte der jugendlichen Protagonistin Esther, welche im Rheinland geboren wurde und später direkt nach der Wende mit den Eltern in die fiktive ostdeutsche Stadt Peterswalde geht, um dort einen neuen Königreichssaal und damit auch eine neue Gemeinde von Jehovas Zeugen aufzubauen, erklärt de Valasco detailliert die Lehren und Gebräuche dieser sehr speziellen Glaubensgemeinschaft. Eine simple Erzählung dieses Aufwachsens wäre sicherlich schon interessant genug für einen Roman, die Autorin baut jedoch noch ein schicksalhaftes Ereignis, um welches sich Esthers Gedanken und letztlich ihr gesamtes Leben in Peterswalde herum bewegen. Stück für Stück erfahren wir, was am früheren Wohnort und in der dortigen Gemeinde vorgefallen ist, was Esthers Leben nachhaltig verändert hat. So springt die Ich-Erzählerin immer wieder gedanklich in die Vergangenheit, um diesem Trauma nachzuspüren.

Dieses Buch bietet in seiner süffigen, spannenden Erzählweise die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen der Menschen zu werfen, die viele Personen sicherlich nur aus der Fußgängerzone von Innenstädten kennen, wie sie unauffällig gekleidet mit ihren Traktaten dastehen und geduldig lächelnd darauf warten, neue Gläubige akquirieren zu können. Der Titel des Romans „Kein Teil der Welt“ kann nach der Lektüre nicht nur so verstanden werden, dass die Mitglieder der Zeugen Jehovas nicht nur nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind, sondern auch sich selbst als keinen Teil „der Welt“ ansehen. Denn „die Welt“ beschreibt alles außerhalb der Gemeinschaft und dieses Alles ist von Satan beseelt. Dieses Alles wird nach dem Harmagedon (der Apokalypse, dem Weltuntergang) nicht ins Paradies kommen, so wie Jehovas Zeugen, die „die Wahrheit“ kennen und zwar nur sie. So leben diese Menschen zwar unter uns, haben vielleicht weltliche Berufe, bleiben jedoch selbstgewählt stets unter einer Glasglocke, wie das Cover des Buches eindrücklich widerspiegelt.

Mit der mitreißenden Geschichte hat es de Velasco geschafft, dass ich mich eingehend mit dieser Glaubensgemeinschaft/Sekte beschäftigt habe und die Thematik noch lange und intensiv in mir nachhallt. Die Autorin beschwört außerdem die Atmosphäre nicht nur hinter den Mauern der Gemeinschaft sondern auch des fiktiven Ortes im Osten Deutschlands kurz nach der Wende, das viel beschriebene Vakuum und die Orientierungslosigkeit der Menschen, herauf. Der Roman ist solide geschrieben, hat aber kleinere Längen im Mittelteil sowie für mich nicht deutbare, einzelne, kurze Kapiteleinschübe, die eine nicht greifbare fantastische Geschichte, unabhängig vom eigentlichen Romangeschehen, erzählen. Was es damit auf sich hat, bleibt mir bis zum Schluss verschlossen. Ich konnte hier keinerlei Bezug zum eigentlichen Roman herstellen. Diesen gibt es bestimmt, aber er erscheint mir dann doch zu stark verborgen.

Insgesamt handelt es sich hier um einen spannenden Roman über die Kindheit und Jugend bei den Zeugen Jehovas, der nicht nur eine interessante Grundthematik behandelt, sondern auch im Kleinen die persönliche Geschichte Esthers mitfühlend erzählt.

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Ungewöhnliche Form, ungewöhnliche Geschichte

Singe ich, tanzen die Berge
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„Singe ich, tanzen die Berge“ ist ein Buch, in welches ich nicht ganz so einfach reinkam, was mich zwischendurch bei manch einem Kapitel nicht ganz abholen konnte, aber dann doch häufiger glänzte als enttäuschte.

Die ...

„Singe ich, tanzen die Berge“ ist ein Buch, in welches ich nicht ganz so einfach reinkam, was mich zwischendurch bei manch einem Kapitel nicht ganz abholen konnte, aber dann doch häufiger glänzte als enttäuschte.

