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Veröffentlicht am 24.01.2024

Kann eine Mutter zu sehr lieben?

Blood on the Tracks 1
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Seiichi Osabe ist eigentlich ein ganz normaler Teenager. Sein Vater arbeitet viel und seine Mutter umsorgt ihn liebevoll. Das empfindet er manchmal als peinlich, vor allem, wenn zum Beispiel sein Cousin ...

Seiichi Osabe ist eigentlich ein ganz normaler Teenager. Sein Vater arbeitet viel und seine Mutter umsorgt ihn liebevoll. Das empfindet er manchmal als peinlich, vor allem, wenn zum Beispiel sein Cousin Shigeru dabei ist. Also eine ganz normale Mutter-Sohn-Beziehung? Aber warum reagiert dann sein gesamtes Umfeld so stark darauf? Nach und nach schleichen sich Bedenken in den sonst so harmonischen Familienalltag ein, bis während eines Ausflugs alles eskaliert.

„Blood on the Tracks“ ist eine von vielen Reihen des Mangaka Shuzo Oshimi und in Japan bereits mit 17 Bänden abgeschlossen. Sein Zeichenstil ist sehr klar und realistisch und fällt durch den besonderen Einsatz von Schraffuren auf – teilweise setzt sich die gesamte Szene aus ihnen zusammen, in unterschiedlicher Dichte und Richtung. Oshimi gelingt es ebenfalls sehr gut, die Emotionen seiner Charaktere in ihrem Blick einzufangen. Das kommt besonders bei der Figur der Mutter zum Tragen, die den gesamten Band über seltsam ambivalent bleibt.

Im Verlauf der Handlung ist lange Zeit nicht klar, was vor sich geht, denn auf den ersten Blick scheint Seiichis Mutter vielleicht etwas überfürsorglich, aber auch nicht mehr als das. Ein erster Verdacht wird durch die Reaktion von Klassenkameraden und Familie geweckt, die alle immer wieder betonen, wie sehr der Junge doch bemuttert würde. Unterstützt wird dies noch durch Erinnerungen an ein Erlebnis aus Seiichis Kindheit, welches uns als Leser*innen beunruhigt, auf den Protagonisten aber harmlos wirkt. So baut sich nach und nach eine unangenehme Spannung und die Vorahnung auf, dass jeden Moment etwas Schreckliches geschehen wird.

Ich will nicht zu viel darüber verraten, was in diesem ersten Band noch geschieht. Nur eines: Er endet mit einem absoluten Cliffhanger, den ich trotz eines unguten Gefühls beim Lesen so nicht habe kommen sehen. Dieser wirft zahlreiche Fragen auf, gibt aber auch erste kleine Anhaltspunkte. Fakt ist auf jeden Fall: Ich muss weiterlesen, denn ich will unbedingt wissen, wie es mit Seiichi und seiner Familie weitergeht.

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Veröffentlicht am 04.01.2024

Klassischer Krimi in geschichtsträchtigem Setting

Mit dem Schnee kommt der Tod
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Dezember 1938. Eigentlich soll es ein ruhiges Weihnachtsfest werden, doch dann landen Josephine Tey, ihre Partnerin Marta und Detective Chief Inspector Archie Penrose auf der kleinen Insel St. Michael‘s ...

Dezember 1938. Eigentlich soll es ein ruhiges Weihnachtsfest werden, doch dann landen Josephine Tey, ihre Partnerin Marta und Detective Chief Inspector Archie Penrose auf der kleinen Insel St. Michael‘s Mount in Cornwall. Dort sollen eigentlich in illustrer Runde Spenden gesammelt werden und sogar Marlene Dietrich ist als Gast vor Ort. Als jedoch innerhalb kürzester Zeit zwei Morde geschehen und die Insel wegen des schlechten Wetters vom Festland abgeschnitten ist, muss Penrose ohne Unterstützung von Außen ermitteln.

„Mit dem Schnee kommt der Tod“ ist bereits der 9. Band der britischen Autorin Nicola Upson um ihre Protagonistin Josephine Tey. In diesem Zusammenhang nochmal eine kurze Bitte: Liebe Verlage, bitte gebt doch an, wenn ihr irgendwo mitten in der Reihe eine Serie übersetzen lasst, weil bestimmte Fälle so schön zu manchen Feiertagen passen – danke! So wurde ich nämlich recht abrupt in eine Figurenkonstellation geworfen, von der ich nicht weiß, wie sie zustande kam oder wer die ermittelnden Figuren eigentlich sind.

