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Veröffentlicht am 05.02.2024

Die Unbegreiflichkeit des Grauens

Spur und Abweg
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Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung ...

Harry Tallert ist “Mischling ersten Grades”, zumindest wird er dazu gemacht, durch die Nürnberger Rassengesetze, durch die Gefangennahme und Deportation in das Arbeitslager Lenne, wo er bis zur Befreiung 1945 für die deutsche Rüstungsindustrie schuften muss. Es ist ein Stempel, eine Identität, die ihm als Jugendlicher aufgedrückt wird und die ihn sein ganzes Leben bestimmen wird.

Als “Halbjude” zwischen den Stühlen von Opfern und Tätern sitzend, versucht er das Unbegreifliche zu erklären, die Absurdität, die Unmenschlichkeit der NS-Zeit zu verstehen. Ein Unterfangen, dass ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen soll, ihn seinen Schmerz in Alkohol und Schmerzmitteln ertränken lässt.

“Die Einteilung der Menschen in Täter und Opfer und die gleichzeitige Einsicht in die phänomenologische Fragwürdigkeit einer solchen Einteilung ließen meinen Vater zu einer Zeit über die ganze Menschheit stolpern, in der er eigentlich erst einmal eine Person hätte werden sollen.” (S.17)

So beschreibt es sein Sohn Kurt Tallert in diesem Buch, einer Mischung aus Erinnerungen an seinen Vater und seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem grauenhaften Schicksal seiner Familie während des Holocausts.

Mit viel Einfühlungsvermögen schafft es Kurt Tallert die Verzweiflung seines Vaters zu beschreiben und liefert gleichzeitig einen essenziellen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Diskursen der Schuld und Erinnerungskultur. Wo erinnert man sich? Wie anders erinnert man sich, wenn man selbst Holocaust-Opfer in der Familie hat? Und wie geht man mit Schuld in der eigenen Familie um?

Viele Stellen habe ich unterstrichen, oft hat mich das Buch zum Nachdenken angeregt und doch war ich am Ende ratlos, als ich es zuklappte. Kurt Tallert scheint sich im Kreis zu drehen, findet keinen roten Faden in seiner Geschichte. Immer wieder reist er nach Buchenwald, nach Lenne, nach Theresienstadt, versucht die Lücke zwischen Geburts- und Todesdatum seiner Verwandten zu füllen, einen Ort des Erinnerns zu finden, zu begreifen. In seinem Schreibstil spiegelt sich die eigene Verzweiflung wider, das über Generationen vererbte Trauma. Vielleicht muss es deshalb so sein. Vielleicht muss das Buch einen verwirrt und ratlos zurücklassen, denn das Unbegreifliche kann nicht begreifbar gemacht werden. Aber es muss erinnert werden.

Ein, trotz aller Schwierigkeiten den Gedankengängen Tallerts zu folgen, wichtiges Buch! Insbesondere in Zeiten, in denen geschichtsrevisionistische Tendenzen wieder an Zuspruch gewinnen.

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Veröffentlicht am 10.01.2024

Schweigen in Worte gefasst

Zweistromland
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Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete ...

Istanbul, 2016 - von hier aus begibt sich Dilan auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern, der Geschichte hinter dem jahrelangen Schweigen ihrer Eltern. Sie reist nach Osten in die kurdischen Gebiete der Türkei aus denen ihre Eltern nach Deutschland geflohen sind. Was ist passiert? Warum mussten sie fliehen?

Mit ihrer bildgewaltigen und dennoch ruhigen Sprache hat Beliban zu Stolberg mich von der ersten Seite an in die Geschichte entführt. Durch Rückblenden in Dilans Jugend verwebt sie kunstvoll Vergangenheit und Gegenwart und zeigt wie tief verankert das Schweigen in Dilans Familie ist. Ein Schweigen, das zwischen den Zeilen auf jeder Seite dieses Buches spürbar ist.

Es ist ein Roman von unglaublicher sprachlicher Schönheit, der viel sagt und dennoch viel ungesagt lässt. Ein Roman der gelungen über die Geschichte der Kurdern erzählt, der berührt und in Teilen erschüttert. Ein Roman der dennoch so viele Fragen offen lässt, dazu anregt sich intensiver mit dem Schicksal der Kurden auseinanderzusetzen.

Für mich ist es ein wahnsinnig gelungener Debütroman und eines meiner absoluten Lieblingsbücher im Jahr 2023.

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Veröffentlicht am 05.12.2023

Eine junge Frau auf der Suche nach ihrer Identität

Wovon wir träumen
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Es ist schwierig für dieses Buch die passenden Worte zu finden. Schwierig, weil sich dieses Buch bewusst verwehrt in die Schublade gesteckt zu werden, in die man es so gerne stecken will.

Es ist nicht ...

Es ist schwierig für dieses Buch die passenden Worte zu finden. Schwierig, weil sich dieses Buch bewusst verwehrt in die Schublade gesteckt zu werden, in die man es so gerne stecken will.

Es ist nicht nur ein Buch über die Suche nach einer Identität als in Deutschland aufwachsendes Mädchen mit chinesischer Mutter. Es ist nicht nur ein Buch über eine Beziehung zwischen Mutter und Tochter, geprägt durch eine tiefe Liebe und gleichzeitig dem verzweifelten Wunsch der Tochter in ihren Gedanken und ihrem Handeln Distanz zu ihrer Mutter zu schaffen.