Die katalanische Autorin Irene Solà packt in ihren zweiten Roman die Geschichte einer Familie und eigentlich eines ganzen katalanischen Bergdorfes über mehrere Generationen hinweg, im 20. Jahrhundert zeitlich verortet. Der Vater einer jungen Familie stirbt durch den Einschlag eines Blitzes. Das Interessante daran: Wir Leser:innen bekommen dies aus Sicht des Gewitters erzählt, erfahren aber später auch mehr aus Sicht des Vaters, später aus der seiner Frau, Kinder aber auch anderer Dorfbewohner über das weitere Leben der Familie nach Verlust des Vaters bis hinein in das Erwachsenenleben der Kindes- und Kindeskindergeneration. Immer wieder werden von Kapitel zu Kapitel dieses Buches die Erzählperspektiven gewechselt. Und zwar nicht nur, wie schon angedeutet, zwischen den menschlichen Protagonisten, sondern es kommt auch mal ein Rehbock, eine Hündin, Pilze oder ganz andere Entitäten und Naturphänomene zu Wort. Das ist nicht nur interessant gemacht, sondern sorgt auch für ein bisschen Rätselraten, wohin wohl die Reise in diesem oder dem nächsten Kapitel gehen wird. Auch die Rahmenhandlung um die Menschen des katalanischen Bergdorfes ist teilweise rätselhaft, nicht sofort weiß man beim Lesen gleich Bescheid, wer das jetzt eigentlich ist und in welcher (familiären oder anderweitigen auch mal ferneren) Beziehung diese oder jene Person zu schon bekannten Protagonisten steht. Manchmal eröffnet sich ein Zusammenhang erst einige Kapitel später. Das macht die Lektüre aber auch nie langweilig, sondern durchaus anspruchsvoll.

Zugegeben einige Kapitel konnten mich mehr begeistern, andere weniger. Im Mittelteil wird das Buch recht experimentell und auch sehr poetisch, ohne jetzt zu viel verraten zu wollen. Dort konnte es mich das Buch am wenigsten erreichen. Aber gerade das "Hunde"- und "Rehbock"-Kapitel gefielen mir sehr gut und konnten mich ob ihrer Beschreibungen wirklich erwärmen. Auch die Hauptgeschichte um die Menschen hat mich bis zum Schluss noch so richtig eingewickelt und ich fieberte im letzten Kapitel mit den Protagonisten stark mit.

Insgesamt handelt es sich hier um eine wirklich lesenswerte Lektüre. Man sollte jedoch grundsätzlich offen für die nicht lineare Erzählweise und auch sowieso für die verschiedenartigen Erzählinstanzen, sowie eine gute Portion „Sagenhaftes“ (katalanische, mystisch angehauchte Legenden spielen eine größere Rolle) sein. Dann wird die Lektüre auch zu einem sehr schönen, naturnahen Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Ungemein interessante Memoiren

»Neger, Neger, Schornsteinfeger!«
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Bis zum Erwerb des vorliegenden Buches war mir der Autor Hans-Jürgen Massaquoi vollkommen unbekannt. Warum nahm ich das Buch bei einem Bücherbasar mit? Ganz ehrlich, aufgrund des Titels. Natürlich schreit ...

Bis zum Erwerb des vorliegenden Buches war mir der Autor Hans-Jürgen Massaquoi vollkommen unbekannt. Warum nahm ich das Buch bei einem Bücherbasar mit? Ganz ehrlich, aufgrund des Titels. Natürlich schreit einen dieser in Deutschland altbekannte Spruch „Neger, Neger, Schornsteinfeger!“ förmlich an. Dem Autor wurde er hinterhergerufen als er seine Kindheit als „braunes Kind“ im Nazideutschland durchlebte.

