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Veröffentlicht am 14.10.2024

Was wäre wenn...

Eroberung
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Auf dieses Buch bin ich eigentlich nur durch Zufall gestoßen, ist die zeitgenössische Literatur eigentlich weniger mein Beuteschema. Aber ich habe mir schon seit längerem vorgenommen mehr Gegenwartsliteratur ...

Auf dieses Buch bin ich eigentlich nur durch Zufall gestoßen, ist die zeitgenössische Literatur eigentlich weniger mein Beuteschema. Aber ich habe mir schon seit längerem vorgenommen mehr Gegenwartsliteratur zu lesen und bei Eroberung hat mich die Prämisse sofort fasziniert. Alternativweltgeschichten finde ich ohnehin spannend und dann hier noch die Umkehr der eurozentrischen Erzählungen von Eroberungen und Entdeckungen? Her damit, dachte ich mir nur und setzte das Buch prompt auf die Leseliste.

Wenn kleine Dinge die ganze Weltgeschichte verändern…
Der Klapptet des Buches hat mich wahnsinnig neugierig gemacht. Wie wird es wohl sein, wenn die Europäer mal nicht erobern, sondern erobert werden? Welche Auswirkungen hat das auf Europa und den Machtverhältnissen dort? Wie vermischen sich die Kulturen, vermischen sie sich überhaupt? Wie ändert sich der Alltag der Menschen und, die ganz große Frage, die der Klapptext ja auch stellt: Wie sähe unsere Welt heute aus? All diese Fragen schwirrten schon durch meinen Kopf, bevor ich auch nur die erste Seite aufschlug und ich freute mich sehr darauf, wie Laurent Binet sie mir wohl beantworten würde.

Das Buch ist keine einzige lineare Erzählung, sondern eine Zusammenstellung mehrerer “Berichte”. Als Erstes haben wir eine nordische Saga, in der von Freydis Eriksdottir und ihre Reise nach Amerika erzählt wird. An dieser Stelle ändert Binet zum ersten Mal die Weltgeschichte grundlegend. Indem er die Wikingerin bis nach Südamerika vordringen lässt, ändert er zwei ganz entscheiden Faktoren, die später in unserer Realität den Untergang der großen amerikanischen Zivilisationen maßgeblich beeinflussten: Pferde, Eisenwaren und Viren. Die Dominanz der Kavallerie, der geschärften Metallwaffen und die fehlende Abwehr gegen europäische Krankheiten waren entscheidend dafür, dass die Europäer den großen Doppelkontinent in die Knie zwingen konnten. Indem aber Binet die amerikanischen Indigenen schon gut 500 Jahre früher in Kontakt mit den Viren und in den Besitz von Pferden und dem Wissen zur Eisenverarbeitung brachte, änderten sich die Voraussetzungen europäischer Eroberungsambitionen grundlegend.

Das muss in Binets Alternativwelt dann auch Christoph Kolumbus feststellen, von dessen nun eher unrühmlichen Reise Tagebucheinträge im zweiten Abschnitt des Buches berichten. Und hier ist die zweite entscheidende Änderung: Kolumbus kehrt nie nach Europa zurück und errichtet dementsprechend auch nicht von Gold und anderen Reichtümern in der “neuen Welt”, weshalb die Europäer weder vom Doppelkontinent erfahren, noch Begehrlichkeiten nach den Schätzen dort entwickeln und dementsprechend keinen Anlass mehr haben, sich auf den Weg zu machen. Die Inkas hingegen schon …
Und damit wären wir bei dem Teil, der den Großteil des Buches ausmacht. Den Bericht vom großen Eroberungsfeldzug des Inkakönigs Atahualpa.