‘Sie werden unsere Geschichten immer anders erzählen. Als gehörte sie mehr ihnen als uns. Es ist dann eine Geschichte von Wurzeln und keine von Händen und Füßen. Eine von der Suche nach dem besseren Leben, von Zerrissenheit, von einer ewig unvollständigen Existenz. Eine Geschichte von Fehlen statt Fülle, von Traumata und nicht von Träumen. Ich hasse diese Erzählungen. Und ich liebe die, in denen es einfach um das gute Leben geht. Die Geschichten, in denen wir im Einzelnen ganz sind.’

‘Es ist einfach meine Geschichte’, scheint die Erzählerin zu schreien. Aber sie schreit es leise, in einer wahnsinnig zarten und natürlichen Sprache, die mich sehr berührt hat. Ein sehr schönes Buch, das noch lange nachhallen wird.

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Veröffentlicht am 28.11.2023

Für mich ein absolutes Überraschungsherzensbuch!

Morgen, morgen und wieder morgen
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Letzten Frühling ist mir dieses Buch immer wieder über den Weg gelaufen. In zahlreichen Rezensionen habe ich es gesehen und doch kam es nicht auf meine Leseliste, war mir die Gamingwelt doch zu fremd. ...

Letzten Frühling ist mir dieses Buch immer wieder über den Weg gelaufen. In zahlreichen Rezensionen habe ich es gesehen und doch kam es nicht auf meine Leseliste, war mir die Gamingwelt doch zu fremd. Und dann fiel es mir durch Zufall doch in die Hände durch eine Bekannte, die es mir in die Hände drückte.

Ich bin im Nachhinein wahnsinnig froh, dass ich es gelesen habe. Ja, Videospiele sind das Thema des Buches und des Lebens von Sam, Sadie und Marx, die als Studierende anfangen Videospiele zu entwickeln eine Gaming-Firma gründen und damit berühmt werden. Videospiele sind Thema in der Sprache des Buches und dem Titel (warum, muss man sich selbst erlesen ;)). Es ist aber auch die Geschichte von drei jungen Erwachsenen, die eine gemeinsame Zukunft beginnen, deren Leben sich emotional auseinanderentwickeln und mit voller Wucht wieder aufeinanderprallen.

Für mich eine absolute Überraschungsentdeckung, und auch wenn es in meinem eigenen Leben nicht nachhallt, erinnere ich mich doch gerne an diese wunderbare, warmherzige Geschichte über so viel mehr als Videospielen. Eine absolute Leseempfehlung für Gamerinnen und Nicht-Gamerinnen.

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Veröffentlicht am 21.10.2024

Nicht der richtige Moment?

Das Pfauengemälde
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Maria reist nach Rumänien, um ein enteignetes Gemälde zurückzuerhalten. Es ist eine schmerzliche Reise - die erste, nachdem ihr Vater vor zwei Jahren in Rumänien tot in einer Waldhütte gefunden wurde. ...

Maria reist nach Rumänien, um ein enteignetes Gemälde zurückzuerhalten. Es ist eine schmerzliche Reise - die erste, nachdem ihr Vater vor zwei Jahren in Rumänien tot in einer Waldhütte gefunden wurde. Es war eine von vielen realen und gedanklichen Reisen ihres Vater in das Land, das ihn verstoße hat, das ihn aufgrund seiner oppositioneller Aktivitäten gezwungen hat seine Familie hinter sich zu lassen und sich ins Exil nach Deutschland zu begeben, und das ihn trotzdem nicht loslässt, seine ganze Identität auf dem Schicksal dieses Landes aufbauend.

Hätte Maria ihm mehr zuhören sollen? Hätte sie ihn nicht damals auf seine letzte Reise nach Rumänien begleiten sollen und dadurch seinen Tod verhindern können?

Marias Reise in das Heimatland ihres Vaters wirkt wie der Versuch die vielen Ungerechtigkeiten, die ihrem Vater widerfahren sind, wiedergutzumachen, und ist doch für Maria mit so vielen schmerzlichen Erinnerungen an ihn verknüpft, plötzlich auftauchende bildhafte Erinnerungen an die Zeit in ihrer Kindheit, die sie in Rumänien bei der Familie ihres Vaters verbracht hat. Vergangenheit und Gegenwart greifen hier ineinander, scheinen teilweise miteinander zu verschmelzen, was es bisweilen schwierig gemacht hat für mich die verschiedenen Zeitebenen voneinander zu unterscheiden.

Zudem wirkten manche Konversationen für mich seltsam hölzern manche Charaktere auf bestimmte Charaktereigenschaften hin überzeichnet, sodass ich mich teilweise nur schwer auf die Handlung einlassen konnte, wenig in die Charaktere hinein fühlen konnte.

Dann wieder Szenen, die mich mit ihrer besonderen Stimmung, mit Maria Bidians ganz eigener Sprache komplett einnahmen, lange in mir resonierten.

Und so halte ich das Buch unschlüssig in der Hand. “Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt”, möchte ich sagen. “Vielleicht haben äußere Faktoren zu viel meiner Aufmerksamkeit eingefordert und ich konnte mich deshalb nicht richtig auf die Geschichte einlassen.” Und so stelle ich das Buch zurück ins Bücherregal und hoffe, dass irgendwann der Tag kommt, an dem ich mich nochmal und dann voll und ganz auf Maria Bidians Debütroman einlassen kann.

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