Die hochinteressante Lebensgeschichte bzw. die Erinnerungen an seine jungen Jahre drehen sich bei Hans-Jürgen Massaquoi verständlicherweise um sein Selbstverständnis und der Umgang anderer Menschen sowie einem Gesellschaftssystem mit ihm als Sohn einer Deutschen und eines Liberianers. 1926 als uneheliches Kind der Liebe geboren, zog ihn die Mutter fortan allein groß. Lehrte ihm ihre weltoffenen aber auch immer strikten Moralvorstellungen und brachte ihn durch die 12jährige Naziherrschaft in Deutschland, speziell in Hamburg. Denn dort spielt der Großteil der Anekdoten, die Massaquoi zusammengetragen hat, um nicht nur die unerschütterliche Lieber seiner Mutter zu ihm und vice versa wiederzugeben, sondern auch die Verlockungen der Demagogie selbst für einen „nicht-arischen“ Jungen, die langsam aufkeimenden Zweifel am Nazisystem sowie das Überleben in einem Bombenkrieg. Dabei wird das Buch vor allem in der ersten Hälfte getragen von der liebevollen und liebevoll beschriebenen Beziehung zwischen Hans-Jürgen und seiner toughen Mutter. Der Stadt Hamburg wird fast schon für sich genommen ein Denkmal durch dieses Buch gesetzt und man erfährt ganz hautnah historische Ereignisse, die die Stadt für immer prägen sollten. Die Besonderheit, dass hier kein verfolgter Jude seine Memoiren aufschreibt, sondern ein Mensch mit dunkler Hautfarbe, der sich nicht vor den Nazischergen „tarnen“ konnte, macht die Geschichte zu etwas Außergewöhnlichem. Wenn dann dieser kleine Junge auch in die HJ eintreten will, aber abgelehnt wird, sich zur Wehrmacht melden will, aber abgelehnt wird und erst nach und nach feststellt, dass dieser Hitler keineswegs der anzuhimmelnde, deutsche Retter ist, als welcher er sich und seine Propagandamaschine ihn ausgibt, werden Geschichten erzählt, die man in der Form noch nirgends gelesen hat.

Erst gegen Ende des Buches kommt Massaquoi noch darauf zu sprechen, dass er zwei Jahre nach Ende des Krieges in das Heimatland seines Vaters, Liberia, reist, um diesen kennenzulernen, später in die USA geht, um dort auch noch fälschlicherweise zum Militär mitten zur Zeit des Koreakrieges einberufen zu werden. Eine Lebensgeschichte, die wahrscheinlich einmalig ist. Wir erfahren am Rande, dass Massaquoi später Chefredakteur des wohl wichtigsten Gesellschaftsmagazins der Schwarzen Bevölkerung der USA „Ebony“ wurde. Aber darum dreht sich das Buch nicht. Wie der Untertitel der deutschen Ausgabe verdeutlicht, geht es hier um „Meine Kindheit in Deutschland“. Ein sehr gut übersetztes Werk, deren deutsche Übersetzung vom Autor persönlich geprüft und für gut befunden wurde.

Mein einziger, kleiner Kritikpunkt an diesem unerwartet fesselndem Werk, sind die in der ersten Hälfte des Buches mitunter inhaltlich etwas sehr abrupten Sprünge zwischen den Anekdoten. Hier hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle mehr Reflexionen erhofft, um vielleicht an anderer Stelle die ein oder andere Anekdote zu kürzen.

Insgesamt handelt es sich hierbei jedoch um ein fraglos lesenswertes Buch, welches die Themen Nationalsozialismus, Rassismus, Stadtgeschichte und „typische“ Verfolgtenlebensläufe um eine neue, ungemein interessante Facette bereichert.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Scharfsinnige Betrachtungen über Mädchen als „2. Wahl“

Es ist ein Mädchen
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In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in ...

In ihrem autofiktionalen Roman lässt Camille Laurens ein Ende der 50er Jahre in Frankreich geborenes Mädchen (fast) alle Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten durchleben, die man als weibliches Wesen in dieser Welt zu dieser Zeit hätte erleben können. Laurence hätte ein Junge werden sollen und wurde dann doch nur (!) ein Mädchen. Sie wächst auf, in einer Welt, in der Mädchen weniger wert sind als Jungs, weniger ernst genommen werden, weniger geachtet sind. Nach verschiedensten negativ prägenden und mitunter auch traumatischen Erfahrungen wird ihr Selbstverständnis, ihre Sexualität, ja ihr ganzes Leben langfristig beeinflusst. So begleiten wir Laurence bis hinein in ihr Erwachsenenleben ,bis sie selbst Mutter wird und erneut vor der Frage steht: „Was ist es? Ein Junge oder ein Mädchen?“.

Gleich vorweg gesagt: Wenn man dieses Buch mit der Prämisse liest, dass „autofitkional“ nicht „autobiografisch“ heißt und vor allem, dass Camille Laurens hier sehr wahrscheinlich den Kunstgriff gewagt hat, so ziemlich jede Unaussprechlichkeit, die einem Mädchen und Frau passieren könnte, in die Lebensgeschichte von Laurence einzubauen, öffnet sich einem beim Lesen ein großartiges feministisches Manifest. Solange man versucht all die Erlebnisse gedanklich in ein „echtes“ Menschenleben zu packen, wirkt die Geschichte unglaubwürdig, wenn auch nicht komplett unwahrscheinlich(!). Dieses vorliegende feministische Manifest zeichnet sich aber nicht dadurch aus, dass es den heldenhaften Befreiungskampf einer Amazone zeigt, sondern vielmehr zeigt es die unglaublich vielen Demütigungen und Bedrohungen auf, denen – mitunter bis heute – Frauen ausgesetzt sind, einfach nur, weil sie eben nicht männlich sind.

