In ihrer Autobiographie erwähnt die englische Kriminalschriftstellerin Agatha Christie ihren achten Roman nur ungern, da sie selbst ihn für ihren schlechtesten hält. Geschrieben hat sie ihn kurz nach zwei Schicksalsschlägen in ihrem Leben, dem Tod der geliebten Mutter und dem katastrophalen Ende ihrer Ehe mit Archibald Christie, nachdem das Schreiben plötzlich nicht mehr nur eine Freizeitbeschäftigung war, sondern vielmehr notwendig, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen – ungewohnt für die privilegierte Tochter wohlhabender Eltern, der Geldsorgen bisher fremd waren. Für „The Mystery of the Blue Train“ (deutscher Titel „Der blaue Express“), der 1928 erstveröffentlicht wurde, zog sie eine bereits 1923 erschienene Kurzgeschichte, „The Plymouth Express“ heran und machte daraus einen Roman, der, wie sie überaus selbstkritisch konstatierte, voller Gemeinplätze und Clichés sei und darüber hinaus eine uninteressante Handlung habe.
Zugegeben, „The Mystery of the Blue Train“ ist nicht einer der besten Krimis der berühmten Britin, aber ihr allzu negatives Urteil kann ich nicht bestätigen, womit ich konform gehe mit der Meinung der allermeisten Kritiker, die die Geschichte seit ihrem Erscheinen besprochen haben. Langweilige Handlung? Davon kann keine Rede sein, denn auch wenn die „Queen of Crime“ sich beim Schreiben, wohl aufgrund ihrer privaten Probleme, einigermaßen schwer getan haben mag, so hat ihr am wenigsten geliebter Krimi doch alle Zutaten, die die Britin zur bekanntesten Kriminalschriftstellerin der Welt gemacht haben: eine verzwickte Handlung voller überraschender Wendungen und falscher Fährten, eine Reihe sehr unterschiedlicher, rätselhafter, nicht leicht durchschaubarer Charaktere, die – und in diesem Punkte stimme ich der Schriftstellerin zu – sehr wohl chlichéhaft sind, was aber bei ihr nicht ungewöhnlich ist, interessante Schauplätze, wie der von 1886 bis 2003 von Calais nach Ventimiglia verkehrende „Le Train Bleu“, durchaus vergleichbar mit dem berühmten Orient Express, und schließlich die französische Riviera.
Nicht zuletzt hat auch der unnachahmliche belgische Meisterdetektiv mit dem unerschütterlichen Ego, Hercule Poirot, seinen – bis dahin sechsten – Auftritt! Und er ist immer ein Garant für amüsante Unterhaltung! Dass er den ihm anvertrauten Fall am Ende auf seine grandiose Art und Weise lösen wird, den Mord nämlich an einer reichen amerikanischen Erbin, Ruth Kettering, die, einer unglücklichen Ehe entfliehend, mit dem „Train Bleu“ unterwegs ist zu ihrem Liebhaber, dem zwielichtigen Comte de la Roche, Verehrer schöner, aber vor allem reicher Frauen und exquisiten Schmucks, steht außer Zweifel! Und besagte Lösung ist, wie kann es auch anders sein bei Agatha Christie, gewohnt überraschend, obgleich der Leser, folgt er den immer wieder sehr geschickt eingestreuten Hinweisen und interpretiert sie richtig, dem Mörder auch selbst hätte auf die Spur kommen können!
Ja, etwas verwirrend ist die Geschichte schon, denn es geht nicht nur um die Aufklärung eines Mordes sondern auch um den Diebstahl eines berühmten Rubins, des „Heart of Fire“, den die Ermordete von ihrem Multimillionär-Vater, dem Amerikaner Rufus Van Aldin, geschenkt bekommen hatte und den sie mit sich führte. Besagter Edelstein übrigens, den Van Aldin über dunkle Kanäle erworben hat, hat seine eigene Geschichte, ist verrufen, weil er seine Besitzer angeblich nicht froh machen solle, wie Juwelen überhaupt seit Anbeginn der Zeiten Unglück gebracht haben. Wurde Ruth Kettering also wegen des Rubins getötet oder steckt vielmehr Derek Kettering, ihr Ehemann, hinter dem Mord? Vertrauen wir Poirot – wenn jemand das Knäuel auflösen kann, das sich immer mehr zu verheddern scheint, dann ist er es! Und er bekommt unerwartet Hilfe, in Gestalt nämlich der sympathischen Katherine Gray aus St. Mary Mead (Miss Marple Fans werden hier zu Recht aufhorchen!), die mit Hilfe einer kürzlich gemachten Erbschaft ihre neue Freiheit an der Riviera genießt – und sich prompt in den charmanten Windhund, den frisch verwitweten Derek Kettering, verliebt, Hauptverdächtiger im Mordfall Ruth Kettering. Aber da ist noch jemand, der ein Auge auf die junge Frau mit den wunderschönen grauen Augen und dem ausgeprägten Sinn für Humor geworfen hat... Aber damit ist schon beinahe zu viel gesagt – und dennoch zu wenig, was das Kaleidoskop an bemerkenswerten Gestalten betrifft, die diesen Krimi bevölkern und die alle irgendwie in den Fall verwickelt sind. Langweilig wird es wahrhaftig zu keinem Zeitpunkt und es lohnt sich allemal, das „Stiefkind“ der unübertrefflichen Krimiautorin aus Torquay in Cornwall zu lesen!
Und zu guter Letzt soll die Widmung zu „The Mystery of the Blue Train“ nicht unerwähnt bleiben, denn sie wirft Licht auf die Verfassung Agatha Christies, als sie den hier besprochenen Krimi schrieb. „To the two distinguished members of the O.F.D., Carlotta and Peter“ lesen wir da. Das Kürzel steht für „Order of the Faithful Dogs“, womit diejenigen gemeint waren, die Christie nach den Schicksalsschlägen 1926/27 die Treue gehalten und sich nicht von ihr abgewandt hatten, wie so viele der früheren gemeinsamen Freunde des nunmehr entzweiten Ehepaars. Carlotta war übrigens die loyale Sekretärin der Autorin, Peter der geliebte Terrier ihrer Tochter Rosalind....