Der Sonnenkönig in Europa
Also, wie kann das Wunder geschehen, mit 200 Männer und Frauen einen halben Kontinent zu erobern und das ohne, wie es in der Realität bei Francisco Pizarro der Fall war, mit der Überlegenheit von Pferden, Eisenwaffen und Seuchen im Gepäck? Was unmöglich erscheint, erzählt Binet auf gekonnte Art und Weise. Dabei zeigt sich, dass der Autor auch Historiker ist. Trotz des augenscheinlich abwegigen Szenarios schafft er es, die Erzählung über Atahualpa Eroberungsfeldzug glaubhaft erscheinen zu lassen, indem er reale historische Ereignisse abwandelt und auch zahlreiche Persönlichkeiten dieser Zeit auftreten lässt: große Namen wie, Karl V., Martin Luther, El Greco, Michelangelo, Lorenzino de Medici, Erasmus von Rotterdam oder Machiavelli in Erwähnung, um nur einige zu nennen. Mit zielsicherem Blick und scharf, wie ein Skalpell nimmt Binet die europäische Gesellschaft und das fragile Machtverhältnis des 16. Jahrhundert auseinander und gestattet dem/der Leser/in durch die Augen eines Außenstehenden wie Atahualpa einen neuen Blick auf Europa. Dabei bekommt der/die Leser’in zwar nicht unbedingt eine südamerikanische Perspektive (man merkt immer noch, dass dies ein Buch eines Europäers über Europa ist), aber trotzdem veranschaulicht die Umkehr von “alte” und “neue Welt”, die Absurdität europäischer Übergelegenheitsgedanken. Dabei sind nicht alle Ereignisse allzu ernst zu nehmen (oft hat Atahualpa auch einfach verdammtes Glück), vielmehr gleicht das Buch einer Parodie oder Satire auf europäische Gepflogenheiten, das Christentum und allgemein dem Eurozentrismus.

Doch das Buch regt nicht nur zur Infragestellung der “europäischen Vormachtstellung” in der Geschichtsschreibung an, sondern ist auch einfach wahnsinnig amüsant. Denn Binet schafft es gleichzeitig, die Geschichte sehr temporeich und unterhaltsam zu erzählen. Wenn Heinrichs VIII. von England zum Sonnenglauben wechseln will, weil der die Polygamie erlaubt und das ganz bequem sein Problem mit dem Papst wegen Anne Boleyn lösen würde, oder die 95 Sonnenthesen fundamentale christliche Glaubensgrundsätze infrage stellen, dann muss man schon schmunzeln, ob dieser Parodien europäischer Geschickte. Diese neuen Wendepunkte der Geschichte mitzuverfolgen machte mir unheimlich viel Spaß und da der Autor eine eher lockere Erzählweise hat, liest sich das alles auch gar nicht so trocken, wie es zuerst klingen mag. Im Gegenteil. In Momenten, wo Atahualpa vor den Spaniern fliehen muss oder auf Eroberungsfeldzug ist, liest sie das Buh schon fast wie ein Abenteureroman.

und da war es einfach vorbei
Ich hatte so viel Spaß mit Atahualpas Chronik, dass ich schon ein bisschen traurig war, als sie endete und der vierte und letzte Teil des Buches begann. Aber ich freute mich auch, da ich dachte, dass wir nun weiter in der Zeit voranschreiten und erfahren, wie sich der Eroberungsfeldzug der Inkas auf die späteren Jahrhunderte ausgewirkt hat, ja vielleicht sogar die Gegenwart, wie es der Online Verkaufstext mit der Frage “Wie ginge es uns heute, fragt Binet, wären wir statt der kapitalistischen Ideologie den Lehren des Inkahäuptlings Atahualpa gefolgt?” suggerierte.
Leider war dieser Werbetext die reinste Irreführung und meine Enttäuschung groß: Statt das Gedankenspiel der Inkas in Europa groß weiterzudenken, spielt die letzte Episode nur wenige Jahre nach der dritten und erzählt eine alternative Lebensgeschichte von Miguel de Cervantes und die ist ehrlich gesagt furchtbar langweilig gewesen und trug, wie ich finde, auch nichts wirklich Neues mehr an Erkenntnissen oder zu Binets alternative Welt bei. Stattdessen wirkt sie fast schon losgelöst ans Ende hinten dann geklatscht, wie eine Bonusstory zum eigentlichen Roman. Den Teil hätte man meinem Empfinden nach komplett streichen können. Dann hätte ich zwar immer noch bedauert, dass das Gedankenexperiment nicht fortgeführt wurde, hätte mich aber immerhin nicht durch diese zähen letzten 40 Seiten quälen müssen.