So spielt die Autorin in ihrem Roman vor allem mit der Sprache und Perspektive, um diese Ungleichbehandlungen zu verdeutlichen. Und das tut sie durchaus mit Witz und präziser Beobachtungsgabe, was durch die Übersetzerin Lis Künzli überraschend gut ins Deutsche überführt worden ist. Die Erzählperspektive des ersten Kapitels setzt ein mit einem das Mädchen ansprechenden „Du“. Später wechselt die Erzählperspektive in eine „Ich“-Erzählstimme, um dann – nicht ohne Grund – zu einer von außen erzählenden, personalen Perspektive zu werden. So wechseln immer wieder im Roman diese Perspektiven durch. Der Clou an der Sache: Die Autorin kündigt diese Wechsel an indem sie auf die Metaebene geht, um den Lesenden zu verdeutlichen, was hier gerade geschieht, warum es gerade besser ist aus der personalen Perspektive zu erzählen. Das ist klasse gemacht und ist ein weiteres Indiz für das schriftstellerische Können der Autorin. Hier wird die Sprache und Form ein kongenial eingesetztes, kreatives Mittel. Toll!

Auf der inhaltlichen Ebene muss betont werden, dass alle dargestellten inneren Mechanismen, die Laurence‘ Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, auf fachlich-psychologischer Ebene Hand und Fuß haben. Das lässt Laurence, trotz der eher prototypischen Funktion als „eine Frau dieser Generation“, trotzdem zu einer authentischen Figur werden, die in sich geschlossen agiert. Und gerade diese Authentizität führte bei mir dazu, dass ich an einigen Stellen emotional aufgewühlt und erschüttert war und durchaus wütend wurde auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Genau das kann ein feministisches Werk, welches Misogynie aufzeigt, im besten Falle bewirken. Dass man wütend wird ob der Verhältnisse und eine Veränderung dieser einfordern möchte.

Zum Ende des Romans gibt es auch eine Tendenz genau dazu, zu zeigen, was sich mit dem Generationenwechsel schon zum Besseren verändert hat. Da geht es dann um Laurence‘ eigenes Kind und dessen Umgang mit Zwängen und Normen. Leider ist für mich dieser dritte und letzte Teil des Romans mit seinen 60 Seiten der Schwächste. Wobei das Meckern auf hohem Niveau ist. Die Autorin spricht hier durchaus wichtige und interessante Themen an, die sich aber wegbewegen von denen Laurence‘. Und dies ist dann einfach zu viel für das dünne Buch. Hätte die Autorin es bei der Fokussierung auf Laurence belassen, hätte der Roman für mich persönlich in sich geschlossener gewirkt.

Insgesamt ist und bleibt der Roman jedoch für mich eine Lektüre, die mich tief bewegen, mit ihrer sprachlichen und formellen Kreativität überzeugen konnte und letztlich in mir noch lange nachhallen wird. Definitiv kann ich „Es ist ein Mädchen“ für eine Lektüre empfehlen. Wem? Frauen, aber auch - und vielleicht sogar vor allem - Männern, denn das Buch macht einmal mehr deutlich, dass Männer durchaus auch Sorgen und Nöte haben, keine Frage, diese aber allein bezogen auf ihr im Geburtenregister eingetragenes Geschlecht in einer anderen Gewichtsklasse liegen, als die, mit denen Frauen über ihr gesamtes Leben hinweg aufgrund ihres biologischen Geschlechts zu kämpfen haben.

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Veröffentlicht am 06.12.2023

Dieses Buch wird nicht entfernt

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Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen ...

Müssen anstößige Beiträge auch aus Bücherforen entfernt werden? Wahrscheinlich nicht. Hier gibt es hoffentlich keine Gewalt gegen andere und sich selbst, Missbrauch, Tierquälerei und und und. Aber in Sozialen Netzwerken gibt es dies leider zuhauf und es braucht Menschen (sog. Content-Moderator:innen), die sich diese Kommentare, Bilder und Videos anschauen, um entscheiden zu können, ob ein Beitrag gelöscht wird oder nicht. Diese Menschen werden noch so lange benötigt, bis ein Algorithmus die mitunter heiklen Entscheidungen selbst treffen kann. Bis dahin, werden unzählige Arbeiter:innen traumatisiert sein.

