Vom Gewicht des Verlustes und der Schuld des Überlebens
Suche liebevollen Menschen"Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und niemals, unter keinen Umständen, ein Zuschauer.“ Yehuda Bauer
Das es sich bei diesem Buch keinesfalls um leichte Kost handelt, verrät ein Blick ...
"Du sollst kein Täter sein, du sollst kein Opfer sein und niemals, unter keinen Umständen, ein Zuschauer.“ Yehuda Bauer
Das es sich bei diesem Buch keinesfalls um leichte Kost handelt, verrät ein Blick auf den Klappentext und das vorangestellte Zitat. Ich brauchte daher einige Tage für die gut 300 Seiten umfassende Lektüre. Der Schreibstil mit häufig verwendeten Satzfragmenten ist ein wenig gewöhnungsbedürftig, könnte jedoch der Übersetzung geschuldet sein.
Bereits die Einleitung macht neugierig auf die einzelnen Schicksale. Man spürt sofort an wie viel Mühe sich Julian Borger bei seiner Recherche, der Spurensuche der Schicksalsgeschwister, gemacht hat. Das folgende Zitat ist der Webseite JewishGen.org, entlehnt und repräsentiert teilweise die Beweggründe des Autors: „Wir können nicht in der Vergangenheit leben, und wir können sie nicht zurückfordern. ... Aber wir dürfen zulassen, dass die Erinnerung an die Vergangenheit uns prägt, unser Identitätsgefühl prägt und das prägt, was wir an künftige Generationen weitergeben."
Ich mag den eindrucksvollen Stil, der sowohl sachlich als persönlich ist und aus kurzen Annoncen sowie Erinnerungen Menschen samt ihrer Geschichten zu neuem Leben erweckt. Den roter Faden bildet über 12 Kapitel die Familienhistorie der Borgers - geschickt verwoben mit den Biografien weiterer Inseraten-Kinder und unter Bezugnahme auf das damalige Weltgeschehen. In jungen Jahren aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen, wurden sie auf sich allein gestellt von den Schrecken des Krieges erfasst.
Der persönliche Anteil verdrängt zunehmend die geschichtlichen Hintergründe. Trotz aller Entbehrungen und Verluste vermittelt die Geschichte Hoffnung in Form von unterschiedlichsten Lebenswegen und kleinen Wundern - obwohl die detaillierten Erinnerungen erschüttern. Den gemeinsamen Nenner bildet die Frage "Was wäre, wenn...?" Besonders die Schicksale von Manfred Schwarz und Lisbeth Weiss bewegen und stehen exemplarisch für die endlosen Gräueltaten: "Plötzlich ist man im Dunkeln eingeschlossen", schreibt Fred. „Die Lok pfeift, der Zug setzt sich in Bewegung. Wir sind unterwegs. Wohin?"
Ich würde das Werk als biografisches Sachbuch bezeichnen, welches zum Nachdenken anregt und Interessierten zu empfehlen ist. Borgers kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Verantwortung ist sowohl zeitgemäß als auch objektiv. Er stellt Fragen, die uns alle betreffen, und fordert uns auf, unser eigenes Handeln zu hinterfragen. Ich bin 38 Jahre alt und hoffe das dieses wichtige Buch dazu beiträgt, Verständnis und Mitgefühl zu wecken - denn: "Am Ende ist die Geschichte eines Lebens die Geschichte von Zufällen."