Fazit:


Laurent Binets Eroberung bietet eine faszinierende Umkehr der uns bekannten Geschichtserzählungen von “Eroberung und Entdeckungen”. Durch die geschickte Verknüpfung von Fiktion und historischen Ereignissen entsteht eine temporeiche und unterhaltsame Lektüre, die zum Nachdenken über eurozentrische Vorstellungen anregt und dabei auch ziemlich unterhaltsam ist. Lediglich der letzte Abschnitt erschien mir ziemlich langweilig und überflüssig, aber den ignorierend möchte ich das Buch euch sehr ans Herz legen.

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Auf Spurensuche im alten Korea

Der Rote Palast
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In das Cover habe ich mich mit dem ersten Blick verliebt und als ich dann noch im Klapptext das Setting, nämlich Korea im 18. Jahrhundert entdeckt hatte, wollte ich das Buch sofort haben und lesen. Das ...

In das Cover habe ich mich mit dem ersten Blick verliebt und als ich dann noch im Klapptext das Setting, nämlich Korea im 18. Jahrhundert entdeckt hatte, wollte ich das Buch sofort haben und lesen. Das sofort funktionierte zwar nicht ganz, aber dafür begleitete mich das Buch zum Jahresausklang und ich verrate euch schon mal: Es hat mein Lesejahr rund beendet.

Mord und Intrigen im alten Korea
Ich gebe zu, als ich mit dem Buch begann, bin ich irgendwie davon ausgegangen, dass es ein Historisches Fantasy Buch ist. Vielleicht wegen dem doch mystisch anmutenden Cover? Naja, wie dem auch sei, Fantasy haben wir hier nicht, so viel kann ich spoilern, damit niemand mit falschen Erwartungen ans Buch geht und dann enttäuscht ist. Dieser Jugendroman ist eine Mischung aus historischer Roman und Krimi. Da ich diesen auch nicht völlig abgeneigt war, war diese Erkenntnis für mich keine böse Überraschung, sondern einfach nur unerwartet, aber ich wollte es trotzdem gesagt haben.

Wir befinden uns also im Korea im 18. Jahrhundert, der sogenannten Joseon-Dynastie. Die Immersion in diese Zeit gelingt der Autorin recht gut, zumindest insoweit ich das als Laie sagen kann. Ich gestehe, ich kenne mich mit der koreanischen Geschichte nicht besonders gut aus. Aber gerade deswegen haben mir die Bezüge zu real historischen Charaktere gefallen, die die Autorin in einem Nachwort aufschlüsselt, ich verrate euch nicht, um wen/was genau es geht, denn wer wie ich völlig ahnungslos liest, hat mehr vom Täter/in raten.
Denn die Frage, wer der oder die MörderIn ist, ist natürlich wie in jedem Krimi ein zentrales Element und auch in diesem Buch der Faktor, der den Spannungsboden am meisten hochtreibt. Insgesamt ist der gesamte Krimiaspekt sehr unterhaltsam. Vielleicht nicht allzu komplex, aber wir haben hier ja auch ein Jugendbuch. Dies führt (man möchte meinen obligatorisch) auch dazu, dass es neben der Spurensuche auch eine Liebesgeschichte geht, doch diese hält sich angenehm zurück. Was wohl auch an den Charakteren liegt. Sowohl Hyeon, als auch Eojin sind eher besonnene Charaktere, ihre Dynamik kommt ohne viel Drama aus (Was nicht heißt, dass alles sofort glattläuft zwischen den beiden), das mochte ich sehr und es hat wirklich Spaß gemacht, die beiden bei ihrer Jagd nach Hinweisen und Spuren zu begleiten.

