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Veröffentlicht am 03.05.2024

Eine vielfältig informative Reise in die chinesische Kultur und ein wertvoller Ratgeber

Ein Chinese sagt nicht, was er denkt
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In „Ein Chinese sagt nicht, was er denkt“, nimmt Christian Emil Schütz uns auf eine ungewöhnliche und faszinierende Entdeckungsreise. Er schildert seine Zusammenarbeit mit Chinesen, die er 2009 ohne kulturelles ...

In „Ein Chinese sagt nicht, was er denkt“, nimmt Christian Emil Schütz uns auf eine ungewöhnliche und faszinierende Entdeckungsreise. Er schildert seine Zusammenarbeit mit Chinesen, die er 2009 ohne kulturelles Vorwissen einging und bis heute aufrechterhält. Die Leser sind bei seinen zahlreichen Lernprozessen direkt dabei und so bietet dieses Buch nicht nur ungemein wertvolle Informationen über die chinesische Kultur und die sich daraus ergebenden Herausforderungen, sondern vermittelt diese auf eine hautnahe und praktische Weise. Damit sticht das Buch aus dem Großteil interkultureller Ratgeber angenehm heraus.

Es ist hochwertig gestaltet, der feste Einband überzeugt haptisch und visuell, ebenso wie der ansprechend gestaltete Umschlag und das Lesebändchen. Jedem Kapitel ist ein passendes, gut gewähltes Zitat vorangestellt, hinten im Buch finden sich einige Literaturverweise und eine Übersicht der 36 Strategeme. Man merkt, in dem Buch steckt viel Sorgfalt und Hingabe.

Inhaltlich geht es vor allem um die Erfahrungen, die Schütz beim Aufbau und der Führung seines Unternehmens mit seinem chinesischen Geschäftspartner sowie chinesischen Mitarbeitern machte. Einige Reiseschilderungen und ein Exkurs zu russischen Erfahrungen des Autors bieten auch privatere Einblicke, sowohl in das Leben des Autors wie auch in die Länder China und Russland.

Das läßt sich alles leicht lesen, der Stil ist praxisnah und eingängig. Leider wird der Lesefluss durch Gendern beeinträchtigt, was hier vorwiegend (das Gendern ist nicht einheitlich gehandhabt) mit der besonders unerfreulichen Form des Gendersternchens geschieht und anhand der hier häufig vorkommenden Begriffe die Unzulänglichkeiten dieser Form aufzeigt, denn Worte wie „Chines“ und „Ärzt“ (wie es sich ohne Sternchenzusatz liest) gibt es schlichtweg nicht.

Die Formulierungen sind überwiegend gut, insgesamt hätte dieses informative Buch von einem sorgfältigen Lektorat profitiert. Die Zeitformen werden häufig durcheinander gewürfelt und die Vorvergangenheit nicht immer dann verwendet, wenn sie notwendig wäre. Das führte manchmal bei mir sogar zu Verständnisschwierigkeiten, weil nicht klar war, ob das Berichtete in der Vorvergangenheit stattgefunden hatte oder nicht. Auch relevante Informationen fehlen gelegentlich oder werden nur angerissen, während es andererseits öfter Wiederholungen gibt oder sich Absätze finden, die inhaltlich nicht ganz passen und hereingeschoben wirken. Das sind letztlich Kleinigkeiten, die nicht zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Lesevergnügens führen, sich aber in der Häufigkeit doch bemerkbar machen und für mich einen Wermutstropfen darstellten.

