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Veröffentlicht am 29.01.2024

Vom Fliegen lernen

Waldfeder
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England in den 1950er Jahren: Quinn ist ein 16-Jähriger, der es gar nicht leicht hat. Er wird in der Schule schrecklich gemobbt und kann sich einfach nicht zur Wehr setzen. Doch er hat ein Geheimnis - ...

England in den 1950er Jahren: Quinn ist ein 16-Jähriger, der es gar nicht leicht hat. Er wird in der Schule schrecklich gemobbt und kann sich einfach nicht zur Wehr setzen. Doch er hat ein Geheimnis - er kann fliegen! Als die neue Schülerin Emily ihn dabei erwischt, ändert sich sein ganzes Leben. Die beiden erleben wunderbare Momente miteinander, doch Emilys Cousin Collin, der Quinns Hauptpeiniger ist, versucht dazwischen zu funken und ist dem Geheimnis dicht auf der Spur...

Tobias Heuers Roman "Waldfeder" kann ich gar nicht so richtig einem Genre zuordnen. Natürlich ist es fantastisch und teils märchenhaft, dass Quinn fliegen kann, aber die Welt, die sonst beschrieben wird, ist ziemlich realistisch. Der Autor hat es geschafft, mir ständig Denkanstöße zu liefern: ich habe mich ständig dabei ertappt zu denken - wie wäre das wirklich, wenn jemand fliegen könnte? Wie würde es ihm oder ihr in der Gesellschaft ergehen? Verstärkt haben dies noch die kleinen Kapitel, die eingeschoben werden und uns auf einen anderen Erzählstrang im Mittelalter führen, wo es ebenfalls um einen Jungen geht, der fliegen kann, der aber leider ertappt wurde und dafür sein Leben einbüßen musste. Wie sich diese Einschübe in die Geschichte fügt, wird erst am Ende aufgelöst. Der Schreibstil des Buches ist sehr einnehmend - oft blumig, oft getragen von teils ungewöhnlichen Metaphern. Was mich teilweise etwas genervt hat, ist, dass sich Quinn, obwohl er körperlich ziemlich fit ist, sich ständig von seinen Peinigern unterbuttern lässt, sich nicht zur Wehr setzt und die Situation so hinnimmt, wie sie ist. Im Nachwort lässt uns Tobias Heuer wissen, dass er selbst in seiner Schulzeit Mobbing ausgesetzt war und diese Info ließ mich alles relativieren - und reflektieren, denn als Selbstbetroffene muss ich mir eingestehen, mich auch nicht wirklich gewehrt zu haben... Ein weiterer Punkt, der mir längere Lesepausen beschert hat, weil ich es anstrengend fand: die handelnden Personen werden meines Erachtens sehr in gut und böse eingeteilt, wobei viele böse Charaktere einen Auftritt bekommen. Und Quinn ist auch etwas naiv, was ihn in größere Gefahren bringt... Trotzdem sind die guten Charaktere herzerwärmend und man fragt sich, warum es nicht nur solche Menschen geben kann.

Ich war also lange Zeit etwas zwiegespalten - bis dann das Ende kam: ich weiß nicht, ob ich jemals schon so einen überraschenden Ausgang einer Geschichte gelesen habe - ich bin hin und weg! Es lohnt sich also absolut, bis zum Schluss zu lesen!

Mein Fazit: Waldfeder ist ein kurzweiliger Roman über einen Teenager, der fliegen kann. Er teilt dieses Geheimnis mit seiner Liebe und gibt sich so großen Gefahren hin. Es gibt viel Ungerechtigkeit und schlechte Menschen, doch das überraschende Finale und der einnehmende Schreibstil des Autors lassen mich eine riesengroße Leseempfehlung aussprechen!

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Veröffentlicht am 29.12.2023

Kritischer, tiefgründiger und spannungsgeladener Islandkrimi

Höllenkalt
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Áróra ist halb Isländerin, halb Engländerin, wobei sie sich der britischen Insel verbundener fühlt. Sie arbeitet dort selbstständig als Ermittlerin für Wirtschaftskriminalität. Als ein Hilfeschrei ihrer ...