Der große Knall am Ende? Eher ein leiser Plopp
Tatsächlich hätte ich dem Buch sogar die volle Punktzahl gegeben, wenn da nicht das Ende gewesen wäre. Denn während sich die Autorin Zeit lässt, Hyeon, als auch Eojin von Zeuge zu Zeuge und von Hinweis zu Hinweis zu schicken, was einen als LeserIn immer neugieriger werden lässt, wird die Auflösung am Ende ziemlich schnell abgehandelt. Zack, Bum Ende. Ein Eimer kaltes Wasser über deinen Kopf, direkt nach der Sauna. Das fand ich schade, da die Geschichte bis dato wirklich gut war, nicht überragen, aber gut, da hätte das Ende durchaus runder sein können. Auch wie letztendlich die Geschichte endet, konnte mich nicht wirklich überzeugen, doch was mich daran genau störte kann ich nicht ohne Spoiler verraten.

Fazit:


Das Buch entführte mich geschickt ins Korea des 18. Jahrhunderts und bot eine fesselnde Mischung aus historischem Roman und Krimi. Die Charaktere waren gut ausgearbeitet, und die Spurensuche hielt mich bis zum Ende in Atem. Jedoch wirkte die Auflösung des Falls etwas überstürzt und hinterließ bei mir einen leicht enttäuschenden Eindruck. Trotzdem ein lesenswertes Buch, das ich gerne weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Tee, Magie und Intrigen

A Magic Steeped in Poison – Was uns verwundbar macht
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Schon als ich “Tee-Magie” las, wusste ich, dass ich dieses Buch lesen will. Tee-Magie, das klingt neuartig, spannend und für Asia-Setting bin ich ja sowieso immer zu haben, daher wanderte das Buch schnell ...

Schon als ich “Tee-Magie” las, wusste ich, dass ich dieses Buch lesen will. Tee-Magie, das klingt neuartig, spannend und für Asia-Setting bin ich ja sowieso immer zu haben, daher wanderte das Buch schnell auf die Wunschliste, von dort ins heimische Regal und für meine Verhältnisse auch schnell auf der Leseliste. Doch konnte mich die Tee-Magie dann auch überzeugen?

Die Magie der Teezeremonie
In “A Magic Steeped in Poison” begleiten wir Ning an den kaiserlichen Hof, wo ein Wettkampf den oder die nächste kaiserliche Shénnóng-Shi (magische TeemeisterInnen) bestimmen soll und dem/der GewinnerIn darüber hinaus ein Wunsch gewährt wird. Ning hofft, mit diesem das Leben ihrer Schwester retten zu können, die seit einem Giftanschlag schwer krank ist.

Wie bereits in meiner Einleitung erwähnt, hat mich an diesem Buch besonders das Worldbuilding gereizt. Zu einem natürlich das asiatische Setting, hier hauptsächlich von der chinesischen und taiwanischen Kultur inspiriert und eben die Teemagie. Das reine Worldbuilding ist solide, ohne herausragend zu sein, wer schon einige asiatisch inspirierte Romane gelesen hat, findet sich schnell zurecht und die Verflechtungen chinesischer Mythologie und Folklore mit der Handlung sind erkennbar, man hätte aber den/die LeserIn ruhig noch etwas tiefer in die fernöstliche Welt eintauchen lassen können.
Umso besser hat mir die Idee mit der Teemagie gefallen, das hatte wirklich etwas erfrischend Neuartiges und es war gerade in den Wettbewerbskämpfen spannend, wie Ning aber auch ihre KonkurrentInnen ihre Künste einsetzten. Etwas irritiert haben mich aber die englischen Namen für die Teesorten, die auch in der deutschen Übersetzung so bleiben. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung von historischen asiatischen Teesorten und vielleicht waren wirklich englische Bezeichnungen mit dem Einfluss der Briten auf China ab dem 18. Jahrhundert üblich, auf mich wirkten diese Bezeichnungen jedoch Fehl am Platz und störten etwas die Immersion in diese ans historische China angelehnten Welt, das ist aber nur ein kleiner Kritikpunkt.