Inhaltlich kombiniert der Autor Theorie und Praxis hervorragend. Durch Schilderung seiner eigenen Erlebnisse erfahren wir eine Vielzahl konkreter Situationen, die vom Familienalltag bis hin in die Unternehmensführung reichen. Diese werden dann mit dem entsprechenden Hintergrundwissen aufgelöst. In einer Situation, in der nicht endgültig geklärt werden konnte, was eigentlich hinter dem Verhalten steckte, schildert Schütz uns seine Eindrücke in Verbindung mit seinem Wissen über die chinesische Kultur und kommt so zu einer nachvollziehbaren, gut dargelegten Schlussfolgerung. Er erlangt sein Wissen im Laufe der Jahre durch verschiedene Quellen, und anhand des Buches erleben wir das mit. Trocken wird es nie, immer sind die Informationen fundiert und gleichzeitig unterhaltsam, decken auch Historisches und sogar Touristisches ab, schildern auch berührende Lebenswege. Die Vielfalt ist erstaunlich und interessant. Nur die manchmal mit erhobenem Zeigefinger dargebrachten Meinungen des Autors zu manchen politischen Themen und dazu, wie Menschen sich im Allgemeinen verhalten sollten, fand ich im Rahmen des Themas entbehrlich.

Gelernt habe ich eine ganze Menge – und das, obwohl ich als interkulturelle Trainerin über einiges Vorwissen verfügte. Die mir bekannten Punkte sind zutreffend und farbig geschildert, die mir unbekannten Punkte wurden nachvollziehbar und ebenfalls interessant erläutert. Ich habe insbesondere den praxisbezogenen, selbsterlebten Fokus genossen. Dieses Buch ist für jeden, der mit Chinesen beruflich oder privat zu tun hat, ein äußerst wertvoller und interessanter Ratgeber.

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Veröffentlicht am 10.04.2024

Als Einführung und bei leichten Schlafstörungen hilfreich

Schlaf - Das Elixier des Lebens
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Als jemand mit einer über zwanzigjährigen „Karriere“ im Bereich Schlafstörungen bin ich ständig auf der Suche nach hilfreichen Informationen. Die gängigen, für mich leider nicht hilfreichen, Ratschläge ...