Áróra ist halb Isländerin, halb Engländerin, wobei sie sich der britischen Insel verbundener fühlt. Sie arbeitet dort selbstständig als Ermittlerin für Wirtschaftskriminalität. Als ein Hilfeschrei ihrer Mutter sie erreicht, dass ihre Schwester Ísafold in Island verschwunden ist, begibt sie sich dorthin auf Spurensuche. Sie entdeckt dabei, wie wenig sie doch von ihrer älteren Schwester weiß. Diese lebte in einer gewalttätigen Beziehung und schaffte es einfach nicht, sich von ihrem Tyrannen zu befreien. Doch was geschah mit Ísafold - hat sie sich etwa freiwillig dazu entschlossen, sich aus ihrer Geiselhaft zu befreien? Es beginnt eine kritische Jagd nach der Wahrheit, die Áróra oft an ihre Grenzen bringt...
Lilja Sigurdardóttir ist mit "Höllenkalt" ein spannender Islandkrimi gelungen, der es schafft facettenreich, tiefgründig und ab und an sogar philosophisch zu sein. Das Thema häusliche Gewalt wird aus Sicht einer Angehörigen beschrieben, die es oft nicht verstehen kann, weshalb eine Lossagung von der toxischen Beziehung nur schwer möglich ist. Ebenso wird eine schwierige Familiengeschichte betrachtet. Sigurdardóttir greift weitere gesellschaftskritische Themen wie Flucht und psychische Erkrankungen auf und packt sie gekonnt in eine Kriminalgeschichte. Die Lesenden können unterschiedliche Blickwinkel der Ereignisse miterleben - in kurzen Kapiteln werden verschiedene Perspektiven unterschiedlicher Handelnder eingenommen. Manchmal wird sogar aus der Ich-Perspektive der Hauptprotagonistin erzählt, wenn sie sich mit ihrer Familienvergangenheit auseinandersetzt. Erstaunlich kritisch geht die isländische Autorin mit ihren Landsmännern und -frauen um, unterstellt ihnen u.a. Disziplinlosigkeit und besonders isländische Männer werden für ihren Sexismus gerügt. Wie bei den meisten isländischen Krimis nehmen die spezielle Landschaft und die Wetterverhältnisse Islands eine besondere Rolle ein, auch der Glaube oder Nicht-Glaube an Elfenwesen wird thematisiert. Die Charaktere werden authentisch und detailliert beschrieben, sodass es mir hervorragend ermöglicht wurde, mich in diese hineinzuversetzen. Besonders Áróra wird vielschichtig gezeichnet und es ist fesselnd, sie in ihrer Gefühlswelt zu begleiten. Die Spannung, was den Fall angeht, bleibt bis zum Schluss erhalten, es besteht ausreichender Raum für Spekulationen und letztendlich war doch alles anders, als gedacht – genau so sollte es bei einem guten Krimi sein!

Mein Fazit: ein erfrischender Island-Krimi ohne tatsächliche Ermittler/innen, der facettenreich, tiefgründig und gesellschaftskritisch ist. Ich gebe eine absolute Leseempfehlung aus und freue mich schon auf den bald erscheinenden zweiten Teil dieser Trilogie!

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Veröffentlicht am 25.12.2023

Die dunklen Flecken in der eigenen Geschichte

Himmel voller Schweigen
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Walter Frick lebt in einer Zeit der großen Veränderungen - als junger Dirigent erlebt er das Aufblühen des Nationalsozialismus. Er hat zwei große Träume: als Dirigent groß zu werden und "sein" Luischen ...

Walter Frick lebt in einer Zeit der großen Veränderungen - als junger Dirigent erlebt er das Aufblühen des Nationalsozialismus. Er hat zwei große Träume: als Dirigent groß zu werden und "sein" Luischen zu heiraten. Während ihm letzterer erfüllt wird, bleibt ihm ein langfristiges Engagement als erster Kapellmeister verwehrt. Seine Schwester Hedwig hingegen kämpft mit dem Unwillen ihrer Familie, ihre Freundes- und Männerwahl zu akzeptieren. Schlussendlich setzt sie ihren Kopf durch, eine Entscheidung, die ihrem Bruder Walter zum Verhängnis wird...