Der Fall ist aber natürlich auch ohne diese Zusammenhänge zu verstehen und kommt recht klassisch mit einem abgeschotteten Tatort und einer Runde voller seltsamer verdächtiger Gäste daher. Das Setting kurz vor Ausbruch des 2. Weltkriegs gibt dem Fall außerdem eine weitere spannende Dimension, denn Marlene Dietrich sieht sich den Wünschen und Projektionen der Nationalsozialisten ausgesetzt und auch das weitere Schicksal von St. Michael‘s Mount scheint ungewiss. Interessant an der Kriminalhandlung ist zudem, dass wir einen der beide Morde live miterleben und daher auch von Anfang an klar ist, wer es getan hat. Das hatte ich mir zunächst langweilig vorgestellt, das Gegenteil war dann aber der Fall.

Mir hat „Mit dem Schnee kommt der Tod“ sehr gut gefallen, weil die Handlung viele Elemente enthält, die ich an Krimis schätze. Allerdings möchte ich nun mit der Reihe noch einmal von vorne beginnen, um einen Bezug zu den Figuren zu gewinnen. Josephine Tey als eigentliche Ermittlerin trug nur wenig zur Aufklärung des Falles bei, was den Lesespaß jedoch nicht trübt.

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Veröffentlicht am 30.12.2023

Wut zur Veränderung

»Was wollt ihr denn noch alles?!«
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2022 veröffentlichte Alexandra Zykunov ihr erstes Buch „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt“, in dem sie 25 „Bullshitsätze“ zur Gleichberechtigung zerlegte. Nun ist mit „Was wollt ihr denn noch ...

2022 veröffentlichte Alexandra Zykunov ihr erstes Buch „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt“, in dem sie 25 „Bullshitsätze“ zur Gleichberechtigung zerlegte. Nun ist mit „Was wollt ihr denn noch alles?“ quasi eine Fortsetzung erschienen, in der sie weitere Zahlen, Studien und Absurditäten präsentiert, die zeigen, wie Frauen in Deutschland systematisch benachteiligt werden.

Die Autorin startet zunächst mit einem Disclaimer, dass sie „Frauen“ und „Männer“ in diesem Buch verallgemeinernd verwendet und hierdurch andere Identitäten, Beziehungsmodelle etc. nicht ausgeblendet werden sollen. Anschließend folgt ein Kapitel zu Wikipedia, das eigentlich für die gesamte Problematik steht: 90% der Autor*innen sind dort Männer und entscheiden, wer einen Eintrag „verdient“. Überraschung: Das sind nur wenige Frauen und ebenso wenige People of Colour.

Im weiteren Verlauf reißt Zykunov so viele wichtige Dinge an, dass ich sie gar nicht alle benennen kann. Hier also nur einige Beispiele: Eine Ehe ist umso stabiler, je weniger die Frau verdient und je mehr sie (im Vergleich zum Partner) verdient, desto mehr Arbeit übernimmt sie im Haushalt. Absurd, oder? Aber es geht weiter: 90% der Menschen (ja, auch Frauen) haben Vorurteile gegenüber Frauen und eine Studie zeigt, dass wir es grundsätzlich fair finden, wenn ein Mann bei gleicher Leistung und gleicher Qualifikation mehr verdient. Bitte?

In der zweiten Hälfte des Buches geht es konkret um Care-Arbeit, z.B. um das Elterngeld, das seit Einführung nicht erhöht wurde, um die Masse an unbezahlter Fürsorgearbeit, die Frauen leisten – egal ob für Kinder oder Ältere. Beim Blick auf ihre Rente sagt man(n) ihn aber dann, sie hätten eben „einfach mehr arbeiten müssen“. Doch was will Zykunov eigentlich mit dem Buch bezwecken? Sie will wachrütteln, Denkansätze geben (bezahlte Care-Arbeit, Elterngeldreform usw.) und vor allem an die Männer appellieren: Wie können sie z.B. einfach so hinnehmen, dass ihre Mütter, Frauen oder Töchter ein 32% höheres Sterberisiko haben, wenn sie von einem Mann operiert werden?

Fazit: Ein Buch, das wütend macht. Diese Wut ist aber zur Veränderung notwendig.

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Veröffentlicht am 26.12.2023

Beunruhigend plausible Dystopie

Endling
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2041. Zoe ist Biologin und vor einigen Jahren nach München gezogen, wo sie Käfer erforscht. Doch dann erreicht sie ein Anruf ihrer Mutter, die ihr mitteilt, dass sie in „Reha“ muss und jemand sich um Zoes ...

2041. Zoe ist Biologin und vor einigen Jahren nach München gezogen, wo sie Käfer erforscht. Doch dann erreicht sie ein Anruf ihrer Mutter, die ihr mitteilt, dass sie in „Reha“ muss und jemand sich um Zoes Teenager-Schwester Hanna und ihre Tante Auguste kümmern muss. So reist Zoe in die Heimat, wohl wissend, dass die „Reha“ ihrer Mutter ein Alkoholentzug ist und Tante Auguste schon lange nicht mehr das Haus verlässt. Als jedoch deren Freundin Sophie verschwindet, brechen die drei zu einem wahnwitzigen Roadtrip auf – im Gepäck Weinbergschnecke HP14, ein „Endling“, also die letzte ihrer Art.