Als jemand mit einer über zwanzigjährigen „Karriere“ im Bereich Schlafstörungen bin ich ständig auf der Suche nach hilfreichen Informationen. Die gängigen, für mich leider nicht hilfreichen, Ratschläge kann ich mittlerweile herunterbeten und habe sie auch alle ausprobiert. An diesem Buch zog mich nun das Versprechen einer „revolutionären Schlafformel“ an, sowie die Tatsache, daß es sich bei den Autoren um Schlafmediziner mit umfangreicher und langjähriger Erfahrung handelt.
Meine Hoffnung, hier neue und/oder etwas tiefergehende Erkenntnisse zu erlangen, wurde leider nicht erfüllt. Dieses Buch ist ein fundierter, angenehm geschriebener Schlafratgeber, aber eben leider einer wie unzählige andere auch. Der Schreibstil ist erfreulich, wenn man mal von den leseflussunfreundlichen Doppelnennungen wie „Patientinnen und Patienten“ oder etwas albern klingenden künstlichen Begriffen wie „Schnarchende“ anstelle von „Schnarcher“ absieht. Auch die optische Gestaltung ist ansprechend und legt Wert auf Übersichtlichkeit.
Den mit 61 Seiten mit Abstand längsten Abschnitt nehmen allgemeine Informationen über den Schlaf ein, die z.B. darlegen, warum wir schlafen, welche Hormone eine Rolle spielen, welche Schlafpositionen und welche Schlaftypen es gibt. Dies wird alles zugänglich und verständlich geschildert, aber von recht wenig praktischem Wert für Leute mit Schlafstörungen, die ohnehin aus ureigener, schmerzlicher Erfahrung wissen, wie wichtig Schlaf ist, und denen die Sicht auf Träume während der Renaissance oder das Persönlichkeitsprofil von Seitenschläfern bei ihrem Problem wenig hilft. Allerdings finden sich auch hier schon immer wieder kleine Hinweise und Tips eingestreut. An sich ist ein allgemeiner Teil eine gute Idee, nur ist er hier im Verhältnis zum restlichen Inhalt wesentlich zu ausführlich ausgefallen. Wer sich für derlei Grundlagen interessiert, wird sie hier anschaulich und fundiert dargelegt finden.
Der zweite Teil, mit knapp über 40 Seiten, geht dann auf die verschiedenen Schlafstörungen ein. Hier fanden sich einige Fallbeispiele, über die ich mich sehr gefreut habe, denn es war u.a. diese direkte Erfahrung der Autoren in ihrem Beruf, die mich neugierig gemacht hatte. Auch zum Thema Schlafmittel und Alkohol findet sich hier Informatives. Erneut erfreut der zugängliche Schreibstil, der nie von oben herab wirkt. Im Vergleich zu dem sehr umfangreichen ersten Teil wird hier aber vieles knapp gehalten. Mehr Fallbeispiele hätten weitergehende Einblicke aus Betroffenensicht und in Behandlungsmöglichkeiten geben können. Auch schwerere Fälle kommen hier so gut wie nicht vor – es wird zutreffend erwähnt, daß dann ein Schlafmediziner hinzugezogen werden soll, und natürlich erwartet niemand, daß ein Buch einen Schlafmediziner ersetzt, aber hier hätten die beiden Autoren schlichtweg mehr von ihren Erfahrungen mit schwereren Fällen berichten und die arg ausgetretenen Bahnen von „kein Handy und kein schweres Essen vor dem Schlafengehen, ein ruhiges Zimmer und Lavendelöl“ etwas erweitern können. So las ich letztlich das, was ich schon unzählige Male gelesen habe.
Der letzte Teil widmet sich auf etwa vierzig Seiten dann endlich der „revolutionären Schlafformel“. Diese ist durchaus fundiert und bei leichten Schlafstörungen sinnvoll, enthält aber nichts Revolutionäres. Für Schlafproblemerfahrene wird dieser Ratgeber m.E. kaum etwas Neues beinhalten. Das Enthaltene ist aber sehr erfreulich formuliert, fundiert und zudem mit Übersichten ansprechend präsentiert.
Weitergehende Probleme werden hier angesprochen, allerdings nur sehr kurz. Natürlich ist zu beachten, daß es sich bei dem Buch um einen Kompaktratgeber handelt, aber die Gewichtung stimmt hier für mich nicht. Der Großteil des Buches widmet sich Hintergrundinformationen, die für Betroffene keinerlei praktische Hilfe bieten, während der praktische Teil zu kurz kommt und zudem letztlich das darlegt, was man an vielen anderen Stellen erfahren kann. Hier wurde für mich die Chance verschenkt, durch zwei praxisorientierte Fachleute Erfahrungswerte, Fallbeispiele und Ratschläge zu bekommen, die ein wenig über das Übliche hinausgehen und Menschen mit schwereren Schlafstörungen mehr Handhabe und Orientierung liefern. Wenn der überlange erste Teil um zehn Seiten gekürzt und dieser Raum dafür genutzt worden, dann wäre das hier ein Buch geworden, das aus den üblichen Schlafratgebern heraussticht und das besondere Wissen der Autoren hervorragend genutzt hätte. Die Chance wurde nicht genutzt. So ist es ein verständlich geschriebener, gut gestalteter Ratgeber von vielen, mit einer Vielfalt von Informationen für Leute mit leichten Schlafstörungen oder Leute, die sich mit dem Thema noch nicht befasst haben.

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Veröffentlicht am 28.03.2024

Hervorragender Schreibstil, inhaltlich leider etwas kurz gehalten

Gussie
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Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil ...

Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil hat mich dann gleich gefangengenommen und so ging ich die Lektüre mit hohen Erwartungen an, die auch fast vollständig erfüllt wurden.
Die Gestaltung des Buches ist hinsichtlich Einband und Vor- sowie Nachsatz ansprechend. Auf dem Titel findet sich ein Portrait Gussie Adenauers, welches wir dann im Vor- und Nachsatz als größeres Gemälde sehen, wodurch die Leser gleich einen visuellen Eindruck erhalten. Im Buch fand ich das etwas raue Papier weniger angenehm, aber das ist letztlich zweitrangig.
Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. 1948 liegt die sterbende Gussie in ihrem Krankenhausbett und blickt auf ihr Leben zurück, welches dann in der zweiten Zeitebene ab 1915 erzählt wird. Die 1948-Szenen sind ausgesprochen schmerzhaft. Dieses stille Sterben, die Resignation, die über allem hängt, das melancholische Ergeben ins Schicksal und auch die Trauer der Umgebung sind mit wenigen wohlgesetzten Worten einfach wundervoll erzählt. Ich sah mich geradezu mit in diesem Krankenzimmer und spürte Trauer über dieses zu früh endende Leben nach Jahren des Leids in der Nazidiktatur. Die rührenden Briefauszüge verstärken dieses schwermütige Gefühl und sind überhaupt hervorragend eingesetzt.
Vor jedem Kapitel findet sich ein solcher Auszug aus Briefen an oder von Gussie. Diese passen immer ausgezeichnet zum Kapitel und mir gefielen sie im Buch mit am meisten, weil man so einen direkten Zugang zu den Menschen bekam. Ich war enttäuscht, im Nachwort zu lesen, daß es sich gar nicht um echte Briefauszüge handelt. Sie sind laut Autor zwar dem Ton der wirklichen Briefe nachempfunden, aber es wäre wesentlich authentischer gewesen, dann auch die wirklichen Auszüge zu nehmen. Leider wird auch nicht erklärt, warum dies nicht getan wurde.
Die Kapitel über Gussies Leben sind vignettenhaft. Wir erhalten kurze Einblicke, zwischen denen oft recht viele Jahre liegen. Das hat mir von der Konzeption her weniger gefallen. Die Ehejahre vor 1933 werden ausgesprochen kurz abgehandelt. Das mag natürlich daran liegen, daß es vielleicht nicht so viel zu berichten gab, aber dieser Vignettenstil verhinderte es für mich, mich den Charakteren zu nähern, auch hätte ich gerne ein umfassenderes Bild erhalten. Abgesehen von Gussie blieben mir dann auch alle anderen Charaktere recht fremd, was ich bedauerlich fand. Ab 1933 werden die Kapitel länger und dichter, aber auch hier wurde vieles zu kurz abgehandelt, über das ich gerne mehr gelesen hätte. Auch dem Verständnis mancher Situationen wären etwas mehr Hintergründe hilfreich gewesen. Dagegen gab es einige langatmige Passagen, insbesondere das Privatleben der Krankenschwester Gussies fand ich in diesem Rahmen höchst entbehrlich – gerade weil ich so viel lieber mehr über Gussie und Konrad Adenauer gelesen hätte. Es gibt viele Bücher, die sich in sich selbst verlieren und denen 50 Seiten weniger guttun würden – „Gussie“ hätte mir mit etwa 50 Seiten mehr noch besser gefallen.
Der Schreibstil ist eine wahre Freude. Christoph Wortberg kann mit Worten umgehen. Er schreibt reduziert und gleichzeitig wortgewaltig. Alle Szenen sind sehr anschaulich, schaffen Atmosphäre, lassen die jeweiligen Orte vor unseren Augen auferstehen. Gerade das Atmosphärische ist ausgezeichnet gelungen. Die Bedrohung durch die Nazis, ihre perfiden, widerlichen Methoden, die immer lastende Angst werden so hervorragend dargestellt, daß das Lesen oft beklemmend wird. Man merkt auf jeder Seite, daß hier ein Autor mit Können am Werk ist.
Ich habe aus diesem Buch viel gelernt und mich an der gelungenen Sprache erfreut. Eine bereichernde Lektüre.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Fundierte, menschlich berührende und ausgewogene Betrachtung

Zeit der Schuldigen
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In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. ...