Julia Gilfert arbeitet in ihrem Buch "Himmel voller Schweigen. Fragmente einer Familiengeschichte" ihre eigene Familiengeschichte auf. Dabei wendet sie ein besondere Technik an: sie durchforstete zahlreiche Egodokumente, wie Tagebucheinträge und Briefe, die erhalten geblieben sind, und zeichnet in fiktionaler Erzählform die Lebensgeschichte ihres Großvaters Walter Frick sowie dessen nahem Familienumfeld nach. Lesende erfahren von seiner Leidenschaft für Musik und seinem Ehrgeiz erster Kapellmeister zu werden. Auch seine Liebe zu der Sängerin Luise wird intensiv thematisiert. Zudem verfolgen wir die Entwicklung seiner Schwester Hedwig, die erst - ganz rebellisch - keine fixe Beziehung eingehen will, aber eine Freundschaft zu Armin führt, die ihre Familie nicht gut heißt, denn der Glaube, dass ein Mann und eine Frau keine Freundschaft führen können, sitzt tief.

Die Autorin schafft es, die Gedankenwelt der beiden Hauptpersonen - Walter und Hedwig - so zu beschreiben, dass sich die Lesenden intensiv in sie hineinfühlen können. Die Erzählung springt dabei in der Zeit und immer wieder nimmt uns Julia Gilfert auch in die kurz zurückliegende Vergangenheit mit, um uns an ihrer Spurensuche teilhaben zu lassen. Wir erfahren dabei, wie sie ihre Recherchen angegangen ist und wie sie hoffte, durch die Besichtigung von "Schauplätzen" ihrer Familiengeschichte näheren Bezug zu ihrem Großvater und dessen Angehörigen herzustellen. Das Buch enthält viele Fotographien und Abbildungen von Quellen, die alles noch lebendiger erscheinen lassen. Einige Auszüge aus zeitgenössischen Berichten werden auch direkt in die Erzählung mit eingebaut. Im zweiten Teil des Werkes sind dann verschieden Egodokumente transkribiert abgedruckt, die es ermöglichen, den Blick differenziert und selbst einschätzend auf die handelnden Personen zu werfen.

Besonders beeindruckend finde ich, dass sehr gut nachgezeichnet wird, wie vielfältig die einzelnen Handelnden sind - dass sie nicht einfach nur gut oder böse sind, sondern Menschen mit unterschiedlichen Emotionen, die die Zeit unterschiedlich wahrnahmen und sich unterschiedlich entwickelten. Einfühlsam und achtsam zeigt die Autorin die grausame Realität auf, nämlich, dass (beinahe) alle das System Nationalsozialismus auf die eine oder andere Weise mit gestützt haben. Erschreckend - aber auch nicht ungewöhnlich - wird beschrieben, wie das Schweigen über Walter und sein Schicksal über Jahrzehnte angehalten hat. Die Leser:innen können sich durch die Vermischung von echten Erinnerungsstücken und fiktiver Erzählung ihr eigenes Bild über die Protagonisten machen.

Mein Fazit: eine absolute Leseempfehlung! Die besondere Art, wie Julia Gilfert ihre Familiengeschichte aufarbeitet, indem sie echte Zeitzeugendokumente und Fiktion ineinander verschränkt, macht "Himmel voller Schweigen" zu einer lebendigen und intensiven Erzählung, die noch lange in Erinnerung bleiben wird.

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Veröffentlicht am 14.12.2023

Die Kunst der Selbstfindung

Nathan Kantereit
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Nathan Kantereit ist Einzelgänger und er liebt seine Arbeit in der Nationalgalerie - vor allem wegen eines Gemäldes von Renoir, dass die Schönheit Clara zeigt. Er kann an nichts anderes denken als an Clara ...

Nathan Kantereit ist Einzelgänger und er liebt seine Arbeit in der Nationalgalerie - vor allem wegen eines Gemäldes von Renoir, dass die Schönheit Clara zeigt. Er kann an nichts anderes denken als an Clara und tagträumt von ihr und ihren herbeigedachten Begegnungen. Eines Tages jedoch wird das Gemälde aus der Ausstellung entfernt und nach Italien verschickt. Nathan ist außer sich, gerät in Panik ob der Angst, Clara nicht mehr nahe sein zu können, also beschließt er kurzerhand ihr nachzureisen. Das erste Mal in seinem Leben tritt er alleine eine Reise an, getrieben von dem unbändigen Wunsch, sie wieder zu sehen. Schnell wird sein spontanes Abenteuer zu einer Selbstfindung, die Nathan die Welt auf eine ganz neue Art wahrnehmen lässt.