Kommen wir zur Handlung. Diese spielt sich auf mehrere Ebenen ab. Zu einem haben wir da natürlich den magischen Wettkampf, ein YA-Trope, das ich sehr mag, zum anderen gilt es aber noch die Intrigen am Hof und die landesweiten Giftanschläge aufzuklären. Ach ja und ein Love Interest ist auch noch da. Viel zu tun für Ning und ja manchmal stolpert die Handlung kurz, wenn sie nicht weiß, welche Richtung zuerst eingeschlagen werden soll, das sind aber tatsächlich nur kurze Momente und die meiste Zeit hat mich das Buch wirklich gut unterhalten, wobei der Wettkampf Handlungsstrang doch mein liebster war, denn trotz althergebrachtes YA-Rezeptur, waren die Aufgaben interessant und der Wettkampf damit spannend zu verfolgen. Die Liebesstory war ok. Es hätte sie nicht wirklich gebraucht, aber störend oder zu aufgesetzt war sie immerhin auch nicht.

Fazit:


Alles in allem hat mich “A Magic Steeped in Poison” zwar nicht komplett vom Hocker gehauen, aber definitiv gut unterhalten. Die Autorin verleiht vielen klassischen YA Fantasy Elementen ihre eigene Note, was die Geschichte auch für LeserInnen, die schon länger in dem Genre unterwegs sind, noch unterhaltsam und originell genug macht.

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Veröffentlicht am 04.01.2024

Einmal um die Welt erzählt

Das Buch der Mythen und Märchen
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Wie wahrscheinlich fast alle Lesebegeisterte dort draußen, bin auch ich eine große Liebhaberin von Märchen und bin mit diesen aufgewachsen. Ich hatte als Kind ein riesiges Märchenbuch und dort waren nicht ...

Wie wahrscheinlich fast alle Lesebegeisterte dort draußen, bin auch ich eine große Liebhaberin von Märchen und bin mit diesen aufgewachsen. Ich hatte als Kind ein riesiges Märchenbuch und dort waren nicht nur die Grimmschen Märchen vertreten, sondern auch Äsops Fabeln und Märchen aus Persien und dem arabischen Raum, die mich schon damals sehr faszinierten. Während meiner Teenie-Anime-Phase lernte ich einige asiatische Märchen, wie die oben erwähnte Kaguya kennen, im Studium der Archäologie viele antike Mythen, doch was den Rest der Welt angeht, muss ich gestehen, sieht mein Wissen von Sagen und Legenden düster aus. Umso neugieriger war ich auf diese Märchensammlung, die die Diversität der Herkunft der Märchen zum Aushängeschild hat. Zurecht?

Es war einmal…
Menschen erzählen sich Geschichten. Das tun sie wahrscheinlich schon seit dem Moment, als man aufhörte zu grunzen und das Wort erfunden wurde. Jahrtausende lang, lange bevor die ersten Schriftsysteme sich entwickelten, war es die einzige Möglichkeit Wissen zu bewahren, und weiterzugeben und damit ein kollektives Gedächtnis aufzubauen. Und auch heute in Zeiten von globalen multimedialen Kommunikationsmöglichkeiten hat das gesprochene Wort, die Erzählung noch eine ganze andere Macht, als das geschriebene Wort. Das mag auch den Reiz ausmachen, den Märchen, Sagen und Legenden auf uns ausüben. Selbst wenn wir sie heute lesen, weil irgendwann jemand wie die Gebrüder Grimm auf die Idee kam, sie aufzuschreiben, haben sie immer noch ein Teil ihres Charakters als mündliche Überlieferung bewahren können, ihnen haften ein Gefühl von Zeitlosigkeit an. Sie sind Zeitreisende, die Botschaften über Jahrhunderte, bis Jahrtausende hinweg transportieren.