In „Zeit der Schuldigen“ greift Markus Thiele den Mord an Frederike von Möhlmann auf, der durch eine Ende Oktober 2023 erfolgte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wieder neue Aktualität erlangte. Die menschlichen Auswirkungen dieser durchaus fragwürdigen Entscheidung und eines manchmal ungerechten Rechtssystems zeigt Thiele in diesem Buch sehr nachdrücklich und vielfältig auf. Während der Autor sich hinsichtlich der Entwicklung des Falles und dessen juristischer Betrachtung eng an den wahren Fall hält, hat er alles andere fiktionalisiert. So entspricht auch die Beziehung zwischen Mordopfer und Täter der Fiktion, auch die Ermittler sind fiktive Personen.
Thiele entwickelt diese fiktiven Charaktere sehr ausführlich, was einerseits von Sorgfalt zeugt, andererseits für mich viele Szenen aber auch zu langatmig wirken ließ und zudem den Fokus manchmal zu sehr vom eigentlichen Fall wegnimmt. Gerade der Handlungsstrang der emotional instabilen Ermittlerin Anne, die den unbestraften Täter Jahrzehnte später entführt, ist im letzten Drittel des Buches sehr dominant, war für mich etwas zu übertrieben und behandelte dann zudem auch noch Annes Beziehungsleben, was ich überflüssig und teils auch etwas zu klischeehaft fand. Auch sonst waren mir manche privaten Hintergründe und philosophischen Betrachtungen zu ausführlich. Am besten fand ich den Mittelteil des Buches, der sich auf das Wesentliche konzentriert und die Geschichte für sich selbst sprechen läßt.
Insgesamt liest sich der Schreibstil aber erfreulich fundiert, flüssig und farbig. Der Autor ist Jurist, das macht sich angenehm bemerkbar. Er bietet uns einen sehr unmittelbaren Blick in die Ermittlungsarbeit und insbesondere die rechtliche Behandlung. Thiele hat nicht nur die Erfahrung und das Wissen zu dieser Thematik, er vermittelt sie zudem gekonnt und unterhaltsam. Dabei zeigt er stets Respekt für das Mordopfer und die Angehörigen, stellt einfühlsam deren Leid dar und macht auch deutlich, welche Härten die notwendigerweise versachlichten Prozesse in Ermittlungen und Rechtsprechung für Verbrechensopfer und ihre Angehörigen darstellen. Gleichzeitig bemüht er sich um eine ausgeglichene Betrachtungsweise und die Erklärung, warum manches, das menschlich grausam wirkt, juristisch durchaus seinen Sinn hat. Er verzichtet auf künstliche Dramatik, berichtet ruhig, realistisch und vermischt das Sachliche gekonnt mit dem Menschlichen.
Auch atmosphärisch weiß der Autor zu überzeugen. Gerade die Szenen mit dem Täter sind oft so farbig geschildert, daß man das Gefühl hat, dabei zu sein. Eine der Begegnungen zwischen dem späteren Mordopfer Nina und dem Täter Volker zeigt sein manipulatives und ihr jugendlich unsicheres Verhalten so gelungen auf, daß einem beim Lesen ganz unbehaglich zumute wird. Auch eine Verhörszene veranschaulicht das Feingefühl des Autors für menschliche Nuancen. Mit geschickt eingesetzten Details schafft Thiele die jeweiligen Atmosphären. Manchmal sind mir diese zu geballt genutzt, so hat die unablässige Erwähnung von allerlei 80er-Liedtiteln in den entsprechenden Szenen etwas Listenartiges, auch einige Leitmotive und das Stilmittel der Wiederholung werden etwas übertrieben.
Der Umgang mit den verschiedenen Zeitebenen ist dagegen durchweg gelungen, auch die Erzählstimmen klingen gekonnt unterschiedlich. Wir verfolgen den Fall über mehr als vierzig Jahre, der Autor wechselt die Zeitebenen stetig, dies aber immer sinnvoll und deutlich. Trotz der Zeitwechsel wirkt die Geschichte kontinuierlich und wie aus einem Guss, auch hier erkennt man wieder die Sorgfalt, die in dieses Buch geflossen ist.

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Veröffentlicht am 01.01.2024

Spannend, atmosphärisch, aber etwas konstruiert

Waiseninsel
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Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, ...