Hanna Bervoets Roman beschäftigt sich mit genau diesen Menschen im Schatten der Sozialen Medien. Er stellt den Bericht einer ehemaligen Mitarbeiterin dar, die unter belastenden Bedingungen allerlei belastende Beiträge gesichtet hat, deren Kolleg:innen traumatisiert die Firma verlassen haben und welche nun eine Klage gegen den Konzern anstrengen. Kayleigh, besagte Ex-Mitarbeiterin, verweigert sich jedoch einer Beteiligung an der Klage. Warum, beschreibt sie in ihrem Bericht, der für den aufdringlichen Anwalt der Kläger gedacht ist. Eigentlich, um diesem zu erläutern, warum sie keinesfalls so traumatisiert ist, wie ihre ehemaligen Kolleg:innen. So lesen wir nun die 122seitige Schilderung Kayleighs mit großer Spannung und auch Anspannung, ob der beschriebenen Kettenreaktion, die die Aufnahme der Arbeitsstelle in der besagten Firma für Kayleighs Leben und das ihrer Nächsten hatte.

In diesem Buch geht es keinesfalls allein darum, Katastrophentourismus zu betreiben und möglichst viele abartige, verstörende und schreckliche Szenen des Internets und damit menschlicher Abgründe zu erforschen. Dieser Schrecken ist nur ein Nebenprodukt der Lektüre, sofern man bisher in seinem Leben um derartige Beiträge drum herumgekommen ist. Hauptsächlich geht es darum aufzudecken, unter welchen Bedingungen Menschen dafür sorgen müssen, damit die ahnungslosen Nutzer:innen diverser Plattformen ihr sorgenfreies Surferlebnis genießen können. Es geht um sog. sekundäre Traumatisierungen, dass diese nicht immer die bekannten Symptome von Alpträumen, Gereiztheit, Schlaflosigkeit etc. haben müssen, sondern sich auch ganz anders zeigen können. Und es geht um die Auswirkungen dieser sekundären Traumatisierungen auf die Betroffenen und deren Leben.

Sehr geschickt entwirft die Autorin hier einen Roman, der zwar mit wenigen Seiten und knappen Worten daherkommt, allerdings sehr präzise oben genannte Kettenreaktionen beschreibt. Die Idee das ganze als einen Brief an den Anwalt, mit welchem Kayleigh klarstellen will, dass sie keineswegs so traumatisiert ist, wie ihre Kolleg:innen, ist grundsätzlich sehr gut umgesetzt. Nur manchmal zwischendrin fragt man sich, ob eine Person tatsächlich so ausführlich auch private Ereignisse geschildert hätte, sodass das Ganze nicht mehr 100%ig authentisch in seiner Entstehungsgeschichte wirkt. Die Schilderungen als solches sind jedoch vollkommen authentisch und natürlich auch subjektiv, was sie noch authentischer wirken lässt. Denn daran liegt die Crux an dem Buch. Welche Wahrnehmung ist „die korrekte“, was ist hier wirklich passiert. Die Lesenden müssen sich selbst dazu ein Bild machen und auch um die Ecke denken können. Der Roman endet sehr abrupt, was zunächst unbefriedigend wirkt. Aber gerade das Ende macht sehr viel Sinn und führt zu einer noch tiefgreifenderen Beschäftigung mit diesem selten beleuchtetem Thema. Dass die Autorin weiß, wovon sie schreibt, kann man den Quellenangaben des Anhangs entnehmen. Wichtig ist hier auch die Erklärung der Autorin: „Dieser Roman ist ein Werk der Fiktion, die Figuren und ihre Erlebnisse sind frei erfunden. Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit sind jedoch alles andere als zufällig.“

Bervoets möchte die Schattenseite der digitalen Welt von Social Media Firmen anprangern und vor allem aufrütteln. Das hat sie meines Erachtens mit ihrem Roman eindeutig geschafft. Eindringlich schreibt sie über ein Thema, was selten beleuchtet wird, und verdient dafür ein großes Publikum. Eine unkonventionelle, äußerst empfehlenswerte Lektüre. Somit wird dieses Buch keinesfalls aus meinem Bücherschrank entfernt, sondern wird dort definitiv verbleiben.

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