Doch was sind das für Botschaften? An dieser Stelle ist es überaus interessant, sich Erzählungen aus vielen verschiedenen Kulturen der Welt anzuschauen. Schnell fällt auf, dass wir Menschen, egal mit welchem kulturellen Hintergrund wir geprägt und sozialisiert wurden, doch im Grunde alle gleich sind, dass uns dieselben Dinge wichtig sind, um sie für die Nachwelt festzuhalten, und dass uns die gleichen (Natur)Phänomene faszinieren.
Dies wird auch in dieser Geschichtensammlung deutlich. Liebe, Freundschaft, Familie sind universelle Themen, die überall vorkommen, aber auch bestimmte Figuren und Konstellationen tauchen in den verschiedensten Kulturen parallel auf. So hat Andersen nicht als erster von einer Meerjungfrau geschrieben, auch in Persien erzählt man sich von einer Meerjungfrau namens Julnar. Den trickreiche (Halb)Gott, der den Menschen wahlweise hilft oder ins Verderben stürzt, begegnen wir mehrfach als Loki (nordische Mythologie), Anansi (Mythologie der Akan, Westafrika) oder Sun Wukong (Chinesischer Mythos).

Es macht Spaß solche Parallelen zu entdecken und ich kann daher die Auswahl der Geschichten in diesem Buch nur loben. Von jedem Kontinent dieser Welt ist was dabei und das Verhältnis der Märchen aus dem globalen Süden, zu denen des Nordens ist ausgeglichen, ein weiterer Punkt, der mir sehr gut gefiel, gelten manche Märchensammlung doch schon als besonders vielfältig, wenn sie ein paar Märchen aus 1001 Nacht und asiatische Erzählungen beinhalten. Yoshitani hat sich aber tatsächlich sich viel breiter aufgestellt. Es finden sich Geschichten und Mythen aus dem Wissensschatz diverser Indigene wie u.a. der Aborigines, der Haida (Native American), der Maori, der Khoikhoi (Südafrika/Namibia), der Inuit und viele mehr, dazu kommen Volksmärchen und Legenden aus u.a. Osteuropa, Skandinavien, Mexiko, Griechenland, Japan oder Südostasien. Diese Geschichtensammlung hat das Prädikat divers tatsächlich verdient.

… eine Zusammenfassung
Bei aller Begeisterung für die Auswahl der Geschichten, habe ich dennoch einen Kritikpunkt, der der Grund für den einen Pint Abzug bedeutete. Das Buch folgt einer strikten Ordnung. Links ist immer die wunderschöne Illustration von Yoshitani, rechts die Nacherzählung eines Mythos. Es sind keine Originalquellen wiedergegeben, sondern immer Nacherzählungen der Autorin. Das finde ich prinzipiell überhaupt nicht schlimm, da aber jedem Märchen nur eine Doppelseite eingeräumt wird, ergibt sich, dass manche Geschichten arg zusammengestaucht wirken. Vom französischen Original der Schönen und das Biest, bleib nicht viel übrig und eigentlich komplexe Epen, wie zum Beispiel Gilgamesch oder diverse Teile des indischen Mahabharata werden für meinen Geschmack nur sehr unzureichend wiedergegeben. Auch bei vielen mir unbekannten Märchen und Sagen hatte ich oft das Gefühl, dass hier viel gekürzt und vereinfacht wurde. Das fand ich ziemlich schade. Klar regt das zum selbständigen Nachschlagen und Recherchieren an, ich hätte es aber trotzdem schöner gefunden, wenn manche Geschichten dann einfach mehr Seiten bekommen hätten, auch wenn das die Einheitlichkeit der Optik des Buches aufgebrochen hätte.

Fazit:


Yoshi Yoshitani versammelt in ihrem Buch tatsächlich Märchen aus allen Kontinenten dieser Welt und verbindet ihre Nacherzählung mit wunderschönen Illustrationen, jedes für sich ein Kunstwerk. Kleiner Wermutstropfen: Manche, sehr komplexe Erzählungen wie z. B. Gilgamesch oder Kaguya geraten etwas zu kurz, da ist eigenes Nachschlagen angesagt. Es lohnt sich aber trotzdem auf alle Fälle, für Kinder, wie Erwachsene gleichermaßen.