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, nur auf den Privatkram der Ermittler und Jessicas Rückblicke hätte ich gerne verzichtet. Das ist aber etwas, das man bei Serien in Kauf nehmen muß. Störender fand ich, daß der Autor die Halluzinationen der Protagonistin Jessica benutzt, um es sich bequemer zu machen. Jessica hat Schizophrenie und dazu noch allerlei Vorbelastungen, die ich zu geballt fand und welche die Handlung gerade am Anfang häufig unterbrachen. Vorbelastete Ermittler sind ein überbenutztes Stilmittel des Genres, auch sonst greift der Autor immer wieder zu überbenutzten Versatzstücken. Abgesehen davon, daß ich es unglaubwürdig finde, daß Jessica im Polizeidienst arbeiten kann, erhält sie durch ihre Halluzinationen immer praktische Eingebungen, da hat der Autor es sich leicht gemacht. Auch manche zuerst gruselige oder spannende Momente entpuppen sich dann als Halluzination – so wird Spannung auf Kosten der Plausibilität erzeugt und ich fühle mich als Leser verulkt. Allerdings kann der Autor auch ohne derlei Hilfsmittel Spannung schaffen und eine gute Geschichte erzählen.

Die Atmosphäre ist das ganze Buch hindurch hervorragend geschildert. Der Großteil der Handlung findet auf einer Insel statt, auf welcher auch die Morde geschahen, und Seeck weiß diese Elemente zu nutzen. Der abgelegene Gasthof mit teils seltsamen Leuten, die ansonsten menschenleere Insel, ein verlassenes Kinderheim, eine gruselige Legende – all dies wird gekonnt verwebt, immer herrscht leichte Beklemmung und jeder scheint ein Geheimnis zu haben. Der historische Hintergrund ist ebenfalls ausgezeichnet ausgesucht und geschildert – hier sind wir im Jahr 1946 in einem Kinderheim, mit einer Gruppe Kinder, die zuerst vor dem Krieg evakuiert wurden und anschließend in einem tragischen Unfall ihre Eltern verloren. Hier rührt die Geschichte der kleinen Maija, die so eindringlich und gefühlvoll erzählt wird, daß es einem beim Lesen das Herz bricht. Man leidet mit ihr und die Erzählweise hat etwas ungemein Sensibles – auch hier zeigt sich wieder das Gespür des Autors für Atmosphäre.

Der Fall selbst ist dann verwickelt und geht in vielerlei Hinsicht in die Tiefe. Die Ermittlungen bringen zahlreiche neue Rätsel und der Autor versteht es, falsche Fährten zu legen. In einem Fall geschah mir das etwas zu plump, aber es gelang jedes Mal, mich zu überraschen, und man merkt, daß hier sorgfältig überlegt und konzipiert wurde. Die Auflösung fand ich leider nicht gänzlich plausibel und sie zeigt auch rückblickend, daß die Geschichte insgesamt zu konstruiert ist. Einen Großteil dieser Auflösung erfahren wir übrigens durch das albernste Stilmittel, auf das fast jeder Krimiautor zurückgreift, obwohl es überbenutzt und komplett unrealistisch ist: im unvermeidlichen Showdown berichtet der Täter seinem künftigen Opfer und/oder anwesenden Ermittlern erst einmal ausführlich von all seinen Taten, Motiven und Vorgehensweisen. Es ärgert mich, daß den Lesern diese lächerliche Szene immer noch in fast jedem Roman dieses Genres vorgesetzt wird, das schwächt eine Autorenleistung ganz erheblich. Seeck beweist in dem Buch zwar, daß er kreative Wege gehen kann, macht es sich aber eben auch oft zu einfach.

So hatte „Waiseninsel“ für mich durch Jessicas diverse persönliche Probleme, die konstruierte Geschichte, die teilweise fehlende Plausibilität und die überbenutzten Krimiklischees mehrere Mankos, allerdings bot das Buch auch prächtige und gekonnte atmosphärische Schilderungen, interessante Einblicke in das finnische Leben und eine überaus gelungene historische Komponente, die sowohl thematisch spannend als auch ausgezeichnet geschildert war. Ich konnte in die Geschichte eintauchen, spannende und leicht gruselige Szenen genießen und wurde überwiegend ausgezeichnet unterhalten.

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