Co Winterstein zeichnet in Nathan Kantereit ein gefühlvolles Bild von der Liebe eines Mannes zu einem Gemälde. Das mag auf den ersten Blick traurig klingen, mit der wunderschönen Sprache der Autorin und der tiefgehenden Betrachtung von Nathans Wahrnehmung der Welt jedoch wird die Erzählung zu einem wohlig warmen Lesegenuss. Ich interpretiere die Geschichte auch als Erinnerung an alle, dass es sich durchaus lohnen kann, Ängste zu überwinden, Gewohnheiten zu hinterfragen und durch Leidenschaft oder Liebe neue Sichtweisen auf die Welt zu gewinnen. Nathan scheint aus der Zeit gefallen zu sein und in einer selbstgewählten Isolation zu leben, doch durch seine Liebe zu Clara wächst er über sich selbst hinaus. Kunst spielt in der Novelle eine wichtige Rolle, aber es geht nicht darum, sich in der Kunstwelt auszukennen, sondern darum, welchen Halt sie Menschen geben kann. Der Schreibstil wirkt entschleunigt und poetisch, es gelingt der Autorin die Figur Nathan so zu zeichnen, dass sich der oder die Lesende in seine Gedanken- und Wahrnehmungswelt hineinversetzen und mitfühlen kann. Abgerundet wird dieses kleine literarische Kunstwerk durch die wunderschönen Bilder, die dem Band der Künstler Till Gerhard beigesteuert hat.

Mein Fazit: eine absolut lesenswerte, kunstvolle Novelle, die den Leser*innen ein Lächeln ins Gesicht und ins Herz zaubert!

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Veröffentlicht am 13.12.2023

Die Archäologie der Erinnerungen

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
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Doris Knechts namenlose Protagonistin stellt in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" fest, dass sie viele Begebenheiten ihres Lebens tief ins Un(ter)bewusste vergraben hat. In ...

Doris Knechts namenlose Protagonistin stellt in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" fest, dass sie viele Begebenheiten ihres Lebens tief ins Un(ter)bewusste vergraben hat. In einer Phase des Umbruchs - ihre Kinder werden flügge, weshalb sie sich auf die Suche nach einer anderen, leistbaren Wohnung machen muss - gräbt sie ihre Erinnerungen aus und entdeckt nach und nach, was sie zu der Person machte, die sie heute ist.

Der neue Titel von Doris Knecht lockt mit einem ansprechenden Titel und Cover - es lässt sich erahnen, dass auch ein Hund eine gewisse Rolle in dem Roman spielen wird. Die Story wird autofiktional erzählt. Die gewählte Sprache erschien mir anfänglich sehr galoppierend, doch gewöhnte ich mich schnell an das Tempo und rasch konnte ich mich in die Titelfigur hineinversetzen. Die einzelnen Kapiteln sind mit einem eingängigen Header tituliert und halten sich meist recht kurz, was das Buch zusätzlich sehr kurzweilig macht. Die Plots sind nachvollziehbar, aber spannend und durchaus humoristisch. Die Hauptprotagonistin lässt die Leserinnen in fesselnder Art und Weise an der Entdeckung ihres Vergessenen teilnehmen. Treffend analysiert sie dabei ihre Beziehung zu ihrer Familie, ihren Kindern, ihren Freundinnen und auch zu den Männer, die in ihrem Leben immer wieder auftauchten. Lediglich der Kindsvater wird eher ausgeklammert und auch die Tatsache, dass ihr Hund nur "der Hund" genannt wird, wirkt etwas unpersönlich.

Ich hätte gerne noch viele Seiten mehr an dem Leben der Protagonistin teilgenommen, so sympathisch ist sie mir geworden. Von Beginn an schafft es die Autorin ein Kopfkino bei der bzw. dem Leser*in zu starten. Das Buch hinterlässt ein wohliges Gefühl und ist definitiv ein Werk, was mir in Erinnerung bleiben und in Zukunft erneut gelesen wird.

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