„Endling“ ist der 3. Roman von Jasmin Schreiber und eine Dystopie der besonderen Art. Wir befinden uns nämlich in einer durchaus möglichen nahen Zukunft, die von Pandemien, dem Artensterben und repressiven Maßnahmen gegen Frauen geprägt sind. Da Schreiber selbst Biologin ist, gelingt es ihr, ein glaubhaftes Szenario zu erschaffen, was mit der Natur passieren wird, wenn wir so weiterleben, wie bisher. Erzählen lässt sie dabei ihre Protagonistin Zoe in der Ich- und Vergangenheitsform; jedes Kapitel ist mit dem Namen einer Tierart überschreiben, die darin irgendeine Rolle spielt.

Zoes familiäre Situation ist kompliziert. Ihr Vater verstarb während der vorletzten Pandemie, was jedes Familienmitglied auf eigene Art und Weise aus der Bahn warf. Als nun Zoe, Hanna und Auguste zu ihrer Reise aufbrechen, kommen all diese Erinnerungen und die damit verbundenen Ängste wieder ans Tageslicht. Die drei Frauen bewegen sich dabei durch eine neue Welt, in der große Teile der Natur und damit auch der Arten verlorengegangen sind. Doch in den dunklen Wäldern Schwedens entdecken sie einen Ort, an dem alles anders zu sein scheint.

Jasmin Schreiber ist eine ungemein plausible Dystopie gelungen, die mich persönlich mehr gegruselt hat, als ein Horrorroman oder Thriller. Denn auch ohne Biologin oder Politikwissenschaftlerin zu sein, scheint alles beunruhigend möglich zu sein. Spaß machen dazwischen die von der Autorin eingebauten Easter Eggs zu Privatleben und Werken, denn wir treffen auch alte Bekannte wieder.

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Veröffentlicht am 29.11.2023

Ein Buch, das mich noch lange beschäftigen wird

Die sieben Monde des Maali Almeida
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Sri Lanka, 1990. Maali Almeida, ein schwuler Kriegsfotograf mit Glücksspielproblem, wacht eines morgens in einem Wartezimmer auf. Schnell wird: er ist gestorben, doch wer hat ihn umgebracht und warum? ...

Sri Lanka, 1990. Maali Almeida, ein schwuler Kriegsfotograf mit Glücksspielproblem, wacht eines morgens in einem Wartezimmer auf. Schnell wird: er ist gestorben, doch wer hat ihn umgebracht und warum? Maali muss Antworten finden und nachsehen, wie es seinen Angehörigen geht, seinem Partner DD, seiner besten Freundin Jaki und seiner Mutter Lucky. Doch in dieser Zwischenwelt sind auch andere unterwegs und haben ihre ganz eigene Agenda, in der Maali eine Rolle spielt.

„Die sieben Monde des Maali Almeida“ ist der zweite Roman des (Drehbuch-)Autors und Songwriters Shehan Karuna Tilaka, für den er 2022 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Die deutsche Übersetzung ist von Hannes Meyer. Erzählt wird Maalis ungewöhnliche Geschichte aus seiner Perspektive in der Du-Form und im Präsens über insgesamt sieben Monde (=Tage und Nächte) hinweg. Der Autor lässt seinen Protagonisten zwischen verschiedenen Orten springen, was er als Geist nun kann, ihn aber auch immer wieder in die Vergangenheit zurückblicken und sein Handeln reflektieren.

Auf den ersten Blick ist dieser Roman eine Kriminalgeschichte. Maali wurde getötet und sucht seinen Mörder, ganz einfach, oder? Doch je länger wir ihn begleiten, seine komplexe Persönlichkeit und sein Leben kennenlernen, desto deutlicher wird, dass „Die sieben Monde des Maali Almeida“ so viel mehr ist. Wir erleben ein vom Bürgerkrieg gebeuteltes Sri Lanka, in welchem Todesschwadronen, Auftragsmorde und Selbstmordattentate zum Alltag geworden sind. Unser Protagonist ist dabei zwischen die Fronten geraten und versucht verzweifelt, das zu retten, was von ihm geblieben ist: seine Fotos.

Dieser Roman ist wieder so ein Buch, das mir lange nicht aus dem Kopf gehen wird. Maali Almeida ist sicher alles andere als perfekt, manchmal ist er nicht einmal sympathisch. Aber in ihm sehen wir einen Mann, der seine sexuelle Identität verbergen und irgendwie überleben muss – auch wenn dazu manchmal Dinge notwendig sind, die ihn nicht gerade stolz machen. Dennoch tut er, was er tun muss und leistet seinen ganz persönlichen Beitrag in diesem furchtbaren Krieg.

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