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Veröffentlicht am 04.01.2024

Eine Episode aus dem Leben des Dunklen

Demon in the Wood. Schatten der Vergangenheit
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Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich die Grischa Trilogie gelesen habe, doch als ich gesehen habe, dass eine von Leigh Bardugos Kurzgeschichten aus der Welt als Comicadaption erscheinen würde, war ...

Es ist zwar schon eine Weile her, dass ich die Grischa Trilogie gelesen habe, doch als ich gesehen habe, dass eine von Leigh Bardugos Kurzgeschichten aus der Welt als Comicadaption erscheinen würde, war ich gleich wieder neugierig.

Eine Episode aus dem Leben des Dunklen
Demon in the Wood erzählt eine kurze Episode aus dem Leben des Dunklen, als dieser noch selbst ein Teenager war und in einer Zeit, in der Grischa gnadenlos verfolgt wurden, mit seiner Mutter von einem Ort zum anderen zieht, immer unterwegs, immer auf der Flucht. Und selbst in der Gesellschaft anderer Grischa sind die beiden Schattenbeschwörer Außenseiter und nicht sicher. Was ein solches unstetes Leben mit einer jungen Seele macht, lässt sich bereits in dieser kurzen Episode gut nachvollziehen. Viel mehr will ich zum Inhalt auch gar nicht sagen, denn da es sich letztendlich um eine Kurzgeschichte handelt, würde ich sonst zu viel verraten.

Was dem Comic bez. der Erzählung gut gelingt ist es, die Gedanken- und Gefühlswelt Eryks zu verdeutlichen, was einen als Leser*in der gesamten Reihe seine Motivation für seine späteren Handlungen besser nachvollziehen lässt. Das heißt nicht, dass sie gerechtfertigt sind, aber war der Dunkel schon in den Grischabüchern ein Antagonist, der bei all seinen Fehlentscheidungen durchaus nachvollziehbare Grundideen besaß, wird diese Ambivalenz mit der Kurzgeschichte erweitert und unterstrichen. Er ist nicht böse, der Bösartigkeit wegen, sondern hat seine ganz persönlichen Gründe und Motive, das hat ihn schon immer zu einem der interessantesten Antagonisten im Jugendbuchgenre gemacht und der Comic bez. die ihm zugrunde liegende Kurzgeschichte baut diese Sichtweise weiter aus, daher ist er für Fans des Girhaverse auf alle Fälle lesenswert.
Das Einzige, was ich als Kritikpunkt hätte, wäre, dass ich mir vielleicht doch noch eins, zwei Doppelseiten mehr gewünscht hätte, die einen Schwenker zur “Gegenwart” machen und die Kurzgeschichte an die Bücher anknüpft, dann wäre alles noch etwas runder gewesen, so ist es wirklich eine wortwörtliche Momentaufnahme aus dem leben Dunklen.

Zum Ende meiner Rezension möchte ich noch ein großes Lob an die grafische Gestaltung aussprechen. Mir gefällt Dani Pendergast Stil wirklich sehr gut. Sie schafft es die Kräfte der Grisha sehr dynamisch darzustellen, sodass man sich mühelos die Flammen flackernd und die Schatten wabernd vorstellen kann. Auf dieselbe Art belebt sie auch viele Hintergründe. Im Kontrast dazu steht der doch eher zurückhaltende Umgang mit Farben, was für mich aber sehr gut passt, da die Geschichte ja auf das ganze Grishaverse gesehen wie eine Rückblende, ein Blick in die Vergangenheit ist.

Fazit:


“Demon in the Wood” gewährt einen interessanten kurzen Einblick in die Jugendzeit des Dunklen. Die Kurzgeschichte vertieft seine Ambivalenz als Antagonist und beeindruckt mit Pendergast’ dynamischen Zeichenstil. Für Fans der Reihe definitiv lesenswert.

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